Eine Pädagogik vom Kinde aus

Henning Kullak-Ublick

Robert, der ein bisschen anders hieß, begann seine Schullaufbahn unter dem Tisch. Dort bezog er als frischgebackener Erstklässler seine Position und verließ diese erst wieder, als er ein Seidentuch angeboten bekam, das er sich als »Zelt« überlegen durfte, wann immer er sich zurückziehen musste. Dieses stille Kind war, wie sich bald zeigte, hochintelligent – und ein tiefer Träumer. Stundenlang konnte er von ganzen Welten erzählen, die sich ihm auf einem schlichten Wasserfarbenbild offenbarten, aber bis ins fünfte Schuljahr schrieb und las er nicht ein einziges Wort.

Dann begann sein Klassenlehrer vom Zug Alexander des Großen, der ihn bis nach Indien geführt hatte, zu erzählen. Einige Tage später erfuhr ich, dass Robert sich durch einen Stapel von Büchern über Alexander ackerte, die er in der Stadtbücherei ausgeliehen hatte. Am Ende der Epoche überreichte er mir feierlich einen langen, druckreif formulierten, obschon fast nicht zu entziffernden Aufsatz über den Alexanderzug.

Von dieser Epoche an las er alles, was ihm unter die Augen kam und schrieb wunderbare Aufsätze, am liebsten über historische Themen. Hätte ich ihn früher zum Schreiben bringen sollen?

Singen, Gärtnern, Malen, Rezitieren, Zeichnen, Schnitzen, Stricken, Schmieden, Bildhauern, Theaterspielen, Backen, Plastizieren und Eurythmie – dies und noch einiges mehr verbinden die meisten Menschen mit der Waldorfschule. Und sie haben recht.

Weniger bekannt ist, dass all diese künstlerischen und handwerklichen Übfelder aber gar nicht die Hauptsache der Waldorfpädagogik sind, sondern nur be­sonders augenfällige Bestandteile eines pädagogischen Gesamtkonzeptes, welches das Denken, Fühlen und Wollen jedes einzelnen Kindes beim Lernen gleich ernst nimmt und den Kindern zugesteht, in verschiedenen Lebens­-­altern auf ganz unterschiedliche Weise zu lernen.

Der griechische Philosoph Heraklit sprach vor 2.500 Jahren einen Gedanken aus, der (hier mit den Worten von François Rabelais) noch heute unvermindert gilt: »Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entzündet werden.«

Was aber bedeutet das für die pädagogische Praxis? Wie entzündet man diese Fackel?

Schule immer wieder neu

Als Rudolf Steiner 1919 auf Bitten des Industriellen Emil Molt die Leitung einer Schule für die Kinder der Arbeiter seiner Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik übernahm, blickte er bereits auf eine jahrzehntelange Forschung zu den körperlichen, geistigen und psychisch-sozialen Wechselwirkungen in der biografischen Entwicklung des Menschen zurück. Was die von ihm entwickelte Pädagogik Anfang des 20. Jahrhunderts von der Reformpädagogik unterschied, war vor allem die Tatsache, dass er kein pädagogisches Programm installierte, sondern die Lehrerschaft dazu anhielt, die indi­viduelle und gemeinsame Entwicklung der Kinder genau zu beobachten und die Unterrichtsmethoden immer wieder neu darauf abzustimmen. Seine methodischen und didaktischen Anregungen leitete er wesentlich aus seinen anthropologisch-anthroposophischen Forschungen ab. Deswegen ist die Waldorfpädagogik kein statisches Modell, sondern in fortwährender Entwicklung begriffen und konnte sich weltweit in ganz unterschiedlichen Kulturen verbreiten.

Gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen

Kinder lernen in unterschiedlichen Lebensphasen auf ganz unterschiedliche Weise. Der Dichter Jean Paul Richter sagte über die ersten Lebensjahre, ein Kind lerne mehr von seiner »Amme« als ein Weltreisender während seines ganzen weiteren Lebens. Tatsächlich nehmen kleine Kinder mit einer für uns Erwachsene unerreichbaren Hingabe alles auf und eignen sich nachahmend an, was in ihrer Umgebung passiert. Zugleich entwickelt sich auch ihr Körper noch besonders schnell. Im Zusammenspiel dieser sinnlich-aktiven Erkundung der Welt und ihrer körperlichen Reifung bauen die Kinder das konstitutionelle Fundament für ihr ganzes weiteres Leben. Lernen ist in diesem Alter ein andauernder schöpferischer Prozess, der nicht durch eine zu frühe Intellektualisierung gestört werden soll. Deshalb schaffen Waldorferzieher im Kindergartenalter eine Umgebung, die vorbildhaft lauter Anregungen für die Nachahmung gibt und in der sich die Kinder durch Bewegung, Rhythmus und differenzierte Sinneserfahrungen gesund entwickeln können.

Wenn sie älter werden, lernen die Kinder immer mehr, ihre Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten, das Gedächtnis auszubilden und Zusammenhänge nicht nur zu erfahren, sondern aktiv zu erkennen. Das ist die Zeit, in der das Lernen in einer Klassengemeinschaft beginnen kann. Gemeinsam mit ihrem Lehrer begeben sich die Kinder auf eine lange gemeinsame Entdeckungsreise, während der er sie vom Rechnen zur Mathematik, vom Schreiben- und Lesenlernen zur Literatur, von der Heimatkunde zur Geografie und Geschichte und vom Ackerbau zur Biologie, Chemie und Physik führt. Das stellt hohe pädagogische Anforderungen an die Klassenlehrer, die schon während ihrer Ausbildung darauf vorbereitet werden, sich gründlich mit unterschiedlichen Fachgebieten vertraut zu machen, diese kreativ zu vermitteln und sich später laufend fortzubilden. Es kommt aber vor allem dem Bedürfnis der Kinder nach einer Bezugsperson, der sie verbindlich vertrauen können, entgegen. Rudolf Steiner nannte das in der Sprache seiner Zeit »geliebte Autorität«, womit er zugleich klarstellte, dass Autorität kein Anspruch ist, sondern durch Authentizität verdient sein will.

Gestalten – Beschreiben – Erkennen

Über ihre Bewegung, ihre Phantasie und den Gebrauch ihrer Sinne erschließen sich insbesondere die jüngeren Schulkinder Zugänge zur Welt, in die sie außer dem Verstand auch ihr Herz, ihre Neugier und ihr Weltinteresse mitnehmen können. Das Lernen geschieht in dem Dreischritt Gestalten, Beschreiben und schließlich dem Bilden eines Begriffes.

Was für jeden einzelnen Lernvorgang gilt, charakterisiert zugleich die Schwerpunkte der Arbeit mit den Kindern:

Zuerst wird die Welt vor allem handelnd erfahren, gefolgt vom genauen Hinschauen und der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Unterrichts­stoff; mit der Pubertät nimmt die Bildung abstrakter Begriffe einen wachsenden Raum ein.

Damit folgt die Waldorfschule dem Prinzip des »entdeckenden Lernens«, das den Kindern immer mehrere Wege anbietet, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. In der Heimatkunde einer vierten Klasse kann das bedeuten, dass die Schüler ein Wachsmodell ihrer Stadt im Mittelalter bauen, daran die Bedeutung der Stadtmauern und des Stadtrechts kennenlernen, alte Lieder und Volkstänze ihrer Gegend lernen und zugleich die Herkunft der Straßennamen, die wirtschaftlichen und politischen Gründe für die Entstehung ihrer Stadt entdecken. In ihren selbst gefertigten Schulbüchern, den »Epochenheften«, protokollieren sie die wichtigsten Dinge, die sie erfahren haben, und gestalten diese Hefte individuell. Die Vielfalt dieser Zugänge zum Unterrichtsstoff lässt sich in jedem Fach entwickeln und bietet jedem Kind die Möglichkeit, an mindestens einer dieser Aktivitäten Feuer zu fangen und von da aus weiterzugehen. Das ist eine äußerst ökonomische Art zu unterrichten, weil sie fächerübergreifend Fähigkeiten ausbildet, die auch auf ganz anderen Gebieten wieder von Nutzen sind.

Im Chemieunterricht einer siebten Klasse, also in einem Alter, das schon deutlich von den seelischen Achterbahnfahrten der Pubertät geprägt ist, kann man wunderbar mit Feuer, Säuren und Laugen arbeiten und erfahren, wie Substanzen sich verändern, wie es zischt, kocht und kracht – und dass das alles beherrschbar ist. Auch hier gilt wieder: Ein Experiment durchführen, dann genau beschreiben, was man gesehen hat, das Wesentliche protokollieren und dann erst die Gesetze formulieren. So entsteht Wissen aus Erfahrung und Beobachtung. Eine solche Epoche eignet sich auch dazu, im Chor Goethes reichlich dramatischen »Zauberlehrling« zu rezitieren. Wenn sich die Schüler in einer späteren Deutschepoche mit Goethe oder im Physikunterricht mit der Problematik der Kernspaltung auseinandersetzen, haben sie dafür eine zusätzliche Erfahrungsbasis.

Vom neunten Schuljahr an spielen Praktika eine immer wichtigere Rolle. Die Schüler arbeiten auf Bauernhöfen, im Wald, suchen sich ein Sozialpraktikum aus, verbringen einige Wochen mit dem Vermessen einer Landschaft und sammeln Erfahrungen in Wirtschaftsbetrieben, im Handwerk oder in sozialen Einrichtungen.

Kunst, Handwerk und Wissen stehen an der Waldorfschule nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig zu einem Ganzen. Dieses Ganze ist der Mensch selbst, der seine Individualität in der schöpferischen Begegnung mit anderen Menschen, mit der Welt und am Ende auch mit sich selbst entwickelt.

Die Waldorfschule ist kein vollkommener Kosmos und keine Insel der Seligen. Auch an Waldorfschulen machen die Schüler Krisen durch, auch hier muss man sich anstrengen, um zu lernen, auch hier werden reichlich Fehler gemacht, auch hier gibt es bessere und schlechtere Lehrer und auch hier kommt es vor, dass sich Eltern oder Schüler enttäuscht abwenden. Da jede Waldorfschule aber nur besteht, weil sie von konkreten Eltern gewollt wird, die sehen, dass ihre Kinder (meistens) gerne zur Schule gehen, und weil dort mit wenigen Ausnahmen nur Lehrer arbeiten, die sich bewusst für diese Schule mit dieser Pädagogik entschieden haben, ist eine Dynamik eingebaut, aus der immer wieder Neues entsteht und mit der auch Krisen gemeistert können. Waldorfschulen sprechen von einer »Eltern-Lehrer-Trägerschaft«. Das verlangt allen Beteiligten Interesse, Einsatzfreude und Geduld ab. Die Belohnung ist ein Schulleben, bei dem jeder die Erfahrung machen kann: Jedes Kind ist ein Könner.

Wie Robert. Später studierte er übrigens Germanistik und Geschichte.

Zum Autor: Henning Kullak-Ublick war von 1984-2010 Klassenlehrer an der Flensburger Waldorfschule. Seit 2004 ist er im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen, seit 2010 dessen Sprecher. Er koordiniert die internationalen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Waldorfschulen 2019 (waldorf-100.org). Im Verlag Freies Geistesleben erschien sein Buch Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik.