InterviewTrauer darf nicht einsam machen

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Trauer macht einsam. Roland Kachler empfiehlt, die Gesellschaft anderer zu suchen. (Bild: dpa)

Trauer macht einsam. Roland Kachler empfiehlt, die Gesellschaft anderer zu suchen. (Bild: dpa)

Herr Kachler, Sie haben einen neuen Ansatz der Trauerbewältigung entwickelt. Was ist aus Ihrer Sicht das größte Missverständnis über Trauer?

Das Stichwort des Loslassens. Trauernde fühlen sich da nicht verstanden. Sie wollen den Verstorbenen nicht vergessen oder ihn ins Nichts, ins Leere loslassen.

Sie plädieren dafür, "die Liebe weiterzuleben statt loszulassen". Wie ist das gemeint?

Anstatt die emotionale Verbindung zum Verstorbenen abzuschneiden, zu beenden, sollten Trauernde sich in eine andere Beziehung zu ihm stellen - die Liebe will weitergehen und nun auf eine andere Weise gelebt werden. Die Loyalität ist noch da, wir wollen den Toten nicht verraten an den Tod. Das müssen wir auch nicht. Die Verstorbenen können, gerade für Eltern, die Kinder verloren haben, oder wenn Geschwister sterben, zu inneren Ratgebern und Begleitern werden.

Schafft eine solche Verbindung, die nur der Trauernde empfindet, nicht einen Graben zwischen ihm und seiner Umwelt?

Natürlich. Aber gerade bei schwerer Trauer ist es ja gar nicht der Wunsch der Trauernden, schnell wieder zu funktionieren und in andere Beziehungen zu gehen, sondern das ist der Wunsch der Anderen. Wenn ein Mensch stirbt, der uns sehr nahe war, dauert die Trauerzeit oft viel länger, als es Außenstehenden lieb ist. Man schließt nicht endgültig ab mit einem Verstorbenen - ein älterer Mensch, der 30, 40 Jahre verheiratet war, wird immer mit Wehmut an den verstorbenen Partner zurückdenken. Er wird ihn vermissen, nicht ständig, aber ein Rest von Wehmut bleibt. Die Erinnerungen gehen nicht verloren, und oft werden Beziehungsrituale gepflegt: Da wird am Hochzeitstag das Grab besucht oder ein Bild des Verstorbenen angeschaut. Und das ist auch richtig

Warum fällt es Außenstehenden so schwer, damit umzugehen?

Wir haben keine Rituale mehr für solche Situationen. Viele vermeiden zudem die Auseinandersetzung mit dem Tod, weil sie uns mit unserer eigenen Sterblichkeit konfrontiert und mit der Möglichkeit, dass auch uns ein solcher Verlust zustoßen könnte. Aber es steckt eben auch der Wille dahinter, dass es dem Anderen gut gehen soll - also etwas Positives. Nicht zuletzt ist unsere Welt sehr schnelllebig geworden, das Tempo ist ein anderes als in der dörflichen Gemeinschaft. Selbsthilfegruppen sind hier eine gute Lösung, um eine Insel für die eigene Trauer zu schaffen.

Wie funktioniert Ihr Traueransatz?

Es geht darum, dass der Trauernde einen Platz findet für den Verstorbenen - das kann ein Ort sein, wie das Grab oder die Unfallstelle, das Zimmer, eine Bank, auf der man immer gesessen hat, oft sind es auch bestimmte Orte in der Natur wie das Meer. Viele Familien richten ganz intuitiv eine Gedenkecke ein. Wichtig ist nur: Es muss ein begrenzter Platz sein. Anfangs nimmt die Trauer den ganzen Raum des Lebens, einer Familie ein, Schritt für Schritt muss man aber einen begrenzten Ort dafür finden. Der Trauernde findet sonst seinen eigenen Platz im Leben nicht.

Wie findet man solche Trauerorte?

Meist sind sie ganz spontan da. Man kann sich Erinnerungsorte aber auch selbst schaffen: Ich gebe meinen Patienten dazu die Aufgabe, fünf wichtige Gegenstände des Verstorbenen zusammenzustellen und sie an einem bestimmten Platz aufzustellen. Neben den Orten sind Rituale wichtig, etwa den Geburtstag des Verstorbenen als Gedenktag zu begehen. Das passiert oft ebenso spontan. Gerade bei sehr schweren Verlusten ist es aber wichtig, aktiv zu suchen. Für viele Trauernde ist es auch wichtig, einen spirituellen und religiös verankerten Ort für den Verstorbenen zu finden - ob das nun der Schoß Gottes ist oder die Idee der Transzendenz. Viele Trauernde wollen sicher sein, dass der Tote gut aufgehoben ist. So geht er nicht ein zweites Mal verloren. Das ist ja das Erste, was Kinder ganz instinktiv fragen: "Wo ist der Papa, die Oma, die Schwester?" Wenn ein solcher Ort gefunden ist, kann man selbst wieder den Schritt ins Leben gehen, in dem Wissen, der geliebte Mensch ist an einem sicheren Ort. Vielleicht fühlt man sich dabei dann begleitet von seinem wohlwollenden Lächeln und man kann in dem Wissen leben: Irgendwann komme ich auch. Das ist etwas Anderes als einfach loszulassen, eine Vorstellung, mit der viele Trauernde nicht zufrieden sind.

Ihnen selbst ging es genauso, als Ihr Sohn tödlich verunglückt ist.

Ja. Ich war zunehmend wütend über die Ratgeber, die undifferenziert empfohlen haben, loszulassen. Mein Bedürfnis war, meinen Sohn im Inneren zu bewahren, liebevoll an ihn zu denken, ihn zu spüren - viele Trauernde haben ja intensive Näheerfahrungen, sie spüren, hören, riechen den Verstorbenen, letztlich ein Schritt, um ihn nach innen zu nehmen. Trauernde brauchen solche aktiv zu gestaltenden Möglichkeiten, mit dem Verstorbenen umzugehen. Unsere Gesellschaft hat aber nicht nur den Tod, sondern auch die Toten aus dem Leben verdrängt. In anderen Kulturen wird mit den Verstorbenen gelebt, auch wenn das nicht nur schöne, sondern auch bedrohliche Erfahrungen mit sich bringt. Diese Möglichkeit wird in unserer säkularisierten Kultur aber einseitig ausgeschlossen.

Welchen Platz haben Sie für Ihren Sohn gefunden?

Er begleitet mich, ist an meiner Seite. Ich denke nicht ständig an ihn, aber wenn, dann spüre ich, dass er da ist. Zu Beginn war das eine intensive, traurige Beziehung, inzwischen ist sie leicht und heiter. Für mich ist er zum Einen aufgehoben in der Transzendenz, zum Anderen finde ich ihn immer noch an der Unfallstelle. Das mag sich logisch ausschließen, psychologisch aber nicht.

Oft scheut man sich ja nachzufragen, wie es Trauernden geht, weil man ihren Schmerz nicht erneut wecken will.

Ja, aber das ist nicht hilfreich. Man sollte auf jeden Fall aktiv nachfragen - Trauernde ziehen sich zurück, da bringt es nichts, zu sagen: "Ruf an, wenn du etwas brauchst." Man muss schon selbst anrufen und direkt fragen: "Wie geht es dir mit deinem Schmerz? " Hilfreich ist auch, wenn man Bilder, Erinnerungen hat, die man zur Verfügung stellen kann. Trauernde freuen sich sehr über so etwas. Als unser Sohn verunglückt ist, kamen nach einer Weile seine Freunde auf mich und meine Frau zu. Sie gaben uns Bilder von ihm, die sie kurz vor dem Unfall gemacht hatten. Sie hatten lange gezweifelt, ob sie sie uns geben sollten, sich dann aber dafür entscheiden. Für uns war das natürlich schmerzhaft, andererseits waren das ganz aktuelle Bilder von ihm. Wir haben dann seine Freunde gebeten, uns zu erzählen, was sie mit ihm erlebt hatten. Gespräche über den Verstorbenen sind sehr tröstlich, und können auch heiter und witzig sein.

Sie sind auch Theologe. Welche Rolle spielt der Glaube bei der Trauerverarbeitung?

Bei einem schweren Verlust gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten: Er kann die Verbindung zum Glauben stärken, er kann diese Sicherheit aber auch in Frage stellen. Ein Verlust bringt uns an die Grenzen der Realität, wirft die Frage auf, ob es eine jenseitige Wirklichkeit gibt. Manche Menschen finden dafür neue, eigene Bilder, die nicht in die klassischen kirchlichen Muster passen, statt dem Schoß oder den Händen Gottes etwa Symbole wie das Licht oder den Regebogen, oft an den Grenzen der Natur. Ein Verlust muss uns nicht zur Religion führen, aber der Tod stellt diese religiösen Fragen, wie immer auch die Antworten dann aussehen.

Wie beurteilen Sie vor der Bedeutung eines festen Ortes für den Verstorbenen die Entwicklungen der Begräbniskultur?

Da gibt es ja verschiedene Entwicklungen - zum Einen werden nahe Verluste sehr viel bewusster und mit eigenen Ritualen gelebt. Es gibt die Möglichkeit, die Trauerfeier individuell zu gestalten, gerade in Großstädten. Die Menschen gehen selbstbewusster, aktiver mit ihrem Verlust um. Zum Anderen sterben manche Familien schlicht aus, so dass niemand mehr da ist, der ein Grab pflegen könnte.

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