Fußball

"Gehört jetzt den Arschlöchern" Es reicht endgültig, moderner Fußball

Emotionen der Fans als Geschäftsgrundlage. Doch das Spiel gehört längst denen, die daran verdienen.

Emotionen der Fans als Geschäftsgrundlage. Doch das Spiel gehört längst denen, die daran verdienen.

(Foto: imago/Imaginechina)

Nations League? Es geht nur um noch mehr Geld. Unser Autor hat den Fußball viele rote Linien überschreiten sehen, diese ist eine zu viel. So weh es nach so langer Zeit auch tut - er ist raus. Es ist die Geschichte einer Entfremdung.

Früher war nicht alles besser, schon gar nicht im deutschen Fußball. Zu meinem allerersten Stadionbesuch kam ich zu spät, weil mein Vater ewig nach einem Parkplatz suchen musste. Es war die Saison 1993/94, zweite Liga, erster Spieltag, Hansa Rostock empfing 1860 München. Als wir endlich saßen, hatte ein blonder Riese namens Olaf Bodden schon das 1:0 erzielt. In der Halbzeitpause pinkelten die Leute an die Rückwand der Haupttribüne des Ostseestadions. Ob sie Nazilieder sangen, weiß ich nicht mehr. Aber ein paar Jahre später nahm ich sie dann deutlich wahr, in der Kurve, die damals noch ein aufgeschütteter Erdwall war. Rückblickend sah meine Frühsozialisation im Fußball so aus: Ein marodes Stadion, viel zu viele Dummköpfe auf den Rängen - und jede Menge Rumpelfüßler auf dem Platz.

Magischer Ort: Osteestadion in Rostock.

Magischer Ort: Osteestadion in Rostock.

Aber für einen Achtjährigen war das Ostseestadion damals ein magischer Ort. Ich verfiel dem Fußball sofort. Spätestens, als das Flutlicht das Feld erleuchtete, von den blauen Masten aus, die wie Hafenkräne über das Dach ragen. Bodden knipste noch zweimal, Hansa gewann 4:0. Fast jede Fan-Biografie beginnt mit so einem Urknall, niemand hat ihn besser beschrieben als Nick Hornby in "Fever Pitch": "Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden."

Ein Vierteljahrhundert ist das her. Seitdem hat der moderne Fußball die deutschen Stadien revolutioniert: Die Arenen sind saniert und voll, der Rassismus ist nicht verschwunden, aber flächendeckend geächtet, das Spiel um Welten besser. Ich will nicht als Romantiker missverstanden werden. Ich will nicht zurück in die Neunziger. Aber ich will einen anderen Fußball. Deswegen bin ich raus. Tschüss, Profifußball. Keine Bundesliga mehr. Keine Champions League. Und schon gar keine Nations League. Diese Liebesgeschichte endet hier.

Fußball - nur noch ein Produkt

Rudi Völler würde sagen: Wer sowas macht, hat den Fußball nie geliebt. Ich frage mich: Wer ihn wirklich liebt, wer hält ihn noch aus? Die Transfers für 200 Millionen Euro. Die Klubs in Investorenhand, als Ergänzung fürs Portfolio oder als PR-Abteilung für Energydrinks. Die Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Mit 48 Teams. Die Champions League als Closed Shop. Den Menschenhandel mit Talenten im Kindesalter. Die Despoten-Kuschelei. Die Doping-Heuchelei. "Die Mannschaft". Die Stakeholder. Die Überwachung in den Stadien. Die Repressionen gegen Fans. Die Spieltagszerklüftung. Die alles erdrückende Präsenz in den Medien. Die Präpotenz.

Einfache Formel: Moritz Küpper.

Einfache Formel: Moritz Küpper.

Der Journalist Moritz Küpper hat es in seinem Buch "Es war einmal ein Spiel" auf eine einfache Formel gebracht: Fußball im Profibereich ist nur noch Unterhaltung, eine Konkurrenz zu Hollywood. Ein Produkt. Und ich weigere mich, es weiter zu konsumieren. Zugegeben, in anderen Bereichen bin ich weniger konsequent. Ich nutze Apple-Geräte, trotz Foxconn. Ich fliege, trotz Klimakatastrophe. Ich behalte meinen Facebook-Account, trotz Datenskandal. Aber Mark Zuckerberg hat nur ein paar Fotos von mir bekommen. Nicht meine Tränen, nicht meine Gänsehaut, nicht meine Wut. Ich habe nie geweint, weil ein iPod kaputt gegangen ist. Im Flugzeug habe ich vielleicht einmal geklatscht nach einer Landung, aber ich habe nie im Jubeldelirium meinen Sitznachbarn umgerissen.

Fußball als Produkt, dieser Gedanke schien mir lange fremd. Er war ein Stück Identität, wenn ich mit der Kogge auf der Brust in die Hansa-Kneipe in Berlin stolzierte. Ein Stück Freiheit, wenn es im Regionalexpress auf Auswärtsfahrt ging. Und er bleibt ein Stück Orientierung, wenn ich mich an einschneidende Ereignisse in meinem Leben erinnere. An die Trennung von einer Freundin am Tag des ersten Gruppenspiels der deutschen Mannschaft bei der EM 2012. An den Tod meiner Oma am Abend des WM-Testspiels gegen Südafrika im Herbst 2005. An die Abifeier am Tag vor dem 0:0 gegen Lettland bei der EM 2004.

Wenn selbst Oliver Bierhoff warnt

Fußball war vielleicht nie mein Leben, aber mein Leben war nie ohne Fußball. Eine Geschichte unter Millionen in Deutschland. Und wie Millionen andere auch ist es mittlerweile die Geschichte einer Entfremdung. Die Hälfte aller Fans denkt angeblich darüber nach, sich vom Profifußball abzuwenden, das ergab eine Studie aus dem Mai 2017. Der Grund: die Kommerzialisierung. Selbst Oliver Bierhoff, der Ebenezer Scrooge des deutschen Fußballs, hat so seine Bedenken: "Man merkt, dass immer mehr starke Player da sind, und immer mehr ausschließlich nur an die Profitmaximierung denken. Darin besteht ein Risiko, irgendwann knallt es dann mal."

"Irgendwann knallt es": Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Nationalmannschaft.

"Irgendwann knallt es": Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Nationalmannschaft.

(Foto: REUTERS)

Meine persönliche rote Linie hat das Produkt Fußball schon oft überschritten, stets dackelte ich hinterher. Beim Aufstieg von RB Leipzig, bei der WM-Vergabe nach Katar. Auch, weil ich mein Geld mit Fußball verdiente. Als Reporter berichtete ich für n-tv.de aus Bundesligastadien, von Länderspielen, von der Champions League. Real Madrid gegen den FC Bayern im Estadio Santiago Bernabéu - ein Privileg und ein Traum für den Achtjährigen in mir.

Gleichzeitig schärfte sich mein Blick für die Mechanismen des Geschäfts. Die Nations League war noch so eine rote Linie. Es soll die letzte sein. Ironischerweise eine Neuerung, die man aus guten Gründen begrüßen kann: Auf- und Abstiegsduelle statt müder Testkicks, mehr Wettbewerb, mehr Spannung. Die entscheidende Gleichung dahinter klingt allerdings verdächtig vertraut: Mehr Duelle zwischen den Giganten des Weltfußballs = mehr Geld. Oder, um es mit Bierhoff zu sagen: "Man hat am Ende das Gefühl, die Uefa muss noch mal Geld erwirtschaften und macht deshalb den Wettbewerb."

Kein anderer Fußball ist möglich

Im Zweifel für den Profit, so lautet die einzige Logik, die noch zählt. Die Karl-Heinz Rummenigges der Liga beklagen in ihren Sonntagsinterviews die Überlastung ihrer Spieler. Und doch schicken sie diese in der Vorbereitung nach Asien oder Nordamerika oder welche Region auch immer die Analysten als Wachstumsmarkt identifiziert haben. Der DFB startet eine Imagekampagne mit dem Slogan "Unsere Amateure. Echte Profis." und schustert gleichzeitig den Profis per Grundlagenvertrag Millionen zu, die den Vereinen an der Basis fehlen. Es ist eine Frage der Zeit, bis das Hirngespinst von Adidas-Chef Kasper Rorsted Wirklichkeit und das DFB-Pokalfinale in Shanghai ausgetragen wird. Mit einem umjubelten Auftritt von Helene Fischer.

Mehr als ein Verein?

Mehr als ein Verein?

(Foto: Giannakoulis)

Selbst die stolzesten Vereine knicken vor der Profitlogik ein. Der FC Barcelona, Més que un club, kassierte nach 107 Jahren ohne Trikotsponsor dann doch Abermillionen von Qatar Airways. Der Trainerheilige Josep Guardiola ließ sich als WM-Botschafter vom Emirat einkaufen, Todesstrafe hin, fehlende Meinungsfreiheit her. Sein Ex-Verein aus München trainiert gern im Winter in Katar, der Flughafen Doha überweist Millionen für ein Logo auf dem Ärmel - Geld aus einem Land, das die Hamas unterstützt und schonmal israelischen Sportlern die Einreise verweigert. Was dazu wohl der legendäre jüdische Ex-Präsident Kurt Landauer gesagt hätte? Die Geschichte Landauers wird übrigens im Vereinsmuseum präsentiert, der Klub arbeitet mit Initiativen gegen Antisemitismus zusammen. Schöne Gesten, die einen schmalen Taler aus der Portokasse kosten. Unterdessen füllt Katar das Festgeldkonto. Wie so oft bestätigen Ausnahmen die Regel: Einige Vereine wie der FC St. Pauli bieten eine Art Fair-Trade-Variante des modernen Fußballs. In anderen Klubs haben engagierte Fans gegen härteste Widerstände Inseln der Glückseligkeit geschaffen - Nazis aus den Stadien vertrieben, die komplette Auslieferung an Sponsoren verhindert, Freiräume gesichert. Trotz alledem: Es gibt keinen richtigen Profifußball im Falschen.

Fußball, du Arschloch

Der Berliner Sportjournalist Paul Linke hat den modernen Fußball als "Staffelfinale des Neoliberalismus" bezeichnet, in einer Abrechnung mit dem Titel "Fußball, du Arschloch". Das hier ist keine Abrechnung. Es ist eine Entfremdung, eine tiefe Ernüchterung. Ein Abschied.

Ein Arschloch war der Fußball von Anbeginn an, auf dem Platz. Als Schule des Lebens, im Sinne von Albert Camus: "Alles, was ich über Moral und Pflicht weiß, verdanke ich dem Fußball." Zuerst kommt nun einmal der Erfolg und dann die Moral. Sergio Ramos, der Mo Salah aus dem Champions-League-Finale rupft, Thierry Henry, der Irland per Handball um die WM schummelt: Jeder Fan kennt diese Gefühle völliger Ohnmacht, himmelschreiender Ungerechtigkeit, bodenlosen Schmerzes. Aber Linke trifft einen anderen, den wichtigsten Punkt: Wer vom modernen Fußball reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.

6,5 Milliarden Euro Umsatz: Fifa-Präsident Gianni Infantino und der russische Autokrat Wladimir Putin.

6,5 Milliarden Euro Umsatz: Fifa-Präsident Gianni Infantino und der russische Autokrat Wladimir Putin.

(Foto: imago/Colorsport)

Fußball ist ein Arschloch, ja. Das eigentliche Problem ist nur: Er gehört jetzt auch den Arschlöchern. Den Investoren, den Despoten, den Stakeholdern und ihren Erfüllungsgehilfen in Anzügen bei der Fifa, bei der Uefa, in den Vorstandsetagen der ausgelagerten Kapitalgesellschaften. Leuten, denen ihre Interessen wichtiger sind als das Spiel und die, die es lieben. Sie haben den Fußball an sich gerissen, privatisiert, zu einem Konsumgut gemacht. Nebenher erzählt die Geschichte der Verbände von Korruption, Gier und Machtgeilheit. Es ist aber auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: 6,5 Milliarden Euro Umsatz machte die Fifa mit der WM 2018, beim "Sommermärchen" war es noch nicht einmal 1 Milliarde. Ähnlich sieht es bei den Vereinen aus: Die Premier League kassiert 2 Milliarden Euro TV-Geld pro Saison. In der Saison 2016/17 hätten 10 von 20 Klubs auch dann Gewinn erzielt, wenn ihre Stadien in jedem Spiel leer geblieben wären. Die europäischen Dickschiffe verzeichnen seit Einführung der Champions League im Jahr 1992 stets neue Umsatzrekorde, in der Saison 1996/1997 erlösten die reichsten 20 Klubs der Welt gemeinsam 1,2 Milliarden Euro. Zehn Jahre später waren es 3 Milliarden, die aktuellsten Zahlen von Deloitte belaufen sich auf 8 Milliarden Euro.

Der umsatzstärkste Klub ist Manchester United, seit 2005 im Besitz der Investorenfamilie Glazer. In den Top zehn finden sich auch die Scheich-Spielzeuge Manchester City und Paris Saint-Germain sowie der Abramowitsch-Klub FC Chelsea. Restlos alle Klubs in dieser Liste sind global agierende Unternehmen, die sich einen "marktkonformen Fußball" errichtet haben: Eine Champions League zum Beispiel, in der es stets die gleichen Klubs an die Fleischtöpfe der K.-o.-Runde schaffen. Mit zwei Anstoßzeiten, weil nur glückliche Fernsehsender gut zahlen. Und vielleicht schon bald mit einem Finale in New York, wie spanische Medien jüngst berichten.

Das doppelte Fan-Dilemma

Dem Normalo-Fan bleibt die Rolle als Konsument. Und die Frage, ob man sich neben dem Sky-Abo auch noch den Eurosport-Player gönnt. Ob man wirklich Urlaub nimmt, um Freitagfrüh aus Bremen nach Sinsheim zu fahren und nächste Woche montags nach München. Oder ob man verzichtet. Schlimmer noch: Der Fan steckt in einem Ausbeutungsverhältnis. Er ist nicht nur Konsument, sondern auch Mitproduzent. Nicht nur sein Eintrittsgeld füttert das Monster, zu dem der Profifußball geworden ist, sondern auch seine Emotionen. Ein Beispiel hierfür ist der BVB. Die "Echte Liebe" der Dortmunder Fans, zu fühlen auf der Südtribüne und in den Trinkhallen der Stadt, bildet den Markenkern der Borussia Dortmund GmbH & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien. Mit den Bildern jubelnder Fans wirbt die DFL um den neuen TV-Vertrag, der noch eine weitere Anstoßzeit aus dem Spielkalender quetscht. Das lässt die wenigsten Fans jubeln. Aber eben auch nur eine Minderheit protestiert. Die meisten fügen sich ihrem Schicksal, getreu dem alten Thatcher-Sedativum: There is no alternative.

Wahre Liebe?

Wahre Liebe?

(Foto: imago/ActionPictures)

Der große Bluff des Kapitalismus ist die Behauptung, die Gier des Einzelnen sei letztlich gut für alle. Das schlägt drei Fliegen mit einer Klappe: Es setzt diejenigen ins Recht, die mit allen Mitteln dem Profit hinterherjagen. Es macht diejenigen zu Idioten, die es nicht tun. Und es holt die Mitläufer ins Boot, die gar nicht unbedingt profitieren, es aber glauben. Die Erzählung des deutschen Spitzenfußballs funktioniert wie aus dem Lehrbuch: Die Spieltagszerklüftung mag den Fans nicht gefallen, die freitags oder sonntagnachts oder montags durch die Republik gondeln müssen. Den Familien nicht, weil die fußballfanatischen Väter und Töchter das ganze Wochenende vor der Glotze hängen. Den Amateuren nicht, weil ihre Stadien leer bleiben und in der Kreisliga die Spieler fehlen. Den anderen Sportarten nicht, weil sie überhaupt nicht mehr durchdringen.

Aber hey, ohne die TV-Millionen ist der deutsche Fußball nicht wettbewerbsfähig. Und übrigens, mit 50+1 auch nicht. Sie wissen schon, die Uefa-Fünfjahreswertung. Sechs bis sieben Europapokalplätze, das scheint eine heilige Marke in Deutschland, zu bewahren wie das Reinheitsgebot. Zwar kämpfen nur zehn bis zwölf Vereine ernsthaft um diese Plätze, aber auch das ist Kapitalismus: Sehr viele müssen dafür herhalten, dass es theoretisch jeder nach ganz oben schaffen kann - und am Ende schaffen es eh die, die schon dort waren. An dieser Stelle übrigens schon mal herzlichen Glückwunsch zur Meisterschaft, liebe Bayern.

Das bisschen Utopie

Wie ein anderer Fußball überhaupt aussehen könnte, lässt sich unter der alles erdrückenden Profitlogik kaum ausbuchstabieren, es muss notwendigerweise wie eine spinnerte Utopie klingen. Vereine, in denen die Mitglieder das Sagen haben - und zwar mehr als die 17 bei RB Leipzig. Eine Liga, die Rücksicht nimmt auf Amateure und Fans, sie mitgestalten lässt bei Sicherheitskonzepten und Spieltagsplanung. Internationale Verbände, die den Terminkalender entzerren, statt ihn mit immer neuen Turnieren vollzustopfen. Die auf Menschenrechte achten, bevor sie eine WM vergeben. Nicht auf Milliarden.

In seinem Buch "In den Sand gesetzt" über die WM 2022 in Katar hat der Autor Glenn Jäger angeregt, die Fifa in die UN zu überführen. Es wäre eine Art Enteignung, ein Stück Fußball-Sozialismus - der Versuch, den Fußball wieder in die Hände der Allgemeinheit zu legen. Eine Utopie, um nicht zu sagen: ein Hirngespinst.

Bis es so weit ist, bin ich raus.

Quelle: ntv.de

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