Der Comic-Autor mag sterben – seine Figuren jedoch nicht

Comichelden altern nicht. Das führt dazu, dass sie ihre Schöpfer oft überleben. Tatsächlich orientiert sich der Markt der Comicserien nicht an Autoren, sondern an vertrauten Figuren wie Asterix oder Spirou.

Christian Gasser
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Der Frankobelgier Spirou erlebt in Deutschland haarsträubende Abenteuer. (Bild: pd)

Der Frankobelgier Spirou erlebt in Deutschland haarsträubende Abenteuer. (Bild: pd)

Ostberlin im Sommer 1989: Die Stasi hat den genialen Wissenschafter Graf von Rummelsdorf entführt, weil sie sich von seinen Erfindungen die Rettung der DDR erhofft. Auf der Suche nach dem Graf schlittert Spirou in ein haarsträubendes Abenteuer, in dem er sich mit Stasi-Schergen, ideologischen Betonschädeln, dressierten Menschenaffen, aber auch widerständigen Jugendlichen herumschlägt. Derweil recherchiert sein Kumpel, der Reporter Fantasio, eine Story, die ihm zu einem fulminanten Comeback verhelfen soll – und macht die Situation noch verzwickter.

«Spirou in Berlin» ist ein typischer «Spirou»: schmissig, überdreht, abstrus. Aussergewöhnlich ist jedoch, dass sich mit Flix erstmals ein deutscher Autor und Zeichner des belgischen Hotelpagen annehmen durfte. Dass dieser Band pünktlich zu Spirous 80. Geburtstag erscheint, ist kein Zufall: Flix und der Berlinbezug sollen Spirous Popularität im deutschen Sprachraum frischen Schub verleihen.

Neben «Tintin», «Asterix» und «Blake und Mortimer» gehört «Spirou», der junge Hotelpage aus Brüssel, zu den Klassikern des frankobelgischen Comics. Zur knapp 60-bändigen Serie gesellen sich der überaus erfolgreiche Spin-off «Der kleine Spirou» und rund 30 Spezialbände, die sich ausserhalb des seriellen Kontinuums abspielen und den Zeichnern mehr Freiheit im Umgang mit der Ikone gewähren. Dazu kommen Filme wie «Le petit Spirou» (2017) und «Les aventures de Spirou et Fantasio» (2018).

Recken im Rentneralter

Spirou ist beileibe nicht die einzige Comicfigur im fortgeschrittenen Alter, die sich unbeirrt durch neue Abenteuer hangelt: Superman und Batman sind 79 beziehungsweise 78, Lucky Luke ist 72, Asterix wird nächstes Jahr 60, Spiderman ist 56, Blueberry ein Jahr jünger, und Mickey Mouse feiert in wenigen Monaten seinen 90. Geburtstag. Als Rentner die Früchte ihres Erfolgs geniessen? Kommt nicht in die Tüte: Diese Figuren sind zu lukrativ für den Ruhestand.

Prägen derzeit anspruchsvolle Graphic Novels dank ihrer medialen Präsenz die Wahrnehmung von Comics, bleibt dennoch die Serie das kommerzielle Fundament der Branche. Wie in der Literatur, im Fernsehen und im Kino ist das Serielle auch im Comic eine der Grundfesten des populären Erzählens: Vertraute Figuren in einem bekannten Universum, das erzählerisch und visuell festen Regeln gehorcht: Das schafft Vertrauen und bedient die Nostalgie. Die Rechnung ist einfach: Je erfolgreicher eine Figur, desto höher ihre Chance auf ein langes Leben. Je langlebiger die Serie, desto grösser ihr Erfolg.

Ein Blick auf die Bestsellerlisten Frankreichs der letzten zehn Jahre spricht eine deutliche Sprache: Zu den Überfliegern gehörten «Asterix», «Lucky Luke», «Blake und Mortimer» usw. Dabei handelt es sich allesamt um Serien, die nicht mehr von ihren ursprünglichen Schöpfern geschaffen werden. Was in den USA gang und gäbe ist, weil sich die Verlage jeweils als Erstes sämtliche Rechte an den Figuren krallen, entwickelt sich in Europa zum Trend: Die Urheber wollen das Weiterleben ihrer Figuren über ihren Tod hinaus gewährleisten.

Lebenserhaltende Massnahmen

Ein Grund dafür ist paradoxerweise Hergés testamentarische Verfügung, nach seinem Tod dürfe niemand «Tim und Struppi» weiterführen. Heute weiss man: Ohne neue Bände ist es schwierig, eine Figur am Leben zu erhalten. Trotz Spielbergs «Tim und Struppi»-Film stagnieren die Verkäufe dieses Comic. Albert Uderzo vertraute «Asterix» deshalb zu Lebzeiten den altgedienten Bandes-dessinées-Profis Jean-Yves Ferri und Didier Conrad an. Die französische Startauflage jedes neuen «Asterix»-Bandes liegt nun immer noch bei rund 2,5 Millionen Exemplaren, diejenigen von «Lucky Luke» und «Blake und Mortimer» zwischen 250 000 und 500 000. Für die Leser ist die Figur offensichtlich wichtiger als die Autorschaft.

Die Geschichten werden damit nicht zwingend schlechter. Diese Figuren sind Typen, nicht Charaktere, sie haben Gewohnheiten, nicht Persönlichkeit, sie altern und verändern sich nicht, ja sie ziehen sich nicht einmal um . . . Die psychologische und visuelle Reduktion erleichtert es neuen Autoren und Zeichnern, sich in den Dienst dieser Figur zu stellen. Spirou ist Spirou ist Spirou.

Original und Fälschung

Problematischer ist dieses Weiterleben dort, wo zwischen Autor und Figur eine enge Beziehung besteht. So erschien die Vorstellung einer Fortsetzung von «Corto Maltese» völlig abwegig, da der italienische Comicautor Hugo Pratt seinen anarchistischen Seemann und Glücksritter immer als sein imaginiertes Alter Ego betrachtete und in Cortos Abenteuern die Gesetze des Seriellen mit einer klaren Autorenhaltung verband. Aber auch da geschah das lange Undenkbare: 2015, 24 Jahre nach Hugo Pratts Ableben, erschien «Unter der Mitternachtssonne» von Juan Diaz Canales und Rubén Pellejero, 2017 folgte «Äquatoria». Canales und Pellejero imitieren Pratts sprunghafte Erzählweise, seine Vorliebe für literarische und mythologische Verweise und seine expressiven, zur Abstraktion neigenden Tuschezeichnungen nahezu perfekt. Corto-Novizen dürften jedenfalls kaum einen Unterschied zu Pratts Klassikern ausmachen.

Es gibt allerdings einen Unterschied: Corto Maltese ist kein Typ, sondern eine Persönlichkeit. Das gilt auch für Hugo Pratt. Die klassischen Corto-Abenteuer – so etwa das neu aufgelegte «Das goldene Haus von Samarkand» – leben von einer anarchischen Fabulierfreude, sie sind unberechenbar, impulsiv, streckenweise improvisiert, bisweilen geschwätzig, immer dynamisch und lebendig. Diese authentische Freiheit im Erzählen und das davon ausgelöste Glücksgefühl beim Lesen konnten auch Canales und Pellejero nicht kopieren.

Im Zweifelsfall für die Figur

Die Debatte über den Sinn und Zweck der Fortsetzung von «Corto Maltese» war deshalb heftig. Der Markt jedoch gab eine klare Antwort: Die Startauflage der beiden neuen Bände betrug jeweils 300 000 Exemplare. Auch hier überwog die Nostalgie für die Figur den Respekt vor der Autorschaft. Corto zählt, nicht Hugo.

Nach dem Abenteuer ist vor dem Abenteuer; Helden dürfen in der Serienwelt nicht sterben. Manchmal haben sie Glück und werden von einem inspirierten Zeichner adaptiert – wie Spirou, der Flix sei Dank in Ostberlin eines seiner süffigsten Abenteuer seit längerem erlebt. Vermutlich gibt es kein schöneres Geburtstagsgeschenk für eine Comicfigur.

Flix: Spirou in Berlin (Carlsen-Verlag). – Hugo Pratt: Corto Maltese: Das goldene Haus von Samarkand (Verlag Schreiber und Leser). – Juan Diaz Canales / Rubén Pellejero: Corto Maltese: Äquatoria (Verlag Schreiber und Leser).