Zum Inhalt springen

Predictive Policing Ich weiß, was du heute tun wirst

Lassen sich Straftaten voraussehen - und dadurch verhindern? Die deutsche Polizei setzt große Hoffnungen in computergestützte Kriminalitätsvorhersagen. Doch die Zukunft ist noch weit entfernt.
Softwareentwickler mit Prognosesoftware "Precobs" (Archivfoto)

Softwareentwickler mit Prognosesoftware "Precobs" (Archivfoto)

Foto: Bernd Thissen/ picture alliance / dpa

Eine Spezialeinheit der Polizei stürmt ins Haus, vier Männer in schwarzen Overalls seilen sich durch ein Oberlicht ab, Glas splittert, Schreie. Dann drückt einer von ihnen einen Mann im Anzug auf ein Bett. Er sei festgenommen, sagt der Polizist. Nicht wegen der Dinge, die er getan hat - sondern wegen der Dinge, die er ohne Festnahme getan hätte.

Der Beamte heißt John Anderton und wird gespielt von Tom Cruise. Die Szene stammt aus dem Hollywood-Streifen "Minority Report", der auf eine vor mehr als 70 Jahren veröffentliche Kurzgeschichte zurückgeht. In dem Science-Fiction-Szenario ist die Staatsmacht vermeintlich in der Lage, Morde zu erkennen, noch bevor die Mörder selbst wissen, dass sie die Taten begehen werden.

Von derartigen Szenarien ist die Polizei in Deutschland noch weit entfernt. Doch das Thema Predictive Policing - vorhersehende Polizeiarbeit - gewinnt derzeit auch hierzulande stark an Bedeutung. Wenn man mit Polizisten über das Thema spricht, dauert es meist nicht lange, bis von "Minority Report" die Rede ist. Die Dystopie eines allwissenden Überwachungsapparats lehnen die Kriminalisten in großer Einmütigkeit ab - sie erinnern dann an Bürger- und Freiheitsrechte, an Datenschutz und die Unschuldsvermutung.

"Wir wollen irgendwann so viele Daten wie möglich speichern"

Und doch führen die Gespräche immer wieder an den Punkt, an dem es um technische Innovationen geht. "Wir wollen irgendwann so viele Daten wie möglich speichern", sagt ein hochrangiger Beamter etwa, "da unterscheiden wir uns nicht von Amazon oder Google." Der Unterschied zu den US-Konzernen aber sei: Der Staat brauche diese Informationen, um langfristig Sicherheit zu gewährleisten, nicht um damit Geld zu verdienen.

Monatelang hat sich ein SPIEGEL-Team mit Predictive Policing in Deutschland und den USA befasst, hat Studien gelesen, Ermittler getroffen, Datenschützer und Ministerialbeamte befragt. Herausgekommen ist - bezogen auf Deutschland - der Eindruck einer Gratwanderung der Polizei zwischen dem Streben nach technischer Perfektion, gesetzlich verordneten Ansprüchen an den Datenschutz, dem Wunsch, die Kriminalitätsrate spürbar zu senken, und der Angst, die Zukunft zu verpassen. Bislang allerdings ist das neue Konzept in der Bundesrepublik nicht mehr als ein halb aufgeblasener Testballon.

In der Theorie soll Predictive Policing eine Glaskugel sein. Mithilfe von Algorithmen möchten Polizisten vorhersagen, wann sich welche Verbrechen wo ereignen werden. Sie speisen dazu Daten bereits begangener Straftaten in den Computer ein und gehen davon aus, dass Kriminelle berechenbaren Mustern folgen: Ort und Zeit, Art der Ausführung, An- und Abfahrtswege - die Variablen eines professionell begangenen Verbrechens sind nur scheinbar unendlich.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Erste Versuche 2010

Die Idee vom Kriminellen als Gewohnheitstäter ist nicht neu. In der praktischen Arbeit der Schutzpolizei wird eine auffällige Häufung bestimmter Delikte in einzelnen Gegenden schon jetzt von Schicht zu Schicht weitergegeben, wenngleich sehr unsystematisch.

Basis dieser polizeilichen Prognosepraxis ist vor allem die sogenannte Near-Repeat-Theorie. Sie unterstellt, dass etwa Einbrecher nach kurzer Zeit wieder in demselben Gebiet zuschlagen. Hinzu tritt in den Berechnungen der Polizei oft der sogenannte Rational-Choice-Ansatz. Der wiederum nimmt an, dass Verbrecher vor ihrer Tat eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen: Wie viel Polizei ist in einem bestimmten Gebiet unterwegs? Wie hoch ist mein Risiko, erwischt zu werden? Wie hoch könnte mein Gewinn ausfallen?

Erste Predictive-Policing-Gehversuche unternahm die nordrhein-westfälische Polizei bereits im Winter 2010 in Duisburg. Seit 2014 ist die Zahl der Testreihen noch einmal rasant gestiegen: Bayern und Hessen sind mit Eifer dabei, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin testen entsprechende Systeme. In Rheinland-Pfalz, Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein prüfen die Behörden einen Einsatz. Die Aussicht, Kriminellen in Zukunft einen Schritt voraus zu sein, erscheint den meisten Fahndern verlockend. Vor allem gegen Wohnungseinbrecher wird die Software derzeit eingesetzt, das Ziel: weniger Taten, mehr aufgeklärte Fälle. (Eine Übersicht zu Einbrüchen in Deutschland finden Sie hier.)

Fast alle Bundesländer setzen auf unterschiedliche Lösungen. Viele basieren auf bestehenden Software-Lösungen von Herstellern wie IBM, Microsoft oder dem Institut für musterbasierte Prognosetechnik (IfmPt), andere arbeiten mit selbst erstellten Systemen.

Besonders engagiert geht dabei die bayerische Polizei zu Werke. Sie hat beispielsweise in München 47 Gebiete festgelegt, in denen Computer auf Grundlage der bisherigen Einsätze das Risiko errechnen, dass dort vermehrt Einbrecher zuschlagen könnten. Polizisten analysieren die Daten täglich und geben Einsatzbefehle an ihre Kollegen weiter, die in den Gebieten dann verstärkt patrouillieren sollen.

Bislang beschränken sie sich in der Analyse auf Einbrüche, doch in den kommenden Monaten sollen in Bayern weitere Delikte in das Prognose-System eingespeist werden: Autoaufbrüche beispielsweise oder Sexualstraftaten. Und die Begehrlichkeiten wachsen: Selbst Graffiti-Sprayer möchte man in Zukunft mit Hilfe der Algorithmen fassen. Andere Bundesländer sind zögerlicher beim Einsatz der neuen Technik. So liefert das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen seine aufbereiteten Daten - und die darauf basierenden Prognosen - nur einmal wöchentlich in die Polizeipräsidien aus.

Wie Stecknadeln auf der Landkarte

Noch ist Predictive Policing in Deutschland nicht viel mehr als das Erstellen einer Übersicht, wo sich bestimmte Delikte wann häufen - und daraus abgeleitet: wo die Polizei Präsenz zeigen muss. Früher hätte man zu diesem Zweck Stecknadeln in einer Karte versenkt. "Wir nutzen das Potential der Technik nicht einmal ansatzweise", sagt ein Ermittler.

Das liegt vor allem daran, dass die Polizei aus Gründen des Datenschutzes bislang fast nur anonymisierte Informationen aus ihren Vorgangsbearbeitungssystemen einspeist, die wesentlichen Informationen bleiben damit Ort und Zeit einer erfassten Tat, sowie die Vorgehensweise. Hat der Einbrecher die Haustür oder ein Fenster aufgehebelt? Nutzte er Stemmeisen oder Schraubenzieher?

Alle Behörden betonen, dass sie keine personenbezogenen Informationen verarbeiten. Noch nicht. Denn die Wünsche der befassten Beamten gehen teilweise weit über den Status Quo hinaus. Ein Spitzenbeamter träumt davon, aus Metadaten in Echtzeit Informationen zu filtern und damit - einem Meteorologen gleich - "soziale Wetterlagen" vorhersagen zu können: Wasser- und Stromverbrauch einzelner Haushalte, Verkehrsdaten von Bahnen und Bussen und Autos.

"Politisch ist so etwas augenblicklich natürlich nicht vermittelbar"

Die Polizei sitzt in seinen Fantasien in der Mitte eines Metadatennetzes, aus dem sie sich bedient. "Politisch ist so etwas augenblicklich natürlich nicht vermittelbar", sagt der Beamte. "Aber vielleicht werden wir eines Tages ein anderes Verhältnis zum Datenschutz haben, angesichts der Vielzahl von Informationen, die wir schon heute US-Konzernen schenken, damit sie Geld damit verdienen können."

Auch einer seiner Kollegen aus Süddeutschland zeigt sich nach einem Besuch bei der Polizei in den USA angetan von deren Möglichkeiten. Die können auf eine Vielzahl staatlicher und kommerzieller Datenbanken zurückgreifen, erfassen serienmäßig Millionen Bewegungspunkte von Fahrzeugen und Passanten und setzen Drohnen ein. In Deutschland sei dies aber natürlich nicht möglich, so der Beamte. Ob er es sich denn wünsche? Ein kurzes Zögern, dann verneint er die Frage.

Allen offiziell verbreiteten Erfolgsmeldungen zum Trotz wissen die Polizisten, die momentan in Deutschland mit Predictive Policing arbeiten, dass die Systeme kaum kriminalistische Vorzüge bieten. Die Methode sei ein Baustein "in einem umfassenden und ganzheitlichen Bekämpfungskonzept", teilt etwa das LKA Bayern auf Anfrage mit. Ja, Predictive Policing verbessere die polizeilichen Analysen. Aber, nein, daraus abzuleiten, dass es deswegen weniger Einbrüche gegeben habe, könne man nicht, heißt es aus München.

Auch die Hamburger Innenbehörde antwortet: "Predictive-Policing-Strategien führen nie auf direktem Wege zu einer erhöhten Aufklärungsleistung." Bestenfalls entstehe eine "vielleicht auch nur temporäre" Reduzierung der Fallzahlen durch "örtliche Verdrängung und/oder Deliktsverschiebungen". Meint: Die Einbrecher brechen wegen der erhöhten Polizeipräsenz in einer bestimmten Gegend einfach woanders ein oder verlegen sich etwa auf Ladendiebstähle.

Mit dem Dienstgrad wächst die Begeisterung

Das Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht kommt in einer aktuellen Studie ebenfalls zu einem eher ernüchternden Befund. Ein halbes Jahr lang untersuchten die Wissenschaftler den Nutzen des in Karlsruhe und Stuttgart getesteten Precobs-Systems ("Pre Crime Observation System"), ihr Urteil: Die "kriminalitätsmindernden Effekte" der Prognose-Software lägen "wahrscheinlich nur in einem moderaten Bereich".

Die Studie zeigt auch, dass nur etwa die Hälfte der 700 mit Predictive Policing arbeitenden Polizisten darin ein erfolgversprechendes Modell sieht. Doch je höher die Führungsebene, desto größer die Begeisterung für die Software. Damit dürfte gewährleistet sein, dass der Einsatz von Algorithmen in der Polizeiarbeit auch bei ausbleibenden Erfolgen Zukunft hat.

Der Film "Minority Report" endet nach zweieinhalb Stunden mit der Erkenntnis, dass die Polizei Verbrechen falsch vorhergesagt und deshalb Unschuldige hat inhaftieren lassen. In der Wirklichkeit wird sie die Technik nicht so schnell aufgeben. "Das Gute ist", sagt ein Beamter: "Wir lernen jeden Tag dazu."


Zusammengefasst: Polizisten in Deutschland wollen mit computergestützten Kriminalitätsvorhersagen ihre Arbeit verbessern. Viele Bundesländer testen entsprechende Systeme, etwa um bei der Bekämpfung von Einbrechern erfolgreicher zu werden. Bislang sind die praktischen Vorteile von Predictive Policing äußerst überschaubar. Bei manchen Beamten wecken die Möglichkeiten der Methode dennoch Begehrlichkeiten - zum Unmut von Datenschützern, die einen umfassenden polizeilichen Überwachungsapparat fürchten.


Lesen Sie dazu auch: