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  • Cover: Lina Müller/Luca Schenardi

EDITORIAL

KATASTROPHEN IN DEN BERGEN

Naturereignisse wie Hochwasser, Lawinen oder Bergstürze treten in den Alpen seit deren Entstehung in Erscheinung. Im unbesiedelten Naturraum bleiben derartige Ereignisse ohne Folgen für den Menschen. Erst die Anwesenheit des Menschen in den Alpentälern lässt das Elementarereignis zur «Natur­gefahr», die Folgen desselben zur «Katastrophe» werden. Bis ins frühe Mittelalter herrschte eine fatalis­tische Grundhaltung gegenüber den Gefahren in der Natur vor, getragen von der Überzeugung, den ele­mentaren Gewalten schutzlos ausgeliefert zu sein. Naturkatastrophen wurden als göttliche Fügung wahrgenommen, die zur Anflehung der heidnischen Götter – später der christlichen Schutzpatrone – um Sicherheit und Verschonung vor Schaden führte. Erst in der Neuzeit entwickelte der Mensch Techniken zur aktiven Abwehr der Gefahren, die vor allem vom Vertrauen in die tech­nische Entwicklung getragen wurde. Genau diese technische Ent­wick­lung und vielleicht noch mehr der demografische Wandel in Berggebieten haben vermehrt zu Vor­fällen geführt, die vom Menschen ausgelöst wurden.

So zum Beispiel die Gletscherkata­strophe am Mattmark-Stausee am 30. August 1965. Dort, in den Walliser Alpen, brachen Teile des Allalin­gletschers auf die Baustelle des grössten Erddamms Europas. Innert 30 Sekunden stürzten zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll auf Wohn- und Arbeitsbaracken der Arbeiter. 88 Tote und 5 Verletzte lautete die Bilanz des Unglücks. Die meisten Opfer stammten aus Italien.

Oder die Brandkatastrophe der Gletscherbahn Kaprun im Bundesland Salzburg am 11. November 2000. Dieser verheerende Vorfall ging als schlimmster Brand in die öster­reichische Nachkriegsgeschichte ein. Kurz nach der Abfahrt zum Kitzsteinhorn war in der Bahn ein Feuer ausgebrochen, das sich schnell ausbreitete und die Sicherheitsbremse auslöste. Mitten im Tunnel stoppte die Bahn, deren Türen sich von innen nicht öffnen liessen. Von den Personen, die sich aus dem Zug befreien konnten, liefen die meisten in Panik vom Feuer weg durch den Tunnel nach oben in die tödliche Rauchgaswolke. 150 der 162 Passagiere kamen durch Rauchgasvergiftung zu Tode. Aktuell und mindestens den Schweizer Leser*innen noch sehr präsent ist der Bergsturz von Bondo in den Bergeller Alpen, wo sich am 23. August 2017 eine ganze Felsflanke am Piz Cengalo löste und zu Tal stürzte. Mehr als drei Millionen Kubikmeter Fels, vermischt mit Schutt und Wasser, rissen acht Wanderer in den Tod und zerstörten mehrere Häuser im Dorf Bondo. Bis heute ist der Berg nicht richtig zur Ruhe gekommen.

Dies sind drei Beispiele von Kata­strophen und Unfällen im Gebirge, die im kollektiven Gedächtnis einen nachhaltigen Platz gefunden haben, nicht zuletzt aufgrund me­dialer Sensationslüsternheit. Doch das beklemmende Gefühl, in solchen Momenten der alpinen Umgebung total ausgeliefert zu sein, kommt hier sicher auch zum Tragen.

Natürlich gibt es auch eigene Erlebnisse in den Bergen, die einen erschauern lassen, ganz ohne Spektakel und Medienpräsenz. Oft ist es auch nur die Angst, dass etwas Schreckliches geschehen könnte, die uns zuweilen zwischen diesen mächtigen Berg­gipfeln erfasst.

Andererseits verkommt die alpine Landschaft auch immer mehr zum Freizeitpark, gezeichnet vom Ansturm von Touristen und Urlaubern, von Seilbahnen, Skipisten und Hotel­anlagen. Der alpine Raum – ehemals Paradigma einer Ästhetik des Er­habenen – wird allmählich in einen trivialen Fun Place und Technopark transformiert.

Roli Fischbacher

KATASTROPHEN BERGE

Priska Gisler

«Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen»
(Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, 1976, S. 271)

Je weiter zurück eine Katastrophe liege, desto grösser sei sie gewesen, habe ich gelernt, als ich anlässlich eines künstlerischen Forschungs­projekts mit dem Bergsturz von Flims beschäftigt war. Dieser soll sich vor ungefähr 10‘000 Jahren abgespielt haben und vom Flimserstein abgerutscht sein, worauf sich eine riesige Stein- und Schuttmenge bis hoch nach Ilanz und hinunter nach Domat-Ems ergoss. Spuren davon, so wird gesagt, seien weiterhin gut zu sehen, nämlich dort, wo sich der Rhein in besonders engen und steilen Kurven durch die Gesteinsmassen der
Ruinaulta pflügt. Noch heute, so erzählen sich die Einheimischen, sei der Fluss nicht wieder in seinem ursprünglichen Bett angekommen. Mit Aussichtsplattformen, die eine besonders gute Aussicht erlauben, wird weiterhin daran erinnert, dass sich vor Tausenden von Jahren in der Surselva ein gewaltiges Ereignis abspielte, das die Landschaft nachhaltig formte. Ob und welche Menschen er aber tangierte, lässt sich anhand der Kenntnisse über die Gegend heute schwer nachvoll­ziehen.

Neben dieser und weiteren ganz grossen Katastrophen, die die Berge erschütterten und erschüttern – ich denke da neben dem Bergsturz auch an Lawinen- und Murgänge, Trockenheit, zu viel Regen oder den Wolf – gibt es noch kleinere kata­strophale Ereignisse. Ich weiss nicht, ob man sie wirklich kleiner nennen kann. Sie sind innerhalb eines Menschenlebens für eine Familie oder eine Einzelperson natürlich ebenso nachhaltig mit Schmerz verbunden. Bei solchen Katastrophen kann es sich um Unfälle, Unglücke, Niederlagen handeln und sie können auf rein zwischenmenschlichem Versagen oder Handeln im Gefüge von Zeit und Ort grün-den, aber meist doch auch als eine Verquickung ungünstiger Umstände mit dem Lauf der Natur betrachtet werden.

Aus meiner Kindheit, während der ich mich oft in den Bergen aufge­halten habe, sei dies im Glarnerland bei meiner Grossmutter oder im Bündnerland, wo meine Eltern ein kleines Haus besassen, fallen
mir vor allem zwei Katastrophen ein, die ich mit den Bergen verknüpfen würde. Ohne dass ich direkt beteiligt gewesen war, hinterliessen die Schilderungen dieser Bergkatastrophen sehr konkrete Bilder in mir. Diese sehe ich noch, bevor ich mich wieder an die einzelnen Begeben­heiten zu erinnern glaube, vor meinem geistigen Auge.

Da wir zuweilen ohne eigenes Auto in die Berge fuhren, waren wir in diesen Fällen auf das Postauto angewiesen. Die engen Strassen waren im Winter oft verschneit und es war, anders als heute, durchaus ein Abenteuer vom Tal auf das Hochplateau zu gelangen, über das die Weiler der Gemeinde verstreut lagen. Es gab vor allem eine besonders heikle Stelle, die man passieren musste und bei der man sich im Voraus nie sicher sein konnte, ob man sie diesmal trotz Schnee und Eis schaffen würde. Eine steile, kurvige Strasse führte dabei zuerst in ein tiefes Tobel hinunter. Links guckte man die steilen Felswände hoch, bewunderte mit Angstlust die Eiszapfen, die sich an den Vorsprüngen gebildet hatten, rechts sah man weit unten den Bach zwischen den Schneemassen schäumen. Daselbst hatte das Gefährt eine schmale Brücke zu überqueren, um anschliessend steil hochzusteigen. Sowohl Personenwagen als auch Postautos mussten an diesem Ort fast ganz abbremsen, um die Kurve zu kriegen. Jedes Mal war man dabei sehr unsicher, ob man wieder genug Schwung würde aufnehmen kön-nen, um die steile Strasse wirklich hochzukommen und es auf die nächste etwas flachere Anhöhe zu schaffen. Immer wenn meine Mutter am Steuer unseres Familienwagens sass, erinnerten wir sie nach geschaffter Kurve daran, dass sie einst an dieser Stelle zurücksetzen musste und wir dabei um ein Haar rückwärts in das Tobel hinuntergerutscht wären. Wie es sich genau zugetragen hatte, wussten wir nach den vielen Repetitionen der Geschichte nicht mehr, und meine Mutter protestierte ohnehin jedesmal und behauptete, dass sich alles ganz anders abgespielt habe.

Wir waren jedenfalls immer froh, wenn wir bei hohem Schnee den Weg mit dem Postauto bewältigen konnten, auch wenn dies hiess, dass wir den letzten Teil der Reise zu unserem Haus zu Fuss zurücklegen müssten. Es war deshalb fast selbstverständlich, dass uns bei diesen vielen Fahrten im Postauto der Chauffeur mit der Zeit recht vertraut wurde. Meine Mutter wechselte bei jedem Einstieg ein paar Worte mit ihm, fragte ihn nach seinem Befinden. (Und uns wurde jedes Mal schmerzlich bewusst, nicht dazu­zugehören, wenn meine Mutter in ihrem breiten Zürichdeutsch mit dem charmanten Bündner schwatzte.)

Gegen Ende eines dieser langen Winter erfuhren wir, dass sich eine Katastrophe ereignet hatte. Unser Postautochauffeur war eines Tages vom Tal herkommend in die Kurve zum Tobel eingefahren und hatte die Brücke überquert. Der Schnee lag aber so hoch und die Strasse war so vereist, dass das Postauto den Weg hinauf nicht mehr schaffte. Der Fahrer musste deshalb das Postauto rückwärts in die Kurve zurückrollen lassen. Er stieg aus, um am Auto die Schneeketten zu montieren. Während die Passagiere vielleicht im Auto zurückblieben, wer weiss, legte sich der Chauffeur halbwegs unter das riesige Auto und begann an den massigen Rädern zu hantieren. Wir haben es alle nicht gesehen, nur vom Hörensagen erfahren, dass in diesem Moment ein Auto entgegengekommen sei. Dessen Fahrer habe den Postautochauffeur, der unter dem Wagen lag, offenbar nicht oder zu spät bemerkt. Jedenfalls fuhr er ihm geradeswegs über beide Beine. Mehr erfuhr ich nicht, weder von den Schmerzen, die er gehabt haben muss, noch von dem traumatischen Erlebnis insgesamt, auch nicht davon, wie lange seine Rekonvaleszenz dauerte, oder ob er seiner Familie fehlte. Nur, dass er viele Wochen im Regionalspital liegen musste. Ob wir später wieder mit ihm unterwegs waren, erinnere ich mich nicht. Heute muss man nicht mehr durch dieses steile Tobel fahren. An derselben Stelle befindet sich eine breite Umfahrungsstrasse mit einer grosszügigen Brücke, so dass man in dieses Täli überhaupt nicht mehr einfahren muss. Die Steigung wurde stark verringert, die Strasse gemahnt nun eher an eine Autobahn. Ausserdem wird sie den ganzen Winter über so gut gewartet, gesalzen oder gekiest, dass man bei Fahrten in die Berge mit den heutigen Vierradantrieben praktisch keine natürlichen Unterbrüche mehr erlebt. Die Beine des Chauffeurs aber, die unter dem gelben Postauto hervorragten, sehe ich noch immer vor mir, wenn ich an dieses Tobel denke, obwohl ich gar nicht dabei gewesen bin.

Von einer weiteren Bergkatastrophe in dieser Gegend weiss ich noch weniger, ich kannte nicht einmal die Protagonisten. Aber gleichwohl hat auch sie sich in meinem Gedächtnis eingebrannt und ist unweigerlich mit der Landschaft und dem Bergdorf verbunden. Die Geschichte wurde von unseren entfernten Verwandten er- zählt, die im Dorf wohnten. Sie wollten meinen Eltern etwas verständlich machen, das sich beim sonntäglichen Gottesdienst abgespielt hatte.

Der Kirchenbesuch brannte sich bei mir auch deswegen als landschaft­liches Ereignis ein, weil der sonntägliche Gang zur Kirche jeweils das ganze Dorf umfasste. Aus allen Weilern machten sich die Bewohner*innen auf den Weg, oft zu Fuss, manchmal im Auto – Fussgänger*innen nahm man auf der Strecke mit – seltener per Pferdewagen. Da unsere Familie von einem höher gelegenen Weiler nach unten zur Kirche unterwegs war, sahen wir gut, wer wo aufbrach oder sich auf dem Gang zum Dorf­zentrum befand. Da die Kirche damals noch sehr gut besucht war, pflegte eine Frau aus dem Dorf dem Pfarrer bei der Verteilung der Hostien für das Abendmahl zu helfen. Ich weiss nicht mehr, ob sie dabei zu seiner Linken stand, auf jener Seite also, auf der die Frauen auf den nach Geschlecht getrennten Bänken sassen. Aber an jenem Sonntag wurde augenfällig, dass die meisten Besucherinnen der Kirche von der linken Seite auf die rechte wechselten, wenn sie für das Empfangen der Hostie anstanden. Sie schienen eindeutig den Pfarrer für diese Gabe zu bevorzugen, während die Frau mit ihrem Angebot gemieden wurde.

Sie sei die Mutter einer jungen Frau gewesen, wurde uns später erläu-tert, und letztere hätte einen Freund gehabt. Der Freund aber, damals 19-jährig, sei der Mutter seiner Freundin nicht genehm, zu wenig gut gewesen. Ausserdem, aber so fällt mir erst heute auf, waren die beiden vermutlich weder verlobt noch verheiratet gewesen, und dennoch war ihre Liebe bekannt geworden. Die Mutter hätte den beiden in der Folge den Umgang miteinander verboten. So katastrophal muss den jungen Mann dieses Verbot geschienen haben, so gross muss seine Trauer, sein Liebesleid, seine Verzweif-
lung gewesen sein, dass er das Leben offenbar nicht mehr ertrug und in der Folge Suizid beging. Um welche Art von Selbsttötung es sich handelte, erfuhren wir nicht, praktisch keine Details also. Aber auch hier, ohne irgendwelche Umstände zu kennen oder vertieftere Kenntnis zu haben, brannte sich die Geschichte der Rabenmutter und die Katastrophe dieses jungen Liebespaares in mein Gedächtnis ein. Noch immer sehe ich die Frau in der Kirche stehen, mit aus­getrecktem Arm eine Hostie aus dem Körbchen nehmend und sie den Gläubigen darbietend, die aber alle darauf verzichten. Ihre Über­zeugung, das Richtige getan zu haben, reichte offenbar nicht dazu, die enge Kirchgemeinde umzustimmen, auch wenn etliche der Anwesenden vielleicht ganz ähnlich gehandelt hätten.

Warum gerade diese zwei Berg­katastrophen? Ich weiss nur, dass sie sich eingereiht haben in mein Bildergedächtnis, das ich von der Berglandschaft habe. Ich frage mich, was die Kraft dieser Bilder für mich bedeutet, welchen Anteil die Umgebung, das Dorf, aber auch die Erin­nerung an den Schnee, die Kälte, die Berge daran haben.

Bis heute frage ich mich, wieso diese klaren Bilder einen derart grossen Platz in meiner Erinnerung einnehmen. Dabei geht es mir nicht so sehr um die Geschichten selbst, die sich an vielen Orten der Welt ereignet haben könnten und die vom Unterwegssein, von Vertrauen oder der Liebe handeln, sondern um die Frage, ob und wie Natur und Mensch miteinander gewirkt haben, um diese Bilder in mir zu schaffen und zu hinterlassen.

Wenn gilt, was ich am Anfang erwähnte, dass Katastrophen desto gewaltiger und bedeutender erinnert werden, je länger sie zurückliegen, so frage ich mich, welche seismischen Abdrücke im Leben einzelner Per­sonen, aber auch in der Landschaft, in der die Menschen leben, diese erzählten Miniatur-Katastrophen hinterlassen. Sollte man vielleicht darüber nachdenken, ob die Frühwarnsysteme, die man heute vor allem gegen Naturereignisse installiert, nicht viel eher zum Schutz vor menschlichen Katastrophen eingeführt werden müssten?

Illustration: Silva Stutz

 

PFLICHT LEKTüRE

Lika Nüssli: «Vergiss dich nicht»

Gegen das Vergessen

«Alles wird zu Erinnerungen, sobald der Moment des Geschehens vorbei ist», schreibt Lika Nüssli in einem Brief an ihre Mutter zu Beginn von Vergiss dich nicht. Madeleine Nüssli verbringt einige Jahre in einem Heim für demenzkranke Menschen, mit nur noch wenigen Episoden ihres Lebens im Kopf. In den Darstellungen wird sie von einem Erinnerungsknäuel umgeben, aus dem sie ihre Memoiren strickt, während die Tochter daraus zeichnet. Mit fortschreitender Krankheit werden die Besuche bei der Mutter immer schweigsamer und schwieriger. Die Illustratorin, Comic-Zeichnerin und Performerin beginnt, Skizzen vom Heimalltag zu machen. Frau Adolfi träumt vom schönen Italien ihrer Jugend, Frau Nüssli selber lässt immer wieder ihr Gebiss verschwinden, Herr Blöchliger schimpft über Ausländer und erzählt von seinem Leben als Verdingbub. Die verwirrte Frau Solenthaler versucht, das Altersheim zu verlassen. Sie hat Heimweh, der eritreische Pfleger Awet auch. Und da ist Frau Nüsslis Pflegerin, deren Spuren auf den Armen von häuslicher Gewalt erzählen.
In diesem Mikrokosmos hängen die Erinnerungen nur noch an physischen Gegebenheiten und Gegenständen. Sie haben sich an ihnen verfestigt und werden durch sie aktiviert. Sowohl bei den Bewohnern, als auch beim Pflegepersonal. Die langen Blätter der Topfpflanzen beschwören traurige Erlebnisse aus Herrn Krauses Vergangenheit herauf, wie die neuronalen Verbindungen im Gehirn, die ihm fehlen; das Banner auf einer Jasskarte erinnert Frau Nüssli an einen Demonstrationszug, an dem sie teilgenommen hat; das Tattoo einer Bewohnerin lässt den türkischen Pfleger an seine getötete Mutter denken.
Mit einer Mischung aus Text, Illustrationen und Comic-Sequenzen hält Lika Nüssli die unstetige Realität der Demenzkranken eindrücklich fest. Wo Erinnerungen sich auflösen und die Sprache nur noch Worthülse ist, spinnen assoziative Bilder die Biografien weiter. Vergiss dich nicht ist eine poetisch-grafische Erzählung gegen das Vergessen und über Menschen an einem fremden Ort, seien es die Heimbewohner oder das ausländische Pflegepersonal, das mit viel Hingabe das Leben der Bewohner erträglicher gestalten möchte. Es ist ein ergreifendes Porträt einer Tochter, die versucht, die Erinnerungen, welche die Mutter verloren hat, aufzubewahren.

Giovanni Peduto

Lika Nüssli: «Vergiss dich nicht».
Vexer-Verlag, 176 S., Softcover,
s/w, EUR 35 / CHF 38.—
www.likanuessli.ch

Pascal Jousselin: «Unschlagbar! 1: Gerechtigkeit und Gemüse»

Die Magie des Comics

«Unschlagbar» sieht nicht so aus, als könne er seinem Namen Ehre machen. Pausbäckchen und Doppelkinn schauen unter der schwarzen Maske hervor, unter dem schwarz-gelben Kostüm, an dem ein Umhang flattert, wölbt sich ein Bäuchlein. Er lebt allein und isst sonntags bei seiner Oma zu Mittag. Doch Unschlagbar besitzt tatsächlich Superhelden-Fähigkeiten, die ihn zu einem geschätzten Vigilanten seines beschaulichen Heimatortes machen. Das Emblem auf seiner Brust – ein Raster, das an die Kästchen eines Comics erinnert – verweist auf das Geheimnis seines Erfolgs: Unschlagbar überblickt stets alle Panels einer Seite und kann über die Rahmen und Zwischenräume hinweg agieren. Holt er zum Beispiel eine Packung Saft aus dem Kühlschrank und fällt dabei sein Blick auf den Küchenboden, sieht er, wie in der Bilderreihe darunter zwei fiese Typen eine Mutter und ihren Sohn angreifen wollen und kann schnurstracks aus seiner Wohnung in die finstere Gasse auf einen der Unholde springen und zusehen, wie der andere von einem Geschoss aus seiner eigenen Waffe ausgeschaltet wird, die der Titelheld dem zu Boden Gegangenen in der nächsten Panelreihe abgenommen haben wird… Kein Wunder, dass da Fragezeichen über Köpfen stehen, auch wenn Unschlagbar erklärt: «Das ist nur die unglaubliche Magie des Comics.»
Die Magie des Comics besteht beispielsweise darin, den Lesefluss quasi beliebig auf neben- und untereinander gesetzte Bilder zu lenken und so die räumliche und zeitliche Abfolge zu variieren. Oder Sprechblasen als Waffen einzusetzen, die Gegner einwickeln oder umhauen können – die Macht der Worte, ganz bildlich genommen. Oder aber mit Perspektiven oder dem Tempo der Erzählung zu spielen. Das alles bewerkstelligt Zeichner und Autor Pascal Jousselin in den meist eine Seite langen Episoden des ersten Bandes von Unschlagbar!, und das ist sehr charmant. Der zweite Teil soll Anfang 2019 erscheinen, bleibt abzuwarten, ob das Konzept beibehalten wird.
Nun ist Jousselin nicht der erste, der den Fokus auf diese grafischen Möglichkeiten des Comics legt – das taten und tun auch Winsor McCay, Fred, Marc-Antoine Mathieu, um nur einige zu nennen. Aber Unschlagbar!, das in der belgischen Comic-Zeitschrift Spirou vorveröffentlicht wurde, richtet sich an ein jüngeres Publikum. Und die Magie des Comics kann dem Nachwuchs ja nicht früh genug nahegebracht werden.

Barbara Buchholz

Pascal Jousselin: «Unschlagbar! 1: Gerechtigkeit und Gemüse».
Carlsen-Verlag, 48 S., Softcover, farbig,
EUR 12 / CHF 19.90

Nora Krug: «Heimat. Ein deutsches Familienalbum.»

Heimatkunde

«Jeder hier, ausser ich selbst, weiss, wohin ich gehöre. Geografisch. Historisch. Genetisch», beschreibt Nora Krug das Verhältnis zu ihrer Herkunft, ihrer Familie und dem, was man im Deutschen «Heimat» nennt. «Belonging», so der englische Originaltitel ihres «deutschen Familienalbums» ist weniger politisch aufgeladen und trägt mehr Offenheit in sich, der Ausdruck «Heimat» dagegen klingt schnell nach Blut und Boden, nach Ein- und Ausschlüssen. Und in der Tat ist es gerade dieser Aspekt von Heimat, der die in Karlsruhe geborene und seit vielen Jahren in den USA lebende Künstlerin interessiert: Welche Schuld hat ihre Familie während des Nationalsozialismus auf sich geladen? Aber auch: Warum ist trotz geografischer und politischer Distanz zu Deutschland ein zunehmendes Gefühl von Sehnsucht nach dieser Herkunft zu spüren?
Die Lücken in der Familiengeschichte – in Heimat ganz konkret in Form von aus Fotoalben entfernten Bildern und entfernten Hakenkreuzen sichtbar – haben Krug keine Ruhe gelassen, und so hat sie über mehrere Jahre hinweg in Archiven recherchiert, mit nahen und entfernten Verwandten gesprochen und all dies zu einem umfangreichen Album zusammengefügt, das sich irgendwo zwischen Comic, Collage und Fotoalbum bewegt. Originaldokumente und Fotos wechseln mit biografischen Comic-Episoden über Familienmitglieder, grossformatigen Zeichnungen, Briefen und Tagebucheinträgen ab. Die Reisen an die Stätten ihrer Kindheit und die ihrer Eltern führen Krug immer weiter in die Vergangenheit zurück, kaum ein Ort ist unbelastet von der jüngeren deutschen Geschichte, von Denunziation, Deportation und Tod.
Krug mischt sich in eine erhitzte Debatte ein, denn die Diskussion um die Definition von Heimat ist zurückgekehrt, die Frage danach, wer dazugehören darf und wer nicht, und wie das Bild der Heimat ausgemalt werden soll. Wie Nora Krug aus der geografischen Distanz auf die Heimat zu blicken, kann helfen, dieses Thema etwas distanzierter zu betrachten. «Heimat», schreibt Krug am Ende ihres Albums, könne nur «in der Erinnerung wiedergefunden werden», sie sei etwas, «das erst zu existieren beginnt, wenn man es verloren hat.» Ihre «Geschichte der Mitläufer», wie sie Heimat in einem Interview bezeichnet hat, blickt voller Staunen auf die Abgründe und Lücken, dokumentiert den «allmählichen menschlichen Zerfall» ihres Grossonkels während des Zweiten Weltkriegs, aber birgt auch positive Überraschungen hinsichtlich ihrer Familiengeschichte. «Während ich Walter zuhöre, beginne ich zu akzeptieren, dass ich mich der Wahrheit nur annähern kann», reflektiert sie am Ende ihrer Suche. Die Leser*innen, die Krug auf dieser rastlosen Suche begleiten wollen, wird diese Geschichte bestimmt nicht mehr so schnell loslassen.

Jonas Engelmann

Nora Krug: «Heimat. Ein deutsches Familienalbum.»
Penguin-Verlag, 288 S., Hardcover, farbig,
EUR 28 / CHF 42.90

Jochen Voit & Hamed Eshrat: «Nieder mit Hitler! Oder warum Karl kein Radfahrer sein wollte»

Widerstand in Zeiten des Unrechts

Widerstand muss nicht spektakulär sein. Manchmal vollzieht er sich im Kleinen, gleich um die nächste Ecke, wenn ein paar Menschen ihren Werten folgen und aus Überzeugung handeln, auch wenn das herrschende Regime diese ahndet und bestraft. Das trifft auf die Schülergruppe um Jochen Bock und Karl Metzner zu: 1943 verteilte sie in Erfurt Flugblätter, um die Deutschen gegen das Hitler-Regime und den für Deutschland aussichtslosen Krieg aufzurütteln. Als sie auffliegen, müssen die fünf Freunde ins Gefängnis. Nach dem Krieg wird die Hauptfigur dieser Graphic Novel, Karl Metzner, Pfarrer in Ostdeutschland. 1960 wird er noch einmal vom DDR-Regime gefordert: Die Stasi setzt ihn unter Druck, ihr Informationen über seine Gemeinde zu liefern. Erneut bleibt Metzner auf stille und unspektakuläre Weise standhaft und lehnt ab.
Ein durchschnittlicher und willfähriger Arbeiter geht durch sein Leben wie ein Radfahrer, heisst es an einer Stelle: «Nach oben buckeln, nach unten treten.» Genau das will und macht Karl Metzner nicht.
Frei von jeglichem Pathos erzählen der Historiker Jochen Voit, Leiter einer Gedenkstätte in Erfurt, und der in Teheran geborene Berliner Grafikdesigner und Comic-Künstler Hamed Eshrat die Geschichte Karl Metzners und der Widerstandsgruppe um Jochen Bock. Die Passagen aus dem Zweiten Weltkrieg sind durchwegs in Braun- und Sepia-Tönen gehalten. Sie fokussieren auf den Alltag in der Schule und der Hitlerjugend. Am stärksten ist die Schilderung, wenn die Schüler insgeheim ausländisches Radio hören und Flugblätter vervielfältigen. Im Kontrast dazu sind die Szenen aus der DDR durchgehend grau gezeichnet: Im Mittelpunkt steht die Verhörsituation und das ständig wachende Auge des kommunistischen Regimes.
Wer «Nieder mit Hitler!» liest, spürt auf jeder Seite, dass die beiden Autoren sich gefunden haben. Ihre Schilderung verbindet den Sinn für die grosse, bewegende Geschichte mit der Hingabe zum historischen Detail: Ein Panel zum Beispiel zeigt einen ganzen Stapel von einzeln abgetippten Flugblättern, oder man sieht ein Flugblatt mit der wuchtigen Überschrift «Frieden! Freiheit!». Gleich auf der nächsten Seite folgt ein Panel ganz in grau, auf dem ein Schatten hinter Gittern zu sehen ist. Herausgekommen ist ein Erinnerungsbuch, das einem zeigt, weshalb es sich lohnt, für Werte einzustehen, wenn der Staat Unrecht begeht. Ein Anhang, eine Webseite und ein Film ergänzen die grafische Erzählung über Karl Metzner und die Widerstandsgruppe um Jochen Bock.

Florian Meyer

Jochen Voit & Hamed Eshrat: «Nieder mit Hitler! Oder warum Karl kein Radfahrer sein wollte».
Avant, 152 S., Softcover, farbig,
EUR 20 / CHF 32.90.
nieder-mit-hitler.de

Tillie Walden: «Pirouetten»

Sprünge auf dem Eis

Tillie Walden ist eine Durchstarterin. Mit Anfang 20 hat sie bereits fünf Comics veröffentlicht und mehrere Preise damit gewonnen – unter anderem einen Eisner Award (2018) für ihre autobiografische Geschichte Pirouetten. Darin erzählt die 1996 geborene texanische Künstlerin von ihrer Kindheit und Jugend als Eiskunstläuferin, von ihrer Hassliebe zu diesem Sport, von ihrer ersten Freundin und ihrem Coming-out und davon, wie sie sich emanzipiert und dann doch einen ganz anderen Weg einschlägt.
Wir begleiten ein schmales Mädchen mit blondem Pferdeschwanz und Brille, das im Morgengrauen mit kratzenden Kufen und kondensiertem Atem Figuren auf dem Eis übt und abends, nachdem es sich durch den Schulalltag gequält hat, im Team Choreografien einstudiert. An jedem noch so eisigen Morgen um vier Uhr aus dem Bett zu klettern, um vor und nach der Schule für Wettkämpfe zu trainieren – das erfordert harte Disziplin. Hinter den Pirouetten und Sprüngen der Eiskunstläufer*innen steckt sehr viel Arbeit und Konzentration, aber von aussen betrachtet scheint ihr Tun elegant und leicht.
Das haben sie mit Tillie Waldens Zeichnungen gemeinsam: Der sparsame, lockere Strich wirkt skizzenhaft und fängt Bewegungen und Stimmungen perfekt ein, zartes Aquarell-Violett kontrastiert mit dunkellila Flächen, gelben Akzenten und luftigem Weissraum. Auf den Seiten wechseln sich Splashpanels, Waffelgitter oder Szenen ohne jeden Rahmen ab und bringen Dynamik und Spannung in die eher introspektive Geschichte.
Um diesem Comic etwas abzugewinnen, ist kein besonderes Interesse am Eissport nötig, auch wenn die Kapitel nach Sprüngen und Pirouetten aus dem Eiskunstlauf benannt sind, wie Flip, Axel oder Lutz. Es stecken genügend andere Facetten darin, die im Grunde wichtiger sind. Ausserdem ist dem Buch die Liebe zum grafischen Erzählen anzumerken. Was für ein Glück, dass Tillie Walden – wie sie in Pirouetten erzählt – nach zwölf Jahren auf dem Eis beschlossen hat, die Schlittschuhe an den Nagel zu hängen und sich stattdessen auf die Kunsthochschule vorzubereiten. Andernfalls wäre der Comic-Welt etwas entgangen. Zum Beispiel auch der grafisch wie erzählerisch wunderschöne Science-Fiction-Webcomic On a Sunbeam, mit dem Walden 2017 für einen Eisner Award nominiert war. Der liegt auf Englisch bereits als Buch vor, steht aber immer noch im Netz zur Verfügung – ebenfalls unbedingt eine Leseempfehlung!

Barbara Buchholz

Tillie Walden: «Pirouetten».
Reprodukt, 400 S., Softcover,
farbig, EUR 29 / CHF 46.90

Emil Ferris: «Am liebsten mag ich Monster»

Monströse Erwachsenenwelt


Die Grafikerin und Spielzeugdesignerin Emil Ferris legte erst mit Mitte 50 ihr vielbeachtetes Comic-Debüt Am liebsten mag ich Monster vor, mit dem sie zu den dunklen Seiten der Menschheit hinabsteigt. Ein Werk, das die Kolleg*innen von Art Spiegelman über Chris Ware bis zu Alison Bechdel begeisterte.
Die zehnjährige Karen ist als Monster-Fan mit mexikanischen Wurzeln im Chicago des Jahres 1967 eine Aussenseiterin, die das zu spüren kriegt, aber mit Stolz ihre Identität darauf aufbaut. Als in dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem erwachsenen Bruder Deeze lebt, die traurige Anka ermordet wird, werden Karens geliebte Monster – von der Pulpkultur bis zur Kunstgeschichte – realer als gedacht. Und auch die Gesellschaft der 60er-Jahre hat noch einige Monstrositäten zu bieten: Drogen, Gewalt und Rassismus, dessen Tiefpunkt die Ermordung von Martin Luther King ist. Der Comic ist als Tagebuch der Protagonistin gestaltet (sie selber zeichnet sich als kleines Monster, weil sie in der Schule von allen so gesehen wird) – mit aufwändigen, detailreichen Kugelschreiberzeichnungen, die in ihrer Komplexität der Story in nichts nachstehen. Denn neben dem Mord und Karens Versuchen, ihn aufzuklären, muss sie sich auch noch mit allen anderen Geheimnissen der Welt der Erwachsenen herumschlagen. Das führt sie in die Museen der Stadt, aber auch zu allerlei Gewalt- und Sexfantasien und nicht zuletzt zum Genozid an den Juden in Europa, dem die ermordete Anka vor zwei Jahrzehnten noch entkommen war und der hier anhand ihrer Biografie Eingang in das Chicago der späten 60er-Jahre findet. Denn als jüdische Tochter einer Prostituierten wuchs Anka in einem Bordell auf, wurde schon früh missbraucht und Opfer eines kriminellen Geheimbunds und unter den Nazis schliesslich deportiert. All das erfährt Karen im Laufe ihrer kriminalistischen Forschung und lässt den Comic in weiten Zirkeln um seinen eigentlichen Handlungsort kreisen. Am liebsten mag ich Monster ist so
ambivalent wie die Protagonistin: scheinbar naiv, aber sehr intelligent; scheinbar beiläufig dahin geschmiert, aber im Detail sehr akkurat; scheinbar aggressiv, aber tatsächlich zutiefst menschlich und nicht zuletzt scheinbar hässlich wie Karen, im tiefsten Inneren aber so wunderschön wie das 10-jährige Mädchen.

Christian Meyer-Pröpstl

Emil Ferris: «Am liebsten mag ich Monster».
Panini, 420 S., Softcover, farbig,
EUR 39 / CHF 54.90

Jason Lutes: «Berlin. Flirrende Stadt»

Sex, Drugs und Charleston

Nach 15 Jahren liegt der Abschlussband von Jason Lutes‘ Berlin-Trilogie nun auch auf Deutsch vor. Berlin. Flirrende Stadt ist wohl noch der interessanteste Band der Reihe, da hier die Episoden der einzelnen Hauptfiguren am stringentesten erzählt werden. Im ersten Band Steinerne Stadt ist nicht klar, wohin sich die Geschichte über Berlin zur Zeit der Weimarer Republik entwickeln wird, die Plots sind vorhersehbar erzählt und die Figuren äusserst plakativ gestaltet. Wir haben Marthe Müller, die Tochter aus wohlhabendem Haus, die in Berlin Kunst studieren möchte und sich in den misanthropischen Journalisten Kurt Severing verliebt, der sich aufgrund der politischen Entwicklungen in eine innere Emigration flüchtet und sich wegen seiner Schreibblockade dem Alkohol hingibt. Marthe verliebt sich in ihre Mitstudentin Anna, mit der sie den Hedonismus des Berliner Nachtlebens geniesst: Sex, Drugs und Charleston. Dann gibt es noch das Arbeiterkind Silvia, dessen Mutter bei einer 1. Mai-Demonstration erschossen wird. Silvia muss sich daraufhin als Strassenkind durchschlagen, während sich der Vater und die Geschwister dem Nationalsozialismus anschliessen. Silvia wird schliesslich von einer jüdischen Familie aufge­nommen, bevor diese nach Amerika emigriert. Im zweiten Band Bleierne Stadt, in dem Lutes die Geschichte ziellos weitertreibt, gibt es dann noch das Revuegirl Pola, das sich in einen afroamerikanischen Jazzmusiker verliebt, die Koffer packt und mit seiner Combo nach Paris weiterzieht. Die klischeehaften Figuren begegnen sich zwar gelegentlich, doch lässt Lutes sie leider zu sehr in ihrer Welt verharren, anstatt sie miteinander zu konfrontieren. Diese Eindimensionalität der Protagonisten lähmt die Narration, denn deren Schicksale zeichnet Lutes von Anbeginn vor. Erst zum Abschluss der Trilogie zeigt er die Ambivalenz des Journalisten Severing, als er beim Auslösen im Pfandhaus neben seiner Schreibmaschine einen Revolver liegen sieht und innehält. Eine erzählerische Metapher, ob Severing nun weiterhin schreibend oder bewaffnet gegen den Nationalsozialismus kämpft. Doch diese Ambivalenz der Figur kommt so überraschend platt, dass sie einen faden Geschmack hinterlässt. Was hätte man aus diesem extremen und vielfältigen Figurenpersonal entwickeln können! Welch erzählerische Wirkung hätte man durch eine vielschichtige Charakterisierung der Protagonisten erzielen können! Stattdessen lässt Lutes sie ein vorgezeichnetes und vorhersehbares Schicksal erleiden. Bei allem Respekt vor der Arbeit, die in einer solch umfangreichen und langjährigen Serie steckt, aber das erzählerische Potential, das der Stoff hergibt, wurde leider vertan. Und der Verlag hätte zudem gut daran getan, für den Abdruck ein grösseres Format zu wählen, um den Bildern Lutes‘ den notwendigen und verdienten Raum zu geben.

Matthias Schneider

Jason Lutes: «Berlin. Flirrende Stadt».
Carlsen, 176 S., Softcover, s/w,
EUR 14 / CHF 21.90

Pascal Rabaté: «Der Schwindler. Roman eines Revolutionsabenteurers»

Der Schwindler

Was für ein Vergnügen! Was für ein gigantischer, mitreissender, überschäumender Spass! Pascal Rabatés Der Schwindler ist die Adaption eines Romans von Alexej Tolstoi, eines entfernten Nachkommen des grossen Leo. Alexej Tolstoi schilderte darin die Verwirrungen und das Chaos kurz vor und während der Russischen Revolution – und dies aus der Perspektive eines absolut von jeglicher Moral freien Schlawiners, Glücksspielers, Hochstaplers, Opportunisten, Betrügers, Zuhälters, zaristischen Spitzels, gesellschaftlichen Parasiten etc., der sich erst noch als Aristokrat ausgibt. Mithin genau die Sorte Mensch, mit der die Revolution als Erstes aufräumen wollte. Während die russischen Bauern und Arbeiter an der Front in den Tod geschickt werden und nach ihrer Rückkehr auf die Barrikaden steigen, nutzt der biedere Bürogummi Semjon Iwanowitsch Newsorow die Gunst des Tumults, kommt glückhaft zu Geld, erfindet sich als Aristokrat und Lebemann neu und geniesst Sex, Champagner, Koks u.a.
Als Alexej Tolstoi 1924 seinen Roman über diesen «Revolutions-Abenteurer» (Untertitel der ersten deutschen Übersetzung, 1927) schrieb, hatte er selber ein paar ereignisreiche Jahre hinter sich: Während der Revolution war er Propagandist der weissen zaristischen Truppen und emigrierte 1919 nach Paris, dann nach Berlin. 1923 kehrte er in die Sowjetunion zurück und mauserte sich zum linientreuen Schriftsteller, der Maxim Gorki nach dessen Tod an der Spitze des sowjetischen Schriftstellerverbands ablöste und Stalins Kultur- und Säuberungspolitik befürwortete – kein echter Sympath also. Wie auch sein Newsorow alles andere als ein sympathischer «Held» ist.
Aus Tolstois Roman macht Rabaté einen hinreissenden Comic-Roman, der uns tief in die Wirren und Verunsicherungen jener Jahre zieht und diese auf zeichnerisch und erzählerisch immersive und dichte Art vermittelt – und dies aus dem doch eher ungewöhnlichen Blickwinkel eines Revolutionsgewinnlers. Die Lektüre ist ein Rausch, die über 500 Seiten viel zu kurz.
Auf Französisch erschien Der Schwindler vor rund zwanzig Jahren in vier Bänden, heimste zahlreiche Preise nicht zuletzt in Angoulême ein und mauserte sich trotz des ungewöhnlichen Stoffs zu einem echten Bestseller. Hoffen wir, dass sich diese Erfolgsgeschichte auch im deutschen Sprachraum wiederholt.

Christian Gasser

Pascal Rabaté: «Der Schwindler. Roman eines Revolutionsabenteurers».
Schreiber & Leser, 544 S., Hardcover, s/w,
EUR 39,80 / CHF 52.90

Eoin Colfer, Andrew Donkin, Giovanni Rigano: «Illegal - Die Geschichte einer Flucht»

Migration und die Hoffnung auf ein besseres Leben

Ebo ist nicht der Einzige. Der Junge aus Niger ist einer von Tausenden, die jedes Jahr aus Afrika aufbrechen, in der Hoffnung, in Europa eine Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Ebos Eltern sind tot, sein Onkel trinkt und seine Geschwister haben ihr Dorf bereits verlassen. Eine Perspektive hat er nicht, also folgt er seinem Bruder und seiner Schwester in den Norden.
In der Grossstadt Agadez am Südrand der Sahara findet er seinen Bruder. Schlepper führen sie in überfüllten Lastwagen durch die Wüste. Nach einem Zwischenfall an der lybischen Grenze durchqueren sie mit Weggefährten die Sahara zu Fuss bis Tripolis. Dort arbeiten sie illegal, bis sie sich ein Boot für die Überfahrt über das Mittelmeer leisten können. Nur Ebo überlebt und erreicht Sizilien. Dort trifft er seine Schwester.
Illegal. Die Geschichte einer Flucht stammt aus der Feder des Schriftstellers Eoin Colfer, der für seine Fantasty-Serie Artemis Fowl bekannt ist. Seine Co-Autoren sind der Comic- und Kinderbuchautor Andrew Donkin (u.a. Batman: Legends of the Dark Knight) und der Zeichner Giovanni Rigano (u.a. Pixars Die Unglaublichen). Das Team weiss, was es tut: In realistischen Bildern zeigt es die Stationen der beschwerlichen Reise durch Afrika. Die Schauplätze sind gut recherchiert. Die Geschichte wird feinfühlig und frei von unnötiger Moral erzählt. Sie macht die Beweggründe der Auswanderer verständlich, stellt ihre Hoffnung und ihre Ängste vor und zeigt ihre unglaubliche Fähigkeit, sich in völlig fremden Städten immer wieder neu zu organisieren, Arbeit zu finden und an ihrem Traum dranzubleiben. Zurecht hat die englische Presse (The Guardian) Giovanni Rigano gerühmt, wie trefflich er es verstehe, die Gefühle der Migranten sichtbar zu machen.
Zuweilen merkt man Illegal allerdings an, dass sein Autorenteam im angelsächsischen Mainstream verankert ist. Ihre Schilderung ritzt manchmal die Grenze zum Kitsch. Der vergleichbare Comic Zenobia der Dänen Morten Dürr und Lars Horneman zeigt die Realität der Flucht ungeschminkter und endet auch tragischer. Andere Graphic Novels, die sich mit Flucht und Auswanderung befassen, sind politisch und ethnographisch tiefgründiger und künstlerisch eigenständiger. Die Stärke von Illegal besteht darin, dass es die Migrationsthematik einem jugendlichen Publikum vermitteln will und aufzeigt, wie gefährlich die lange Reise durch die Wüste und übers Meer ist, und dass nur die wenigsten Migranten überhaupt je in Europa ankommen. In diesem Sinn ist dieser Band ein gutes Beispiel, wie die Comic-Leser*innen in Europa an die Migrationsproble­matik herangeführt werden können.

Florian Meyer

Eoin Colfer, Andrew Donkin, Giovanni Rigano: «Illegal – Die Geschichte einer Flucht».
Rowohlt Taschenbuch, 144 S., Hardcover, farbig,
EUR 16,99 / CHF 25.90

Alessandro Tota & Pierre van Hove: «Der Bücherdieb»

Ne travaillez jamais

«Man muss alles dafür tun, um nie zu arbeiten, denn das Leben ist das wahre Spielfeld der Kunst», erklärt der Lebenskünstler Gilles in Der Bücherdieb dem jungen Studenten Daniel Brodin. «Einen Diebstahl zu planen, ist genauso viel Wert, wie ein Buch zu schreiben.» Gilles gehört zu einer Gruppe junger (Anti-)Künstler, die den Begriff des Künstlers weit von sich weist und in den Fünfzigern die Pariser Kulturszene aufmischt: Sie pöbeln auf Vernissagen, betrinken und prügeln sich, stehlen – und natürlich verachten sie die Literatur, die Kunst überhaupt und vor allem die Kunstwelt. Alessandro Tota und Zeichner Pierre van Hove lassen ein Paris der Fünfziger auferstehen, in dem Kunst und Revolution Hand in Hand gingen. «Der Mensch, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Waren», haben die Situationisten um Guy Debord erklärt, an denen sich Der Bücherdieb orientiert. Die Schwarzweiss-Zeichnungen von Pierre van Hove sind liebevolle Porträts fiktiver Intellektueller und Künstler jener Jahre.
Daniel Brodin, ein junger Student und Lyriker, der von Gelegenheitsdiebstählen lebt, wird überraschend zum neuen Star der Pariser Bohème, als er in einer Kneipe ein Gedicht rezitiert, das alle Zuhörer in seinen Bann zieht. Allein, es stammt nicht von ihm, sondern war die Stehgreifübersetzung eines italienischen Gedichtes eines geisteskranken Dichters. Der Hochstapler Brodin lernt – mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattet – die Gruppe um Gilles kennen, deren Forderung nach neuen Formen der Kunst, die eben nicht dem Künstlergenie entspringen, seinem Einstand in die Literaturwelt durch ein Plagiat sehr entgegenkommt. Gemeinsam mischen sie eine literarische Gesellschaft auf, weswegen der einflussreiche Miguel Bélanchon auf Daniel aufmerksam wird. Bélanchon ist fasziniert von der Radikalität und gleichzeitigen lyrischen Begabung des jungen Mannes, will ihn in die Literaturwelt einführen und bietet ihm eine Veröffentlichung in der wichtigen, von Sartre herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes an. Brodin, der sich permanent selbst überschätzt, fährt die Chance gnadenlos gegen die Wand und blamiert sich, als er ein eigenes Gedicht vorträgt. Allerdings denkt er eine zentrale Forderung der Situationisten, die Entwendung – «détournement» –, bis in die letzte Konsequenz weiter, als er sich später zu einem Einbruch überreden lässt und fremdes Eigentum entwendet. Auch dieser Plan geht schief, doch Brodin lässt nicht von seiner Selbstüberschätzung ab: «In erster Linie bin ich ungeduldig. Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie ich zu Papier bringen werde, was ich gerade erlebe», denkt er auf seiner Flucht vor der Polizei. Durch seinen selbstironischen Ton ist Der Bücherdieb gleichzeitig Parodie auf den Literatur- und Kunstbetrieb wie auch ein leicht wehmütiger Blick auf eine Zeit, als Kunst noch den erklärten Anspruch hatte, die Welt zu verändern.

Jonas Engelmann

Alessandro Tota & Pierre van Hove: «Der Bücherdieb».
Reprodukt, 176 S., Softcover, s/w,
EUR 20 / CHF 31.90

Lucas Harari: «Der Magnet»

Der Berg ruft

Lucas Harari vereint in Der Magnet die Mythen der Berge mit der epochalen Architektur Peter Zumthors. Der Schweizer Architekt Zumthor lässt sich stark von der Natur seiner Heimat inspirieren, von den Materialien bis hin zur reduzierten Formensprache. So auch in seiner Ikone der Architektur, dem Thermalbad im Graubündner Vals. Für das Gebäude wurden 60’000 Steinplatten aus Valser Gneis verbaut, es sollte äusserlich an einen Steinbruch erinnern, aus dem Quader herausgeschnitten wurden. Zumthor erhielt den Auftrag, die Therme direkt an der Quelle zu bauen, die bereits 1670 zum ersten Mal urkundlich erwähnt und deren Wasser seit Jahrhunderten zur Heilung genutzt wird. Pierre ist ein junger Pariser Architekturstudent, der mit seinem Studium hadert. Auf Anstoss seines Professors macht er sich doch noch auf den Weg, um Zumthors Therme zu erforschen und seine Abschlussarbeit zu vollenden. Es wird eine Reise in die Ungewissheit, in die mythische Bergwelt der Schweiz, die ihn für immer vereinnahmen wird. In Vals angekommen, besucht Pierre die Therme und taucht regelrecht ein in diese
auratische Architektur. Dabei macht er Bekanntschaft mit diversen skurrilen Menschen, die ebenso von dem Geheimnis der Therme angezogen werden. Mehr soll über den Plot nicht verraten werden.
Harari ist ein moderner, geheimnisvoller Comic gelungen, der die erzählerischen Möglichkeiten des Genres kongenial nutzt, um Moderne und Volksglauben, um Architektur und Mythos zu einer spannenden Geschichte zu verweben, die ebenso von ihrer grosszügigen Bildsprache lebt wie von ihrer Narration. Das hochwertige Papier, der aufwendige Druck und die stilvolle Bindung tragen zudem zu einem haptischen Lesevergnügen bei.

Matthias Schneider

Lucas Harari: «Der Magnet».
Edition Moderne, 144 S., Hardcover, farbig,
EUR 32 / CHF 39.80

Minetarō Mochizuki: «Chiisakobee. Die kleine Nachbarschaft»

Bart und Haare

Das merkwürdige Cover des ersten Bands, diese manga-untypische männliche Haar- und Bartpracht neben diesem manga-typischen Mädchen, dieses bizarre und leicht unwirklich anmutende Bild weckte meine Neugierde, und diese Neugierde wurde reich belohnt.
Shigeji – das ist der behaarte junge Mann – muss nach dem Tod seiner Eltern und dem Brand der familieneigenen Schreinerei sein Leben über Nacht verändern. Das ist nicht einfach, vor allem weil der Lebenskünstler auch die selbstverständlichsten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen will.
Minetarō Mochizuki, Mitte fünfzig und seit den Mittachzigern erfolgreicher Mangaka, hat mit Chiisakobee einen Roman von Shūgorō Yamamoto aus dem Jahr 1957 in die Gegenwart verlegt und erhielt 2017 für dieses inhaltlich wie zeichnerisch eigenwillige Werk am Comic-Salon von Angoulême den Preis für die beste Serie.
Vordergründig wirkt in Chiisakobee alles sauber aufgeräumt, kontrolliert, geradezu zen-mässig abgeklärt – hinter jedem Panel aber lauert eine Katastrophe. Da sind die Angestellten der Schreinerei, die von Shigeji Wunder erwarten. Da sind die Baustellen, die immer wieder von Bränden, Unfällen und anderen Pannen heimgesucht werden. Da ist Shigejis spannungsvolle und nie klar ausgesprochene Beziehung zu Ritsu, dem Mädchen auf dem Umschlag. Da ist eine Horde aggresiver Waisenkinder, die sein Haus in Beschlag nimmt. Da ist der Banker, der ihm gerne Kredite gewähren und ihn noch lieber mit seiner Tochter verkuppeln möchte – Shigeji indes lehnt beides ab. Doch diese Tochter verbringt mehr und mehr Zeit in seinem Haus, um sich um die Waisenkinder zu kümmern – was wiederum Ritsu eifersüchtig macht …
Das alles und noch einiges mehr verknüpft Minetarō Mochizuki zu einer merkwürdigen, immer leicht unwirklichen, witzigen und berührenden Geschichte um Handwerk, Werte, Traditionen, Selbstbestimmung und Empathie. Und um Liebe und ihre bizarren Wege. Der Strich ist fein und klar, kaum karikierend, erinnert allenfalls an Jiro Taniguchi, und Mochizuki inszeniert seine
Figuren, vor allem ihre Körperhaltungen so, dass die Leser*innen auch das Ungesagte – und davon gibt es viel – erahnen.

Christian Gasser

Minetarō Mochizuki: «Chiisakobee. Die kleine Nachbarschaft».
Vier Bände. Carlsen, je ca.
220 S., Softcover, s/w,
EUR 14,90 / CHF 24.90

Mikael Ross: «Der Umfall»

Keine Angst vor Humor

Noel ist besonders! Er wirkt wie ein kleiner Junge, ist aber schon 22 Jahre alt. Noel lebt zusammen mit seiner Mutter in einer Hochhaussiedlung in Berlin. Es ist Weihnachtszeit, und für Noel bedeutet das zugleich: sein Geburtstag steht an! Zusammen mit seiner «Mumsie» werden zur Feier des Tages auf dem Balkon Marshmellows gegrillt. Später in der Nacht macht es laut «Rumms» in der Wohnung. Noel sieht im Bad nach: «Mumsie schläft da auf dem Boden. Schlafen tut man aber im Bett! Und Blut … Da ist auch Blut … Blut auf dem Boden … Gehört da nicht hin. Schlecht, schlecht, schlecht ….» Noel schafft es, eine Ambulanz zu rufen. Im Krankenhaus erfährt er, dass es seiner Mutter sehr schlecht geht, er aber nicht alleine zuhause wohnen kann. Er wird nach Neuerkerode in Niedersachsen gebracht, einem vor 150 Jahren gegründeten Dorf für Menschen mit geistiger Behinderung, oder – mit den Worten der Stiftung – Menschen mit besonderem Hilfebedarf. Dort lernt Noel, der bislang vor allem seine Mutter als Bezugsperson und die gemeinsame Wohnung als Lebensmittelpunkt kannte, eine ganz neue Welt kennen. Hier sind viele Bewohner mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften, mit denen er sich auseinandersetzen muss. Und hier sind Menschen, die Verständnis für ihn zeigen. Trotzdem ist die Umstellung für ihn nicht leicht, vor allem als er sich unglücklich in eine Betreuerin verliebt und ihm dann auch noch langsam klar wird, dass er seine Mutter nie mehr wiedersehen wird.
Gemeinsam mit dem Autor Nikolas Wouters hat der Zeichner Mikael Ross die Gaphic Novels Lauter Leben und Totem realisiert, hier tritt er nun sowohl als Zeichner als auch als Autor auf. Der Comic ist zum 150. Jubiläum von Neuerkerode entstanden und führt über die Innenperspektive eines Be­wohners in diese Welt ein. Das gelingt Ross mit dynamischen, farbigen Zeichnungen und einer einfühlsamen Dramaturgie. Zudem schafft es Ross mit einem erzählerischen Kniff, ein unrühmliches Kapitel des Dorfes während des Faschismus einzubauen, ohne in einen Lehrbuch-Duktus zu verfallen.

Christian Meyer-Pröpstl

Mikael Ross: «Der Umfall».
Avant, 128 S., Hardcover, farbig,
EUR 28 / CHF 43.90

Eleanor Davis: «Why Art?»

Grosse Fragen, elegante Erklärungen

Es ist eine Weile her, da las ich in einem US-amerikanischen Magazin oder auf einer Website, die ich leider nicht mehr finden kann: «Wir haben Eleanor Davis nicht verdient.» Ein merkwürdiger Kommentar, aber einer, der mich zum Denken angeregt hat über die Beziehung zwischen Schöpfer*innen und Konsument*innen eines Kunstwerks. Was müssen wir tun, um Kunstwerke zu «verdienen»?
Typische amerikanische Comicleser*innen haben die wohlüberlegten, schwer fassbaren und anspielungsreichen Comics von Eleanor Davis sicherlich nicht verdient. Zwar hat die «Graphic Novel» in letzter Zeit stark zugelegt, doch bleibt sie in der englischsprachigen Welt eine eher vernachlässigte Kunstform, sowohl in den Köpfen der Leser*innen als auch in den Buchhandlungen, wo sie zwischen den Genre-Ghettos von Kindercomics und Superhelden feststeckt.
Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen, wirft Davis’ Werk die altbekannte pedantische Frage auf: Sind das überhaupt Comics? Manchmal erinnern ihre Alben an R.O. Blechman, Michael Leunig, Edward Gorey, Jules Feiffer und andere poetische Schöpfer*innen sogenannter Comics. Oder, um Strapazin-Leser*innen bekanntere Namen zu nennen, Comics im Stil von Anke Feuchtenberger, Martin tom Dieck oder Nicolas Mahler, also von Künstler*innen, die nicht viele Comics gelesen zu haben scheinen.
Diese Beschreibung trifft hervorragend auf Davis’ jüngstes Buch Why Art? zu, über das ich nicht allzu viel schreiben möchte, um das Vergnügen nicht zu verderben. Was nicht heissen soll, dass Why Art? nur ein elaborierter Witz mit einem guten Schlussgag ist, aber eine zu ausführliche Beschreibung würde den Effekt mindern, den es auf alle hat, die das Buch zum ersten Mal in die Hand nehmen. Es besteht zum grössten Teil aus einfachen Schwarzweiss-Zeichnungen und beginnt, ganz wie ein Lehrbuch, mit dem Erklären von Kunstkategorien, Theorien über die Absichten der Künstler*innen und darüber, wie das Publikum Kunst aufnimmt und versteht, sowie über die Dynamik der Museen und des Kunstmarktes. Aber dann nimmt das Buch eine absolut unerwartete Wendung und zwingt die Leser*innen listig, aber freundlich dazu, sich die Frage «warum Kunst?» zu stellen. Warum stellt Kunst eine essentielle menschliche Aktivität dar? Kann Kunst soziale und psychologische Bedürfnisse stillen? Und schafft es die Kunst, uns zu erlösen, zu retten, zusammenzubringen?
Ich habe keine Ahnung, ob irgendwer Eleanor Davis verdient hat, aber ich kann mit Überzeugung und Enthusiasmus sagen, dass Why Art? es verdient, von allen gelesen zu werden, die smarte Comics lieben oder besser verstehen möchten, was Kreativität eigentlich ist.

Mark Davis Nevins

Eleanor Davis: «Why Art?».
Fantagraphics, 200 S., Softcover, meist s/w,
EUR 14,99 / CHF 14.90

Karl Stevens: «The Winner»

Ein Porträt des Künstlers als anspruchsvoller Cartoonist

«Die Leute erinnern sich an den Künstler, nicht ans Sujet.» Das ist einer von vielen Gedanken in der halb-autobiografischen Geschichte The Winner des aus Boston stammenden Karl Stevens. In seinem Fall ist das abgebildete Sujet seine Ehefrau Alex, die beinahe auf jeder Seite zu sehen ist. Mal skizzenhaft in Schwarzweiss, mal als aufwändig ausgearbeitetes Porträt in vollem Farbenglanz. Sie ist die Muse, die ihn immer wieder auf den Boden holt, wenn er in seinen philosophisch-existenzialistischen Gedanken schwelgt. Nebst einer Hommage an seine Frau versucht The Winner der Frage nach dem Unterschied von hoher und populärer Kunst nachzugehen, d.h. von klassischer Malerei und Comics. Karl Stevens ist in beiden Feldern tätig, arbeitet zudem als Aufseher in einem Kunstmuseum und fühlt sich in beiden Szenen als Aussenseiter. Er hat bereits mehrere Comics publiziert und für Zeitungen Comicstrip-Serien gezeichnet, zugleich arbeitet er in der klassischen Malerei. Wie so viele autobiografische Comics hat The Winner an sich nichts Spannendes zu erzählen, und Stevens versucht nicht, mit geistreichen Erfindungen sein Leben aufzupeppen, abgesehen von kurzen Fantasy-Sci-Fi-Erzählungen, die er dazwischenstreut. Der Comic weist aber mit seinem episodenhaften Erzählstil und den ganzseitigen Porträts von Stevens Frau zuweilen poetische Züge auf. Stevens nimmt sich für (aus Sicht der Leser*innen) unbedeutende Erinnerungsfragmente, unfertige Gedankengänge oder kleine, alltägliche Dialoge mit seiner Frau oder mit sich selbst Zeit, ohne sich erzählerisch um einen roten Faden zu scheren. Die Mischung aus sequentieller Bilderzählungen, die von Porträts seiner Frau unterbrochen werden, kann als Kommentar zur anfangs gestellten Frage über seriöse und populäre Kunst verstanden werden. Stevens schöpft aus beiden Kunstformen und geht vielleicht deshalb als «Gewinner» hervor.

Giovanni Peduto

Karl Stevens: «The Winner».
Retrofit/Big Planet, 104 S.,
Softcover, farbig,
EUR 15,99 / CHF 23.90

 

Kurz und Gut

Christian Meyer-Pröpstl

«Hat man erst angefangen zu reden, kann alles Mögliche dabei herauskommen.» Das behauptet zumindest der Titel von Pirmin Beelers Comic.
Beeler schildert in seiner autobiografischen Geschichte, wie er seine Mutter und ihren Freund in der Türkei besucht. Die Mutter, so erfahren wir in Rückblenden, wurde einst in die Psychiatrie eingewiesen. Später trennten sich die Eltern wegen der Probleme. Als Kind und Jugendlicher konnte Beeler all das nicht verstehen. Und auch heute noch erscheint ihm seine Mutter merkwürdig fremd. Doch nun begegnet er ihr, die ein spätes Glück mit einem kurdischen Flüchtling in der Schweiz gefunden hat, mit grossem Wohlwollen. Über mehrere Zeitebenen hinweg entfaltet Beeler elliptisch die Biografie seiner Mutter – gezeichnet in sanften Aquarellen.

Pirmin Beeler: «Hat man erst angefangen zu reden, kann alles Mögliche dabei heraus­kommen».
Edition Moderne, 112 S., Softcover, farbig,
EUR 24 / CHF 29.80

 

Katja Klengel sorgt für Ausgleich. Sie setzt dem Mansplaining ein «Girlsplaining» entgegen und schimpft mit grossartigem Humor gegen gesellschaftlich eingeimpfte Scham an: weibliche Scham vor dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität. Die Leser*innen dürfen sie begleiten, wie sie all das lustvoll abstreift in ihrer Kolumne aus dem Online-Magazin Broadly, die nun in Buchform gesammelt vorliegt.

Katja Klengel: «Girlsplaining».
Reprodukt, 160 S., Hardcover, zweifarbig,
EUR 18 / CHF 27.90

 

Island im 18. Jahrhundert: Als wären Vulkanausbrüche, Eiseskälte und Hungersnöte nicht genug, drangsalieren auch noch die Dänen das isländische Volk. Wenn man zudem Waise ist wie der Junge Grimr, dann steht man ganz unten im sozialen Rang. Der gerissene Dieb Vigmar nimmt sich des Jungen an, der mit zunehmendem Alter ungewöhnliche Kräfte entwickelt. Vigmar will eine Sage schreiben und merkt langsam, dass Grimr das geeignete Vorbild sein könnte. Das Drama nimmt seinen Lauf … Jérémie Moreau erzählt mit Die Saga von Grimr ein gewaltiges Epos, das sowohl dramaturgisch als auch mit kunstvollen Aquarellen beeindruckt – in diesem Jahr in Angoulême als bester Comic ausgezeichnet.

Jérémie Moreau: «Die Saga von Grimr».
Avant, 232 S. Hardcover, farbig,
EUR 30 / CHF 44.90

 

Miguelanxo Prado widmet sich nach Ardalén erneut dem Schicksal der Alten, nur sind sie hier zugleich Opfer und Täter. Die Wirtschaftskrise in Spanien hat die Menschen in die Kreditfalle getrieben, für die Banken waren sie leichte Beute. Kommissarin Tabares und Kollege Sotillo sehen sich einer Serie von Morden an Bankern gegenüber. Langsam wird klar, dass die Täter betrogene Rentner sein könnten. Auf welcher Seite Prados Sympathien stehen, ist klar. Spannend und mit lakonischem Witz verschafft er den Betrogenen mit seiner ungewöhnlichen Geschichte eine Stimme.

Auch im Zentrum des Comics Die Spinne von Maschhad steht ein Serienmörder. Sympathie liegt Mana Neyestani allerdings fern. Sein Comic basiert auf einer Dokumentation zu dem Fall von Said Hanai, der von 2000 bis 2001 im Iran mindestens sechzehn Prostituierte tötete, um seine Stadt zu «reinigen». Interviews mit dem Richter, der Familie und nicht zuletzt dem Täter geben Einblicke in nicht nur einen von moralischem Eifer besessenen Täter, sondern eine ganze Gesellschaft, die dies ermöglichte.

Miguelanxo Prado: «Leichte Beute».
Carlsen, 96 S., Hardcover, farbig,
EUR 18 / CHF 27.90

Mana Neyestani: «Die Spinne von Maschhad».
Edition Moderne, 164 S., Softcover, s/w,
EUR 22 / CHF 28.—

 

Im Jahr 2001 hat der Berliner Verlag Avant als erste Veröffentlichung das zehn Jahre zuvor entstandene Werk Berlin 1931 von Raúl und H. Cava herausgebracht – eine expressive, malerische Episode des kommunistischen Widerstands kurz vor der Machtergreifung Hitlers. Raúls Stil variiert in nicht immer verständlicher, aber aussergewöhnlicher Art und fordert mit seinem Abstraktionsgrad stets die Aufmerksamkeit der Leser*innen.

Raùl & H. Cava: «Berlin 1931».
Avant, 76 S., Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 33.90

 

Biografien

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Lina Müller
*1981 in Burgdorf (BE), aufgewachsen im Solothurner Jura, arbeitet als freischaffende Illustra­torin und Künstlerin in Altdorf. Sie studierte an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, an der Hochschule Luzern und an der Academy of Fine Arts in Krakau. Sie arbeitete für verschiedenste Pub­likationen und Institutionen wie die Zeit, Das Magazin, die Neue Zürcher Zeitung und viele andere. In STRAPAZIN 121 findet sich zuletzt die Geschichte Deep in the Alzheimerland, die sie zusammen mit Luca Schenardi entwickelt hat. Ihre Arbeiten wurden nominiert für die Swiss Design Awards 2017.
www.linamueller.com

Luca Schenardi
*1978 in Altdorf (SZ), studierte an der Hochschule Luzern HSLU Illustration Fiktion. Er lebt und arbeitet in Altdorf. Sein bislang grösstes Werk An Vogelhäusern mangelt es jedoch nicht erschien 2012 als Buch bei der Edition Patrick Frey. 2014 hat er zusammen mit Lina Müller das Buch berri Jazz herausgegeben. Im April 2017 erschien ebenfalls in der Edition Patrick Frey sein zwei­tes Buch Meyer spricht von Gratiskaffee – eine Zeichnungssammlung von transkribierten Teletextfehlern. Mit diesem Buch wurde er 2018 nominiert für die Swiss Design Awards.
www.lucaschenardi.ch

Eva Wolf
*1994 in St.Gallen, studierte Visuelle Kommu­nikation an der Hochschule der Künste Bern. Sie lebt und arbeitet als Grafikerin in Bern und Luzern.
www.7er-studio.ch

Martina Walter
*1983 in Konolfingen (BE), studierte Illustration an der Hochschule Luzern. Sie arbeitet als freischaffende Illu­stratorin in Bern und Luzern. Ihre Illustrationen und Comics erschienen u.a. bei Le Monde Diplomatique, Fantoche und HSLU Design & Kunst. Momentan arbeitet sie an ihrem ersten Bilderbuch, mit dem sie anfangs Jahr für einen Swiss Design Award nominiert wurde.
www.martinawalther.ch

Priska Gisler
*1965, lebt, schreibt und forscht in Zürich und an der Hochschule der Künste Bern. Studium der Soziologie und Geschichte, Dissertation in Gender Studies. Sie lehrte und arbeitete im Bereich der Science and Technology Studies in Zürich, Berlin, London und Wien. Sie beschäftigt sich vor allem mit naturwissenschaftlichen Ausstellungs- und Vermittlungsfragen, mit Mensch-Tier-Natur-Beziehungen und mit der Entwicklung künstlerischer Ausbildung und Praxis.

Milva Stutz
*1985 in Zürich, ist bildende Künstlerin und Mitherausgeberin von STRAPAZIN. Sie studierte in Luzern, Edinburgh und Zürich. Zurzeit absolviert sie einen Master of Arts in Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie arbeitet hauptsächlich mit Zeichnung, Animationsfilm und Installation. Ihre Arbeit wurde international in verschiedenen Ausstellungskontexten gezeigt. Seit 2013 ist sie Dozentin für Zeichnung an der ZHdK.
www.milvastutz.ch

Helge Reumann
*1966 in Uster (ZH). Ausbildung als Grafiker an der Ecole des Arts Décoratifs de Genève. Helge Reumanns Arbeiten sind über die Jahrzehnte oft in STRAPAZIN erschienen, zuletzt 2013 in der Ausgabe zum Thema «Eisenbahn». Helge Reumann überrascht immer wieder mit faszinierenden Buchprojekten, 2007 zum Beispiel mit Elvis Road, einem Leporello in Buchform, den er mit seinem Studio-Kollegen Xavier Robel erschuf und der prompt seinen Weg in die schönsten Schweizer Bücher fand. 2014 erschien Sexy Guns, bei United Dead Artists, 2017 Black Medicine Book, bei Editions Atrabile, wo auch 2019 SUV erscheinen wird. Helge Reumann lebt und arbeitet in Genf. Er unterrichtet unter anderem an der Hochschule für Kunst und Design HEAD.
helgereumann.tumblr.com

Natyada Tawonsri
*1994, ist Illustratorin und Comiczeichnerin. Sie wuchs im Kanton Bern auf. 2018 absolvierte sie den Bachelor in Illustration Fiction an der Hochschule Luzern und studiert nun Master Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.
natyadatawonsri.tumblr.com

Karoline Schreiber
*1969 in Bern. Nach ihrer Ausbildung an der Grafikfachklasse in Bern führten sie Stipen­dienaufenthalte nach Krakau und New York. Sie ist als bildende Künstlerin und Gestalterin in den Medien Zeichnung und Malerei tätig. Sie war in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland vertreten, wurde mit Atelierstipendien, Auszeichnungen und Preisen bedacht. 2011 schloss sie den Master of Arts in Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) ab. Seit 2001 ist sie Dozentin für Zeichnen an der Hochschule der Künste Bern HKB. 2015 veröffentlichte sie das Künstlerbuch Letzte Nacht – Aufzeichnungen im Berliner Verlag The Green Box, das einen Auszug aus einem umfassenden zeichnerischen Werkzyklus enthält. Sie lebt und arbeitet in Zürich.
www.karolineschreiber.ch

Dario Forlin
*1992 im Appenzellerland.
Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern. Er lebt und arbeitet als selbstständiger Illustrator in St.Gallen. Mitgründer und Herausgeber des monatlich erscheinenden Fanzines Gaffa.
www.darioforlin.com

Théo Remlinger
*1996 geboren. Er studiert an der Hochschule für Kunst und Design HEAD in Genf im Fach Illustration und Comics, unter anderem bei Helge Reumann. Er schliesst seinen Bachelor als Zeichner im Frühling 2019 ab.

Marlen Keller
*1995 in Endingen (AG), lebt und arbeitet in Luzern. Sie studierte Illustration Fiction an der Hochschule Luzern. Seit August 2018 arbeitet sie als freischaffende Illustratorin und Gestalterin.
www.marlenkeller.ch

Michel Weber
*1990 in Bern, hat nach einer Lehre als Hochbauzeichner an der Hochschule der Künste Bern studiert. 2015 hat er dort sein Studium der Visuellen Kommunikation abgeschlossen und arbeitet seither als freischaffender Zeichner und Illustrator. Zu sehen sind seine Arbeiten immer wieder an verschiedenen Comicfestivals, so z.B. am Fumetto, Delémont BD oder dem 24 Stunden Comic.
www.michelweber.org

Jonas Lenz
*1983 Zürich. Er studierte Theater- und Filmwissenschaft und absolvierte den Lehrgang Drehbuchautor an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich. 2015/2016 erhielt er ein Stipendium der DrehbuchWerk­statt München/Zürich. Jonas lebt und arbeitet in Bern. Er schrieb die Story für den Kurzfilm WIRED von Rise and Shine Films, welcher am Zürich Film Festival 2017 den ZFF72 Jury Award gewann.