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René Girard im Jahr 2004

René Girard: Der Anatom der Gewalt

Der Kulturtheoretiker und Religionsphilosoph René Girard ist gestern Abend in seinem Haus in Stanford, Kalifornien, verstorben. Girard wies in seinen bis heute aktuellen Analysen nach, dass Mythen und Religionen auf dem Boden der Gewalt erbaut wurden.

Nachruf 05.11.2015

Der 1923 in Avignon geborene Girard war zu seinen Lebzeiten ein singulärer kulturgeschichtlicher Denker. Aus seinem umfangreichen Werk sticht vor allem seine "Mimetische Theorie" und der "Sündenbockmechanismus" hervor.

Girard erklärt damit den Zusammenhang zwischen menschlichem Zusammenleben, der Entstehung von Gewalt und ihrer Eindämmung durch Religion, Tabus und Verbote. René Girard analysiert die menschliche Kultur und Geschichte aus der Perspektive der Gewaltentstehung und ihrer Opfer.

Der Mensch ist ein nachahmendes Lebewesen. Ohne Nachahmung gäbe es keine Erziehung, keine Gemeinschaft und keine Kultur. Aber die Mimesis (griech. für "Nachahmung") hat auch eine gefährliche, todbringende Seite: Denn auch die menschliche Neigung zur Gewalt ist mimetisch geprägt.

Gewaltsame Nachahmung

Literatur von und über Girard

  • Rene Girard: Das Heilige und die Gewalt, Fischer Verlag 1994
  • Rene Girard: Das Ende der Gewalt, Herder Verlag 2009
  • Rene Girard: Der Sündenbock, Benziger Verlag
  • Raymund Schwager: Brauchen wir einen Sündenböck? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, Kösel Verlag 1989
  • Wolfgang Palaver: Gewalt und Religion. Gespräche mit Rene Girard, Matthes & Seitz Berlin 2010
  • Jozef Niewiadomski: Religion erzeugt Gewalt. Einspruch!, Lit Verlag 2003

Girard zeigt in seiner mimetischen Theorie, wie das nachahmende Begehren zur Gewalt führen kann. Wenn Menschen Güter begehren, die nicht geteilt werden können - beispielsweise einen bestimmten Menschen, eine Machtposition oder Grund und Boden - entsteht Rivalität, Neid und Eifersucht. Dieses Verhalten wurde vor Girard schon vom englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes beschrieben:

"Wenn…zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen."

Während die Differenzen zwischen den Rivalen immer größer werden, werden sie sich in ihrem Verhalten immer ähnlicher. Sie werden gewalttätig. Rene Girard zeigt, dass die mimetische Rivalität ansteckend ist und in der Gruppe zu raschen Gewalteskalationen führt.

"Tiere kennen keine Vergeltung"

"Wir wissen, dass Tiere augenblicklich zu kämpfen aufhören, wenn sie erkennen, dass eines schwächer ist als sein Rivale. Wenn sich das schwächere Tier dem stärkeren unterwirft und die neue Beziehung der Dominanz akzeptiert, bleibt es am Leben und erhält den zweiten Platz in der Rangordnung. Beim Menschen gilt dieser instinktive Automatismus nicht.

Menschen kämpfen bis zum Tod. Sie kämpfen sogar noch über den Tod hinaus. Denn: Wenn Sie mich töten, wird mein Bruder gegen sie aufstehen und sie töten und dann wird ihr Bruder meinen Bruder töten und so könnte das endlos weitergehen. Das nennen wir Vergeltung und den mimetischen Zirkel der Rache.

Man weiß, dass die Tiere Vergeltung und Rache nicht kennen. Beim Menschen scheint der Drang zur Rache natürlich zu sein. Doch diese Frage ist von der Kulturanthropologie noch kaum erforscht, weil sie dazu tendiert, das heikle Thema menschlicher Gewalt zu vermeiden. Mich aber hat dieses Thema am meisten interessiert."

Der "Sündenbockmechanismus"

Besonders deutlich wird das in den archaischen Gesellschaften. Aber was verhinderte, dass die Rivalität nicht mehr so eskalieren konnte, dass die Gewaltexzesse aller gegen alle die Gesellschaft ins Chaos und in den Untergang zu bringen drohte? – Nach Girard ist es der "Sündenbockmechanismus".

Audio: René Girard über den "Sündenbockmechanismus"

Immer wenn eine Gruppe oder Gesellschaft in eine existenzielle Krise geriet, sei es durch innere Rivalitäten oder durch äußere reale oder imaginierte Bedrohungen, veranlasste das ihre Mitglieder, einen Sündenbock dafür ausfindig zu machen.

Sündenböcke waren willkürlich ausgewählte, unschuldige Opfer, auf die die Gemeinschaft ihre Aggression, Frustration und Angst abwälzte.

Es waren Einzelne, Fremde oder gesellschaftliche Randgruppen, die den Zorn der Gemeinschaft mit Ausgrenzung, Verfolgung oder mit ihrem Leben bezahlen. War der Sündenbock gefunden, bestraft und geopfert, fühlte sich die Gemeinschaft von den Übeln und der (eigenen) Gewalttätigkeit befreit.

So fand sie auf Kosten eines Opfers zu neuer Einstimmigkeit, Frieden und Solidarität. Darin besteht der Sündenbock-Mechanismus. Dieser wird in der archaischen Religion rituell wiederholt. Rene Girard über diesen Prozess:

"Das Opfer wird zum Gott"

"Die Gesellschaft kommt in eine mimetische Krise, weil die Menschen immer mehr rivalisiert haben. Die Agressivität staut sich immer mehr auf. Habgier, Neid, Verblendung, Projektionen, Gerüchte, Lügen und Intrigen heizen die Situation solange auf, bis sie sich im Gewalttausbruch entlädt.

Allerdings nicht mehr so chaotisch und selbstzerstörerisch wie früher, also nicht mehr jeder gegen jeden, sondern die gemeinschaftliche Gewalt entlädt sich nun auf ein einzelnes Opfer.

Das funktioniert wie ein Schneeballeffekt. Alle Mitglieder der rivalisierenden Gesellschaft wenden sich gegen einen einzelnen, der für die Entstehung der Gewaltkrise verantwortlich gemacht wird. Wenn sie gemeinsam diesen einen töten, finden sie sich plötzlich in einer wundersamen Eintracht wieder und haben keinen Feind mehr. Sie sind durch das Opfer versöhnt.

Nachdem sie das Opfer zunächst als sehr gefährlich bezeichnet und für die Gewaltkrise verantwortlich gemacht haben, sehen sie es nun als den Grund ihrer Rettung. Sie machen aus dem Opfer einen Gott, der sehr gefährlich aber zugleich auch sehr hilfreich ist."

Mythen verhüllen die Gewalt

Der Sündenbock wird zu einem göttlichen Wesen, zu einem ambivalenten "Heilbringer" gemacht. Davon erzählen nach Girard die meisten Gründungs-Mythen der Kulturen. Der Mythos verhüllt die gewalttätigen Anfänge der Kultur. Mythen erzählen die Entstehung unserer Kulturen durch den Sündenbock-Mechanismus aus der Täter-Perspektive der Lynchmörder.

So paradox es ist: Die archaische Religion war eine erste Stufe der Eindämmung menschlicher Gewalt. Allerdings beruht sie auf einer Lüge, einem kollektiven Selbstbetrug, weil die Ursache des Übels, die eigene Gewalttätigkeit, einem unschuldigen Opfer in die Schuhe geschoben wird, das stellvertretend für die Gruppe zu leiden hat. "Die Gewalt ist das kulturstiftende Fundament aller Kulturen" sagt René Girard.

Am Anfang der Religion steht also der Sündenbock-Mechanismus, wie Girard in seinen Hauptwerken "Das Heilige und die Gewalt" und "Der Sündenbock" ausführt. Die wesentlichen Elemente dieser ursprünglichen Religion sind Mythen, Riten, rechtliche Verhaltensregeln, Tabus und Verbote.

Jesus und die Folgen

Es überrascht, dass der lange Jahre sich als agnostisch verstehende Literaturwissenschaftler und Philosoph kein Kulturpessimist geworden ist. Der Grund mag darin liegen, dass er nach intensiven literarischen Forschungen etwas für ihn Aufregendes entdeckt hat:

"Es gibt im Abendland nur eine einzige literarische Quelle, die die Gewalt und den Opfer-Mechanismus nicht heiligspricht; nämlich die aus der jüdisch-christlichen Tradition stammenden Evangelien. Jesus lässt sich selbst in letzter Konsequenz zum Sündenbock machen und enthüllt so die verborgene Gewalt in der Gesellschaft".

Folgt man Rene Girard, so sind die einzigen religiösen Texte, die das Erzählschema der Mythen durchbrechen und umkehren, die hebräische Bibel und die christlichen Evangelien.

Sie erzählen die Geschichte der Gewalt nicht mehr aus der Perspektive der Täter, sondern aus der der Opfer. Auch viele Propheten bis hin zu Jesus Christus werden vom Mob als Sündenböcke verfolgt und ermordet. Aber hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied.

Aufdeckung einer kollektiven Lüge

In diesen Texten wird die mimetische Gewalt nicht mehr als "heilig" und "erlösend" dargestellt. Sondern sie wird als kollektive Täuschung und Lüge aufgedeckt und als Skandal gebrandmarkt. Jesus lässt sich selbst in letzter Konsequenz zum Sündenbock machen und enthüllt so die verborgene Gewalt in der Gesellschaft, sagt Girard.

Das Christentum hat den Opferkult erfolgreich abgeschafft, auch wenn es im Verlauf seiner Kirchengeschichte ab dem 4. Jahrhundert immer wieder zurückfällt und Gewalt gegen vermeintliche Glaubensfeinde ausgeübt hat.

Aber die Enthüllung dieser Gewalt, nimmt dem gewalttätigen Opfer-Mechanismus seine einst friedensstiftende Macht und stellt all jene bloß, die andere zum Opfer machen wollen. Damit beginnt religionsgeschichtlich eine Revolution.

Nach Girards Meinung sind wir dadurch erstmals in eine Phase der Zivilisation eingetreten, die die Gewalt negativ beurteilt und dies bedeutet für ihn die fundamentale kulturgeschichtliche Wende. Denn die Grundgedanken – die Gewaltächtung und die Sympathie für die Opfer – sind zu gesellschaftstragenden Momenten unserer modernen Kultur geworden.

René Girards Denken steht in einer Reihe mit kulturprägenden Werken wie Freuds "Totem und Tabu". Michel Serres würdigte ihn einmal als den "neuen Darwin der Humanwissenschaften". Girard wurde 91 Jahre alt.

Johannes Kaup, Ö1-Wissenschaft

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