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Renate aus der Lindenstraße

aus DER SPIEGEL 45/1993

Ich und ein Stasi-Spitzel?« sagte die Mutter. »Niemals.« Solch ein Vorwurf ginge ihr »mitten ins Herz«. Böswillige und Neider wollten nur einen Keil zwischen Eltern und berühmte Tochter treiben, was aber nicht gelingen werde: »Franzi vertraut uns mehr denn je.«

Ihre Kinder, erklärte die Frau, seien offen und ehrlich erzogen worden. Mit Franzi habe sie oft über ihre Arbeit gesprochen, »auch über die Stasi und die politische Wende. Sie braucht sich ihrer Eltern nicht zu schämen«.

So wurde das Private schon nach den ersten Verdächtigungen vor einem Jahr zum öffentlichen Fall. Das entschiedene Dementi ermöglichte der Schwimm-Weltrekordlerin Franziska van Almsick, 14, den Aufstieg zum ersten gesamtdeutschen Sportstar, der nicht von der Vergangenheit eingeholt werden kann.

Immer wieder standen die Almsicks Modell als mustergültige Ex-DDR-Familie, so normal wie andere auch, nur mit einer ungewöhnlich erfolgreichen Tochter. Und die Medien verbreiten bereitwillig - den Worten der Eltern folgend _(* Vater Bernd, Tochter Franziska, Sohn ) _(Sebastian, Mutter Jutta im Wohnzimmer. ) - den Glauben an die Wirkung des heimeligen Soziotops, in dem Tochter und Eltern in Berlin-Treptow leben. Nur allzugern wird der rückwärts gewandten, verklärten Ostgemütlichkeit das Wort geredet. Weil es so viele gibt, die die Gegenwart verdammen und sich lieber an der Vergangenheit moralisch aufrichten möchten, hat diese Art DDR-Nostalgie Konjunktur.

Und nun das. Eine Akte weist Jutta van Almsick, 42, als inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit aus, als »IM Renate«. Die rund 200 Seiten handeln nicht von Jugendsünden. Die Spitzeltätigkeit beginnt 1981 und wurde selbst nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 noch fortgesetzt.

Franziska wird wohl erst jetzt die ganze Wahrheit hören. Es ist nicht mehr zu verschweigen, was eigentlich nie zu verschweigen war. Nur ohne Ruhm und Weltrekorde hätte Franziska vielleicht eine von Tausenden jener Generation Heranwachsender bleiben können, deren Eltern verschämt die Vergangenheit vergessen möchten.

Doch jetzt wird ihr öffentlich geführter Lebenslauf auch öffentlich korrigiert. Und da wird es für die Schwimmerin kein Trost sein, daß eine andere Generation Jugendlicher zu einer anderen Zeit im anderen Teil Deutschlands ähnliches bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit auch erlebt hat.

Zurechtzurücken ist beispielsweise, was die Welt kürzlich über den »Alltag dieser schrecklich netten Familie« in »diesem behüteten Soziotop« berichtete: Die Almsicks, so haben sie dem Reporter vermittelt, wohnen in einem Viertel, »in dem ein gutes Stück DDR - hilfst du mir, helf'' ich dir - die politische Wende unbeschadet überstand«.

Welches Ausmaß an Verdrängung zu solcher Selbstdarstellung notwendig ist, offenbart die Akte XV 1477/81 der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin. Als Gründe für die freiwillige Zusammenarbeit mit dem MfS werden die »politischideologische Überzeugung« der Sportlehrerin Jutta van Almsick genannt sowie ihr »Interesse an der Eindringung in die Psyche«, verbunden mit einem »Hang zum geheimdienstlichen Fluidum«.

Über ihre eigenen Arbeitskollegen gab sie detaillierte persönliche Informationen weiter - bei Treffen in konspirativen Wohnungen nach Feierabend. Ihre Spitzeleien trugen »wesentlich mit dazu bei«, heißt es in den Stasi-Dokumenten, daß »bedeutsame Anhaltspunkte geklärt werden konnten«. Die von der Stasi bearbeiteten und von Jutta van Almsick bespitzelten Arbeitskollegen wurden »aus ihren Funktionen herausgelöst«. Die Folgen ihres Paktes mit der Stasi konnte Jutta van Almsick also durchaus nachvollziehen. Das Wissen darum hielt sie nicht ab.

Die Stasi empfand »Renate« als sehr »aufgeschlossen und bereitwillig«, lobend erwähnt wird ihre Bereitschaft, sich auch selbständig zu Treffen zu melden. Häufig sprach sie die vereinbarte Losung ins Telefon: »Suche eine Möglichkeit, meinen Sohn in einer Sportart unterzubringen!«

»Sie ist interessiert«, schreibt ihr Führungsoffizier, »Ermittlungen zu machen bzw. Aufträge zur konkreten Arbeit unter Legenden an Personen zu erhalten«, weil sie »gern für das MfS mehr leisten würde«.

Die Treffberichte dokumentieren eine kleinkarierte Spitzelwelt. Eifrig gab »Renate« persönliche Details zu Protokoll. Sie denunzierte, welcher Kollege das Westfernsehen verfolgt, wer zu einer japanischen Quarzuhr gekommen ist, wer mit Hilfe des Dienst-Pkw seine Datscha ausbaut, wer eine teure Wohnungseinrichtung oder wer zu einem Republikflüchtling Kontakt hat.

Bereits 1981 steigt Jutta van Almsick zum »Hauptmann der Volkspolizei« auf, 1986 zum Major. 1988 schwärzte sie in einer handgeschriebenen »Mitteilung« Dynamo-Kollegen an, von denen sie erfahren hatte, daß sie in der Bundesrepublik Verwandte wohnen haben. Zwei Monate später wird sie zum »Offizier für sportliche Ausbildung« befördert.

Schon bald zieht der Spitzel »Renate« größere Kreise. Die Familie wohnt in einem »normalen« Berliner Mietshaus in der Beermannstraße im Ostbezirk Treptow. Diese Beermannstraße »ist wie die Lindenstraße«, hat Jutta van Almsick für den Kicker formuliert.

Die »Beermannsträßler« treffen sich ziemlich oft in der Kneipe namens »Ambiente«, die Bernd van Almsick in seiner Freizeit getüncht und für die Jutta van Almsick die Stuhllehnenbezüge geschneidert hat. So erzählt sie es den Journalisten, die zum Gespräch mit den Eltern des Schwimm-Wunderkindes meist ins Treptower Lokal bestellt werden.

Die Akten geben Bitteres aus der zugetünchten Vergangenheit preis: ausführliche Spitzelberichte über eben dieses »Ambiente«, handgeschriebene Einschätzungen über die Wirtin, die zudem als Nachbarin im gleichen Haus wie Jutta van Almsick wohnt.

Der Offizier freut sich über ihre häufigen Besuche im »Ambiente«, die viele Informationen bringen. Penibel beschreibt sie den Besucherkreis der Kneipe. Und wer im Kiez ein »Feind der DDR« ist, wird namentlich denunziert. Der Führungsoffizier legt ihr heimlich aufgenommene Fotos vor, und sie identifiziert darauf die Gäste des »Ambiente« - von dem sie auch heute noch behauptet, diese Gaststätte sei »so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer«.

Eine schöne Lindenstraße - Ausgabe Ost.

Im Wendejahr 1989 erhöht sich »Renates« »Treffdichte« mit der Stasi ungemein. Im Januar quittiert sie eigenhändig 300 Mark Prämie »aus Anlaß des 35. Jahrestages der Gründung des MfS«. Im Juli gibt es Blumen und eine Kaffee-Einladung ins Nikolaiviertel. Verraten wird dabei, was von der Nachbarin über Aktivitäten der nahe gelegenen Kirche herauszubekommen war: etwa daß dort die verbotene Zeitschrift Sputnik verbreitet wird. Oder daß der Pfarrer Werner Hilse wieder mal eine scharfe Predigt gegen die Mauer gehalten hat. (O-Ton Treffbericht: »Sie stellte sich die Frage, was dies mit Religion zu tun habe.")

Sie läßt sich sogar hin und wieder von der Freundin in die Kirche mitnehmen und berichtet darüber wie eine Späherin im Feindesland: »Renate« ist »der Meinung, daß das, was der Hilse macht, nicht nur bösartig ist, sondern als feindlich eingeschätzt werden muß«.

Gemeinsam mit der Stasi schmiedet sie Pläne, Zweifel am Pfarrer in der Gemeinde zu säen, »um innerkirchliche Auseinandersetzungen« zu fördern, die seine Arbeit stören sollen. Was sie und 50 andere IM im »Operativen Vorgang Doppelkreuz« zusammentragen, führt zu Verhaftungen und Verurteilungen.

Während die letzten Monate und Wochen der DDR ablaufen, scheint das Verhältnis der Jutta van Almsick zum MfS immer enger zu werden. Sie berichtet darüber, wie der Honecker-Nachfolger Krenz im Bekanntenkreis ankommt. Sie nimmt im MfS-Auftrag an der Demonstration der Künstler am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz teil, notiert sich für den Führungsoffizier penibel die von ihr beobachteten Losungen - nebst aufgeschnappten Bemerkungen ihrer teilnehmenden Bekannten.

Das letzte schriftlich dokumentierte Treffen am 24. November 1989 in ihrer eigenen Wohnung ("Konspiration und Geheimhaltung konnten gesichert werden") findet gar erst nach der offiziellen Auflösung des MfS statt. Ministerpräsident Modrow hatte bereits die Bildung eines geläuterten »Amtes für Nationale Sicherheit« ausgerufen, das ohne Bürgerspitzeleien arbeiten sollte.

Es sind schon fast drei Wochen seit der Maueröffnung vergangen, da denunziert Jutta van Almsick noch namentlich Bekannte, die »die DDR verlassen haben«. Sie berichtet über das »erniedrigende Verhalten von Bürgern der DDR beim Einkauf« in West-Berlin.

Und schließlich plant sie, geradezu eine Rarität in den abertausend Stasi-Akten, sogar noch ihre weitere Zusammenarbeit mit dem MfS.

Für 1990 wird »ihre zukünftige Auftragsstruktur besprochen«. Angesichts ihrer vielen persönlichen Bekanntschaften sollte »Renate« *___Aufweichungs- und Zersetzungserscheinungen erkunden; *___über Verratshandlungen und Fahnenfluchten berichten; *___Hemmnisse im Zusammenhang mit der Umgestaltung im ____Sportverein Dynamo benennen; *___zwischen »Andersdenkenden und Feinden der ____sozialistischen Gesellschaftsformation« differenzieren; *___eine aktive Mitarbeit in den sich möglicherweise ____herausbildenden Gruppen und Vereinigungen im Wohn- und ____Freizeitbereich anstreben.

Jutta van Almsick, lautet der letzte Vermerk in der Akte XV 1477/81, »erklärte sich uneingeschränkt zur weiteren inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS bereit«. Y

* Vater Bernd, Tochter Franziska, Sohn Sebastian, Mutter Jutta imWohnzimmer.

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