Galt einst das Altbewährte als Standard, an dem sich jede Neuerung messen lassen musste, so muss sich heute das Alte bewähren. Woke agieren mit einer Deutungshoheit, die historische Ereignisse je nach eigener Interessenlage umdeutet.
In seinem Buch «Von der Idee, konservativ zu sein» schreibt der britische Philosoph Roger Scruton über Traditionen: Sie enthielten «die Überbleibsel von vielen Versuchen und Irrtümern [. . .]. Sie sind erhalten geblieben, weil sie die notwendigen Informationen liefern, ohne die die Gesellschaft sich nicht reproduzieren kann.» Würden Traditionen achtlos vernichtet, dann schwänden auch die Garantien, die jede Generation der nächsten bietet. Bei Traditionen handelt es sich also nicht um «willkürliche Regeln und Konventionen», sondern um «Antworten auf bleibende Fragen». Diese ergeben sich aus der Conditio humana: Wie gehen wir mit unserer Endlichkeit um? Wie wollen wir leben? Wie sterben? Wie organisieren wir uns als Gemeinschaft? Wie geben wir Leben weiter? Die Antworten auf diese Fragen änderten sich im Laufe der Jahrhunderte, auch infolge neuer technischer Errungenschaften, wissenschaftlicher Erkenntnisse und moralischer Normen.
Der Wettbewerb der Antworten auf die bleibenden Fragen war schon immer verwoben mit politischen Kämpfen. Politik ist stets auch ein Ringen um den richtigen Umgang mit der Conditio humana. So strebte der Kommunismus eine Umverteilung der natürlich begrenzten Ressourcen an. Die ökologische Politik zielt auf eine nachhaltige Nutzung dieser Ressourcen ab. Der christliche Konservatismus erklärte die Bewahrung einer göttlichen Schöpfung zum politischen Leitprinzip. Selbstverständlich waren diese wie alle politischen Strömungen nie reine Antworten auf bleibende Fragen, sondern dienten immer auch als Vehikel für Machtkämpfe, für wirtschaftliche Interessen, für kulturelle, gesellschaftliche oder persönliche Konflikte. Doch was die einflussreichen politischen Strömungen der vergangenen Jahrhunderte vereinte, ist, dass sie die bleibenden Fragen anerkannten.
Die Denkschule der Wokeness ringt nicht um Antworten, sondern verleugnet einfach die Fragen. Indem sie die natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens als soziale Konstrukte ausgibt, als ein Produkt der kollektiven Phantasie, entkräftet sie nicht nur unsere gegenwärtige Wahrnehmung, sondern auch jene früherer Generationen. Wenn über Jahrhunderte hinweg scheinbar die falschen Fragen gestellt wurden, dann müssen auch alle bislang gegebenen Antworten falsch sein. Die Logik der Wokeness entzieht somit nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch allen historischen Handlungen und Entscheidungen die rationale Grundlage. Zwangslagen und Dilemmata vergangener Zeiten erscheinen auf einmal, als könnten sie durch die Erkenntnis, dass alles sozial konstruiert ist, schnell aufgelöst werden. Die Idee der sozialen Konstruktion führt zu unbegrenzter Deutungshoheit. Sie ermöglicht es, historische Ereignisse je nach eigener Interessenlage umzudeuten.
Der französische Philosoph Michel Foucault kritisierte eine solche «überhistorische Perspektive». Er stellte sich gegen eine «Historie, die sich die Aufgabe stellt, in einer in sich abgeschlossenen Totalität die bereits reduzierte Vielfalt einer Zeit zu sammeln; [. . .] eine Historie, die alles Vergangene vom Ende der Welt her betrachtet». Die woke Generation Krokodilstränen aber blickt in die Geschichtsbücher auf der Suche nach ebendieser Totalität, um ambivalente historische Persönlichkeiten, deren Ansichten sich nicht mit allen heute geltenden Wertvorstellungen in Einklang bringen lassen, vom Sockel zu stürzen.
Die Wokeness ist im Kern ein radikal antikonservatives Projekt: Indem die Conditio humana und die aus ihr resultierenden Fragen verleugnet werden, verlieren sämtliche Traditionen ihre Legitimation. Sie werden nicht länger als bestmögliche Lösungen eines Problems angesehen, die aus einem langen Prozess gesellschaftlicher Aushandlung resultieren, sondern als Produkte einer fehlgeleiteten Wahrnehmung.
Daraus resultiert eine Umkehr der Beweislast: Galt einst das Altbewährte als Standard, an dem sich jede Neuerung messen lassen musste, so muss sich heute das Alte bewähren, während das Neue seine Legitimation allein aus seiner Neuartigkeit bezieht. Damit aber wird nicht nur die Tradition, sondern auch ihr Prozess der Aushandlung und Optimierung über Bord geworfen. Das Regime der bedingungslosen Progressivität ist darum nicht demokratischer als das Regime der Tradition, sondern setzt Relativismus und Anarchie an die Stelle vernunftbasierter gemeinsamer Lösungen.
Wer Traditionen achtlos vernichte, so schreibt Roger Scruton, der könne den nachfolgenden Generationen keine Garantien mehr bieten: Die «Formen des Wissens», die in den Traditionen enthalten waren, gehen verloren. Jeder einzelne der postmodernen Theoriezweige verfolgt eigene diskursive Ziele und vernichtet dabei unterschiedliche Formen von Wissen. Dadurch entstehen Machtvakuen. Dies wird derzeit zum Beispiel sichtbar an Universitäten in Europa und den USA, wo jüdische Studenten nicht vor antisemitischen Mobs auf dem Campus geschützt werden.
Die Bedrohung jüdischer Studenten ist die Folge einer systematischen Umdeutungsarbeit durch die postkolonialen Studien. Die Vorherrschaft des Westens wird von den Postkolonialisten kritisiert, weil sie historisch im Imperialismus und damit in der Unterwerfung anderer Staaten wurzele. Der intellektuelle westliche Mainstream – stets zu Selbstkritik bereit – übernahm diese Sichtweise und schwächte sich selbst, indem er seine eigene Macht untergrub. Gleichzeitig aber bietet der Postkolonialismus keine alternativen Konzepte, wie geopolitische Macht sinnvollerweise legitimiert werden könnte, sondern beschränkt sich auf die Idealisierung der ehemals Unterdrückten.
Dieses Weltbild verbreitete sich über den akademischen Bereich hinaus und prägt heute die Geopolitik. Die «Zeit» beschrieb das Dilemma im Oktober 2023 wie folgt: Die Kriege in Israel und der Ukraine seien Teil eines globalen geopolitischen Wandels. Oft sei von einer «multipolaren Welt» die Rede, in der es keine Blöcke mehr gebe, keine westliche Vorherrschaft und keinen amerikanischen «Weltpolizisten». Viele Mächte sähen sich ermutigt, ihre Interessen durchzusetzen, wie es früher nur die Grossen konnten. Das sei nicht per se schlecht: «Von der Multipolarität erhoffen sich viele Länder des sogenannten Globalen Südens eine gerechtere globale Machtverteilung.» Aber nun zeige sich, dass durch diesen Wandel auch die Risikobereitschaft radikaler Akteure wie Russland und Iran (der die Hamas unterstützt) steige.
Der Konservative würde entgegnen: Wandel, der keine besseren Ergebnisse vorweisen kann, ist per se schlecht. Weil konservatives Denken jedoch verpönt ist, wird jeder Entmachtung, jedem Wandel erst einmal eine positive Wirkung unterstellt, anstatt das Risikopotenzial einer zerbrechenden Weltordnung zu benennen und die eigene Vorherrschaft abzusichern. Der Westen fällt dieser Tage angesichts der zahlreichen geopolitischen Rivalen, die mit ihren Muskeln spielen, ohne sich dabei vor toxischer Männlichkeit zu fürchten, aus allen Wolken: Glücklicherweise entdeckt er im Vorratsschuppen doch noch einige Atombomben. Der Rest an Macht, den er noch besitzt, basiert eben doch auf Stärke.
Die Anhänger der Wokeness bewerten die Welt allein nach metaphysischen Kriterien. Der Westen ersetzte seine Vorherrschaft durch metaphysische Selbstgeisselung. Er liess zu, dass die Idee der Aufklärung als reines Instrument weisser Dominanz uminterpretiert werden konnte. Er akzeptierte, dass der Orient zu einem sozialen Konstrukt des Westens deklariert wurde, ohne gleichzeitig die Werte der Aufklärung zu schützen und Israel vor Angriffen anderer Nahoststaaten zu bewahren. Das Vakuum, das der Westen auf physischer Ebene hinterliess, füllten andere.
Höhnisch twitterte Mahvish Ahmad, Assistenzprofessorin für Menschenrechte und Politik an der London School of Economics, nach dem Massaker der Hamas: «Dekolonisierung ist keine Metapher.» Die Erschütterung des Westens aber geht noch tiefer: Er muss erkennen, dass die Welt keine Metapher ist. Wenn die gewachsenen Traditionen des Westens, in denen Aufklärung und Vernunft, demokratische Mitbestimmung und Freiheit verankert sind, achtlos verworfen werden, tritt das Recht des Stärkeren an ihre Stelle.
Gerade indem die Verfechter der Wokeness alles Konservative zurückweisen, alle ausgehandelten Normen ablehnen, offenbaren sie sich als reaktionär: Sie untergraben die Spielregeln des Westens und höhlen seine Werte aus, ohne ihnen ein schlüssiges Konzept entgegenzuhalten. Wo immer sich der Westen aus der physischen Welt zurückzieht, macht er Barbaren Platz.
Pauline Voss ist Journalistin und freie Autorin. Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus ihrem gerade erschienenen Buch: «Generation Krokodilstränen – Über die Machttechniken der Wokeness». Europa-Verlag, München 2024, 240 S., Fr. 29.90.
Wokeness mit allen Erscheinungen ist nichts anderes als eine Form von neuer Ideologie und tappt - gepaart mit Ignoranz - in die gleichen historischen Fallen wie andere auch. Ignoranz und einseitige Ideologie oder Weltanschauung gehen oft Hand in Hand. Ein Blick in die Gegenwart genügt. - Langsam reift die Erkenntnis, dass Ideologie - ich wiederhole es gerne - gleich welcher Couleur, klares Denken verhindert und leicht zu falschen Schlüssen, Fehleinschätzungen und Strategien führt. Gepaart mit Ignoranz und mangelnder Lernfähigkeit - oder ohne unvoreingenommene Aufarbeitung und kritische Interpretation der Geschichte, mit Verdrängung, Ausblendung oder falschen Fakten - wahrscheinlich mit neuen fatalen Folgen. Jedenfalls früher oder später meist mit einem hohen Preis.
Für mich ist Wokeness eigentlich das Vollbild des Nirvana. Aber nicht des Göttlichen Nirvana des Buddhismus, sondern ein Nirvana des Nihilismus satanischer Formatierung, wo kein Mensch hin möchte.