Wenn die Comics Geschichte zeigen

Wenn in Comics früher historische Stoffe aufgegriffen wurden, hatte man es mit Lehrmitteln zu tun. Oder die Geschichte war Kulisse. Drei neue Graphic Novels über Unruheherde des 20. Jahrhunderts zeugen von neuen Möglichkeiten.

Christian Gasser
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Jason Lutes zeigt Berlin kurz vor Hitlers Machtergreifung. (Bild: PD)

Jason Lutes zeigt Berlin kurz vor Hitlers Machtergreifung. (Bild: PD)

Sowie Marthe Müller in Berlin aussteigt, wird sie von einem Schwindelgefühl überwältigt. Die schiere Grösse der Stadt, die Dichte, die Hektik, der Lärm und der Dreck – verglichen mit Berlin fühlt sich ihre Heimatstadt Köln an wie ein Dorf. Die junge Frau ist aus dem Kokon ihrer Familie ausgebrochen, um Kunst zu studieren. Im September 1928 stürzt sie sich nun in das Leben der Metropole. Auf den Strassen rüsten sich hier extremistische Gruppierungen und Parteien zum Kampf um die Macht. Die Weimarer Republik nämlich schwächelt, Politik und Wirtschaft haben keine Antworten mehr auf die drängenden Fragen der Zeit. – Das ist die Kulisse von Jason Lutes’ «Berlin», einer 700 Seiten starken Graphic Novel über das Deutschland kurz vor Hitlers Machtergreifung.

Eine leidvolle Beziehung

Comic und Geschichte – das war lange eine leidvolle Beziehung. Obschon dem Comic einst der Ruch der Verdummung anhaftete, schien er paradoxerweise gut genug, um Kindern einen Zugang zu Literatur und Historie zu bieten – in Form illustrierter Klassiker oder Geschichtslektionen. Die pädagogischen Bildergeschichten aber waren meist trocken und ihre anbiedernd belehrende Absicht zu evident. Erst die Emanzipation des Comics zu einer Ausdrucksform, in der neben Genre- auch Autorengeschichten möglich waren, führte zu ernsthaften Auseinandersetzungen mit historischen Stoffen. Als Comicautoren wie Art Spiegelman («Maus») und Jacques Tardi («Grabenkrieg») aus persönlicher Motivation heraus begannen, die Vergangenheit aufzugreifen, fand sich Geschichte nicht mehr länger nur in Lehrmitteln.

Auch Pascal Rabatés «Der Schwindler», die Adaption eines 1924 erschienenen Romans von Alexei Tolstoi, einem entfernten Nachfahren des grossen Lew Tolstoi, beschreibt eine Welt am Abgrund. Im Februar 1917 taumelt die russische Armee in eine historische Niederlage. Darüber kann Semjon Iwanowitsch Newsorow in den Cafés von Petersburg nur schmunzeln. Denn ihm hat eine Zigeunerin geweissagt, er, der biedere Büroangestellte, werde in Krieg und Chaos zu Reichtum kommen. Während die russischen Bauern und Arbeiter als Kanonenfutter an die Front geschickt werden und nach ihrer Rückkehr auf die Barrikaden steigen, nutzt Newsorow die Gunst des Tumults. Er kommt tatsächlich glückhaft zu Geld und erfindet sich neu als Lebemann und Aristokrat.

«Berlin» und «Der Schwindler» vermitteln beide historische Momente in Zeiten der Unruhe. Jason Lutes und Pascal Rabaté bedienen sich dabei jedoch sehr unterschiedlicher grafischer und erzählerischer Mittel. Lutes begnügt sich nicht mit der Perspektive der Kunststudentin Marthe Müller. Vielmehr entwirft er ein komplexes, in alle gesellschaftliche Schichten greifendes Panorama Berlins. In diesem vielstimmigen Epos treffen wir Proleten, Arbeitslose, Bonzen und Beamte, Kommunisten und Nationalsozialisten, Juden, schwarze Jazzmusiker und nicht zuletzt auch den Journalisten Kurt Severing, der an seiner Heimat zunehmend verzweifelt. Jede Gesellschaftsschicht erhält eine Stimme, die Lutes in einem dissonanten Chor zusammenbringt, der die dräuende Katastrophe erahnen lässt.

Ein Kaleidoskop

Wer Panorama sagt, sagt auch Distanz. Diesen Eindruck verstärken Lutes’ sauberer Ligne-Claire-Stil und kleinformatige Panels, die Emotionen nur wenig Raum gewähren. So ist man als Leser ein Beobachter, der schauen muss, dass er in diesem Kaleidoskop sich kreuzender, verknüpfender und wieder auflösender Lebensgeschichten die Übersicht nicht verliert.

Ganz anders «Der Schwindler»: Pascal Rabaté schildert die Verwerfungen der russischen Revolution alleine aus dem Blickwinkel Newsorows, eines zynischen Glücksspielers, Zuhälters, Rauschgifthändlers, Betrügers, zaristischen Spitzels und Hochstaplers, der sich als Aristokrat ausgibt. So gehört er zur Sorte von Schmarotzern, auf die es die Bolschewiken als Erstes abgesehen haben. Doch der schlaue Revolutionsabenteurer schafft es immer wieder, durch die Maschen des bolschewistischen Verfolgernetzes zu schlüpfen.

Pascal Rabatés Comic über die russische Revolution lebt vom Schwung des Pinselstrichs. (Bild: PD)

Pascal Rabatés Comic über die russische Revolution lebt vom Schwung des Pinselstrichs. (Bild: PD)

Der ambivalente Protagonist hält uns zwar auf Distanz; doch das rasante Auf und Ab seines Lebens, seine Höhenflüge, Umwege und Abstürze ziehen uns tief in die Wirren und Verunsicherungen jener Jahre. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der zeichnerischen Umsetzung: Die mit schwarz-grau-weissen Acrylfarben gemalten Bilder leben vom Schwung des Pinselstrichs, die Perspektiven sind verzerrt, die Fluchtlinien in ständiger Bewegung, und die Figuren teils stilisiert, teils karikiert, immer aber überaus lebendig und glaubwürdig.

Um was es in der russischen Revolution eigentlich ging – ihre Ideologie und Ziele, ihre Ursachen und Folgen –, das streift Rabaté nur beiläufig, und doch hat man nicht den Eindruck, weniger über die Zeit zu erfahren als in Lutes’ «Berlin». «Berlin» ist eine Freske, «Der Schwindler» ein Schelmenroman. Die eine Graphic Novel ist analytisch, dokumentarisch, historisch akkurat; sie fasst die politischen und künstlerischen Diskurse zusammen. Die andere ist emotional, atmosphärisch, karikaturistisch und komisch; die Fabulierlust geht über den Anspruch auf historische Detailtreue hinaus. Beide Werke sind jedoch aussergewöhnlich, sie stehen für die enorme Bandbreite, in der sich der Comic unterdessen zur Verarbeitung und Vermittlung geschichtlicher Stoffe empfiehlt.

Fakten als Kulisse

Auch Comic-Serien entfalten sich bisweilen in historischen Kulissen. So bilden zeitgeschichtliche Konflikte den Hintergrund etlicher Abenteuer von «Tim und Struppi». Und «Jonathan», die Figur des Schweizer Autors Cosey, treibt sich seit vierzig Jahren im spannungsvollen Grenzgebiet zwischen China, Tibet, Nepal und Indien herum. Unabhängig aber davon, wie seriös Hergé und Cosey recherchiert haben, scheint die Serialität der Glaubwürdigkeit abträglich. Der Serienheld, der zufällig stets in Konfliktherden auftaucht, um am Schluss für alles eine Lösung zu finden, widerspricht dem Sinn für Authentizität und eignet sich deshalb gewöhnlich nicht für die glaubwürdige Auseinandersetzung mit historischen Themen.

Umso verblüffender, was Emile Bravo in dem auf vier Bände angelegten «Spirou oder: Die Hoffnung» anhand der klassischen belgischen Figur Spirou differenziert aufzuarbeiten vermag: das Verhalten der belgischen Bevölkerung vor und während der deutschen Besatzung. Dabei macht Bravo aus dem jungen Hotelpagen Spirou einen reichlich naiven, von den Ereignissen völlig überforderten Antihelden.

Spirou: ein von den historischen Ereignissen überforderter Antiheld. (Bild PD)

Spirou: ein von den historischen Ereignissen überforderter Antiheld. (Bild PD)

Die grossen politischen Zusammenhänge durchschaut Bravos Spirou in keinem Moment, und nie käme es ihm in den Sinn, Widerstand zu leisten. Er funktioniert nur im Kleinen und bemüht sich mit der ihm eigenen Herzensgüte, das Beste aus verfahrenen Alltagssituationen zu machen. Während Spirou nicht imstande ist, das eigene Leben im Lichte der politischen Grosswetterlage zu begreifen, vermag es hingegen Bravo, die Zusammenhänge sichtbar zu machen, indem er den prismatischen Blick seines Antihelden geschickt nutzt, um ein vielschichtiges und auch kritisches Bild des von den Deutschen besetzten Belgien zu zeichnen.

Jason Lutes: Berlin (Gesamtausgabe, 700 Seiten, Carlsen-Verlag). – Pascal Rabaté: Der Schwindler (544 Seiten, Schreiber-und-Leser-Verlag). – Emile Bravo: Spirou oder: die Hoffnung, Band 1 (96 Seiten, Carlsen Verlag).

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