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Schwere Vorwürfe gegen frühere Hospiz-Leiterin

Wangen / Lesedauer: 12 min

Schwere Vorwürfe gegen frühere Hospiz-Leiterin
Veröffentlicht:11.10.2016, 19:13

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Am Engelberg . Die Adresse des Wangener Hospizes könnte für eine Einrichtung wie diese passender nicht sein. Und engelsgleich war in den ersten Jahren der Ruf der Einrichtung, die Sterbenskranke in ihrem allerletzten Lebensabschnitt begleitet. Spätestens seit 2014 veränderte sich das Bild zusehends. Behörden fühlten dem Hospiz auf den Zahn, die Staatsanwaltschaft ermittelte, und mit dem eigenen Hospizverband kam es zum offenen Bruch. Zuletzt spitzte sich die Lage dramatisch zu: Mitarbeiterinnen kündigten oder ließen sich krankschreiben. Seit zwei Wochen ist das Hospiz deshalb vorübergehend geschlossen. Dahinter stecken massive Vorwürfe gegen Annegret Kneer . Sie hat das Hospiz maßgeblich mit aufgebaut und war von der Eröffnung des Hospizes am 13. Oktober 2007 bis vor knapp zwei Wochen dessen Leiterin. Trotz angekündigten Rückzugs ist sie nach wie vor Vorsitzende des maßgeblichen Trägers, des Hospizvereins Calendula.

„Es ist die Not der Menschen“, erklärte Annegret Kneer immer wieder. Die Not der Menschen, die sie einst antrieb, das stationäre Hospiz im fünften Stock des Wangener Krankenhauses aufzubauen. Diese Not der Menschen war es, die sie quasi Tag und Nacht dort arbeiten ließ, wie sie stets betonte. Auch am Heiligen Abend. Und es soll die Not der Menschen gewesen sein, die Kneer dazu veranlasste, die Türen des Hospizes für neue Gäste zu öffnen – selbst wenn die neun Betten komplett belegt waren.

Folgen werden erst jetzt sichtbar

An dieser Stelle bekam Kneers Ruf einen Knacks: Im Jahr 2014 intervenierte die Heimaufsicht. Sie bemängelte die Überbelegung und vor allem, dass Sterbende in Doppelzimmern lagen, wo doch Einzelzimmer Vorschrift sind. Nicht immer, aber im Regelfall sei das so gewesen, sagt Michael Föll, Leiter des Gesundheitsamts des Landkreises Ravensburg und damit der Heimaufsicht. In der Spitze bis zu 17 Menschen hätte Kneer gleichzeitig untergebracht – und zwar im September 2013. Mit den Kassen waren aber eigentlich nur neun Betten ausgemacht. Und darauf beruhte auch der Personalschlüssel.

Welche Folgen das hatte, wird erst aktuell offenbar. Jetzt, da sich Mitarbeiter öffnen, nachdem sie sich von ihrer ehemaligen Chefin abgewendet haben. Sie sagen: Hospizgäste wurden wegen des Platzmangels auch im für alle zugänglichen Wohnzimmer einquartiert oder im Sakralraum untergebracht. Selbst ihren Pausenraum mussten die Pflegerinnen demnach mitunter räumen, um sich dort um Sterbende zu kümmern. Annegret Kneer widersprach am Dienstag: „Wir hatten immer eine gute Sterbe- und Abschiedskultur.“

Lagerten Leichen im Bad?

„Das war kein hospizliches Arbeiten mehr“, sagt hingegen eine Frau, die viele Jahre im Hospiz gearbeitet und ihre Sicht der Zustände schriftlich dokumentiert hat. Mehr noch: In den Doppelzimmern seien mitunter Verstorbene versorgt worden, während direkt nebenan ein lebender Gast lag. Selbst im Bad lagerten Leichen nach ihrer Schilderung zwischen. Damit Angehörige anderer Hospiz-Gäste ja nichts mitbekämen, wie sie sagt. Frühere Kolleginnen bestätigen die Aussagen in Gesprächen mit der „Schwäbischen Zeitung“. Annegret Kneer verwies dagegen immer auf die Menschen: „Wir nehmen hier nur die größte Not. Soll ich jemanden an der Tür abweisen?“ Täte sie dies, mache sie sich doch wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar, erklärte Kneer 2014 dazu.

Doch wie groß war die Not wirklich? Unbestritten ist: Hospize werden mehr gebraucht denn je. In den Nachbarstädten Wangens entstanden oder entstehen gerade neue. Laut früheren Mitarbeiterinnen wurden am Engelberg aber auch Gäste aufgenommen, die „gar nicht hospizpflichtig waren“. Laut Definition ist „hospizpflichtig“, wer sterbenskrank ist und daheim nicht entsprechend versorgt werden kann. In den Hospizen Baden-Württembergs beträgt die Verweildauer Sterbender nach Verbandsangaben im Durchschnitt 18Tage, bei einer Bandbreite von einem einem Tag bis zu mehreren Monaten. Im Wangener Hospiz dagegen wurden laut Heimaufsicht Menschen manchmal „über viele Monate“ untergebracht. In einem Fall habe gar keine Erkrankung vorgelegen. Ein Mensch lebte laut Statistik der Behörde gar 899 Tage am Engelberg.

Zweifel verdichten sich

Und: Die Leiterin soll von sich aus aktiv neue Gäste „angeworben“ haben. Etwa aus dem Wangener Krankenhaus der Oberschwabenklinik (OSK), in dessen fünftem Obergeschoss das Hospiz beheimatet ist. Die OSK bestätigt zumindest aus „jüngerer Zeit“ einen Fall, der diesen Rückschluss zulasse, wie ein Sprecher erklärt. Nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“ sollen Angehörige eines „nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten“ des Krankenhauses „massiv beeinflusst“ worden sein, diesen ins Hospiz zu verlegen. Zudem muss man es am Hospiz mitunter eilig gehabt haben. Offenbar vor allem dann, wenn ein Gast verstorben war. „Das Bett war noch nicht mal kalt“, sagt eine der Mitarbeiterinnen. Und schon sei es wieder belegt worden. Annegret Kneer bestritt dies am Dienstag: „Bei uns konnte sich jeder Angehörige würdevoll verabschieden. “

2014 akzeptierte Kneer wegen der Überbelegung eine Geldbuße von 2000 Euro. Eine Solidaritätswelle rollte an. Eine Demonstration auf dem Wangener Marktplatz gab es, und in der Folge spendeten viele – oft waren es genau jene 2000 Euro, die Kneer damals an das Landratsamt Ravensburg überweisen musste.

Heute verdichten sich bei vielen Zweifel. Zweifel, was „dort oben“ – wie man in Wangen sagt – alles schiefgelaufen sein könnte. Fakt ist: Wer nachhakte, stieß jahrelang auf eine Wand des Schweigens. Die von Kneer gemalte Fassade ließ eine aufopferungsvolle, fürsorgliche, liebevolle Rund-um-die-Uhr-Betreuung Sterbender erscheinen. Mit ihr als führendem Kopf, die für ihren Einsatz 2011 sogar das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhielt. Überreicht von Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Warum öffnen sich Mitarbeiter erst jetzt?

Jetzt scheint diese Fassade zerstört. Die bisherigen Mitarbeiterinnen erklären zum Beispiel auch, dass im Hospiz abgelaufene Medikamente verabreicht, Spritzen ungekühlt gelagert und die Arzneivergabe schlecht oder überhaupt nicht dokumentiert wurden. Dazu sagte Annegret Kneer am Dienstag: „Jeder Gast bekam stets das für ihn richtige und wirksame Medikament.“ Dies bezieht sie ausdrücklich auf die Haltbarkeit und die Wirksamkeit. Ferner bezichtigen Mitarbeiterinnen die Leiterin der Verletzung der Fürsorgepflicht, weil sie ihnen multiresistente Keime von Gästen verschwiegen und diese auch noch in Doppelzimmer gesteckt habe. Dem Team habe Kneer untersagt, Mundschutz, Handschuhe oder Ähnliches zu tragen: „Sie hat das für unnötig befunden“, sagte eine langjährige Mitarbeiterin.

Doch warum öffnen sich die Mitarbeiter erst jetzt? „Wir haben das so lange mitgemacht. Wir waren blind“, sagt eine Frau, die ebenfalls viele Jahre am Hospiz gearbeitet hat. Annegret Kneer könne Menschen „instrumentalisieren“. „Wir hatten Angst vor Repressalien“, ergänzt eine andere. Denn die Leiterin habe es nicht nur verstanden, Menschen für sich einzunehmen, sondern diese auch gegeneinander auszuspielen. In vertraulichen Gesprächen habe sie über jeweilige Kolleginnen schlecht geredet. Auch über Privates. Als „Klima der Angst“ bezeichnen die Mitarbeiterinnen die Atmosphäre, die sie schweigen ließ – auch untereinander. Da war das Misstrauen gegenüber der Chefin offensichtlich bereits vorhanden. Eine Pflegekraft berichtet, sie habe stets sämtliche Infusionen der Gäste kontrolliert, wenn Annegret Kneer durch die Zimmer gegangen war. Zum einen, weil sie den Eindruck hatte, die Medizinerin gebe diese „über Schuss“, also zu viel. „Das ist nicht ganz ungefährlich, weil das Herz geschwächt wird.“ Zum anderen, weil sie ihr misstraute. Denn nach ihrer Schilderung sei Kneer in der Lage gewesen, Mitarbeitern Pflegefehler „in die Schuhe zu schieben“, die diese gar nicht begangen hätten. Sie habe dies selbst erfahren müssen.

Ermittlungen eingestellt

Folgt man den Hospiz-Beschäftigten, begann es zum Jahreswechsel 2016 richtig zu kriseln. Auf eine Anzeige des Hospizverbands hatte die Staatsanwaltschaft Ravensburg Ermittlungen aufgenommen. Vor allem Körperverletzung, aber auch Freiheitsberaubung stand im Raum, wegen der „Art und Weise der palliativ-pflegerischen Versorgung sowie der palliativ-medizinischen Behandlungen“, wie sich die Behörde damals ausdrückte. Die Verunsicherung führte zu sieben Kündigungen. In diesem Zuge hätten sie untereinander begonnen zu reden, erklären sie.

Die Ermittlungen indes wurden eingestellt. Die Vorwürfe waren nicht zu beweisen. Dafür veröffentlichte die Staatsanwaltschaft seinerzeit eine Einschätzung über Annegret Kneer. Da stand drin, „dass die Ermittlungen von der Beschuldigten das Bild einer Frau ergeben haben, die es verstanden hat, mit ihrer selbstherrlichen, hemdsärmeligen Art der Führung des Hospizes und mit ihrem unsensiblen, ruppigen Umgang, insbesondere mit Angehörigen und Bediensteten, auch Menschen und Institutionen, die ihr ursprünglich positiv gegenüberstanden, gegen sich aufzubringen“. Dies habe das „Bild der Ermittlungen“ ergeben, gestützt auf die Aussagen von Mitarbeitern, aber auch Angehörigen im Hospiz Verstorbener.

Viele Menschen wendeten sich ab

Wer die Chefin auf Missstände ansprach, wurde harsch abgewiesen. So schildern es Mitarbeiter heute und sprechen von „krassem Mobbing“. Das bezog sich auf die Überbelegung, auf die Medikamentenlagerung, aber auch auf den ihrer Schilderung nach teils schlechten Umgang mit Gästen und Angehörigen. Letzteres widerspricht indes dem, was Angehörige oft als Reaktion auf Berichte zu den Vorkommnissen am Hospiz erklären: Sie loben die liebevolle Art im fünften Stock, die herausragende Pflege und die Atmosphäre. „Frau Kneer hatte ihre VIP-Patienten“, antwortet die Pflegekraft dazu. „Wenn sie sich von ihnen etwas versprach.“ Etwa ein gutes Bild in der Öffentlichkeit.

Das hatte die Hospizgründerin lange – und sie hat es in den Köpfen vieler nach wie vor. Gleichwohl ist deutlich, dass zahlreiche Menschen sich mit der Zeit von ihr abgewendet haben, vor allem wenn sie mit ihr arbeiteten. So gab es in der Geschäftsführung in den vergangenen Jahren einen regen Wechsel wegen ihr. Das gilt für den einstigen Vertreter des Minderheitsgesellschafters, die Stadt Wangen über ihre Hospitalstiftung, Stefan Bär, den früheren Leutkircher Bürgermeister Kurt Lillich wie auch für den erst Ende September aus dem Amt geschiedenen Günter Bestfleisch, bei der Landkreis-Immobilientochter IKP einst für den Hospiz-Aufbau mitverantwortlich.

Eine „Überbelegungsmaschine“

In dieser Funktion verblieben ist Friedemann Weindel, bis 2004 Kißlegger Bürgermeister. Einst hielt er Annegret Kneer die Stange. Spätestens seit sich die Mitarbeiter auch ihm geöffnet hatten, kann er sich eine Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr vorstellen. Zu jenen, die mit Kneer gebrochen haben, gehört auch Friedemann Scheiffele. Drei Jahre lang war er Kassierer in Kneers Basis, dem rund 1300 Mitglieder starken Hospizverein Calendula . Mitte Juli trat er zurück, auch nachdem die Justiz (im September eingestellte) Vorermittlungen gegen Annegret Kneer wegen des Finanzgebahrens eingeleitet hatte. Scheiffele sagt: „Das Hospiz hat sich zu einer Überbelegungsmaschine entwickelt.“ Zu den Finanzen: Aus seiner Sicht müssten die Spenden auf dem Konto der Hospiz gGmbH, wo die eigentliche Arbeit geleistet werde, verbucht werden, und nicht auf dem des Trägervereins. Denn auf der Bestätigung der Calendula-Hospizgruppe stehe: „Es wird bestätigt, das die Zuwendung nur zur Förderung der Betreuung von Sterbenden verwendet wird.“ Die Angehörigen spendeten also in dem Glauben, dass ihr Beitrag allein dem Hospiz und seinen Gästen zugute kommt.

Die Finanzen des Hospizvereins Calendula waren bis dato ein gut gehütetes Geheimnis. Mehrere Quellen berichten jetzt der „Schwäbischen Zeitung“, dass er ein Vermögen von rund 1,5 Millionen Euro hat. Geld spielt auch eine Rolle, wenn es um Mutmaßungen geht, warum das Hospiz – es ist als gemeinnützige GmbH eingetragen – immer wieder überbelegt war. Laut Hospiz- und Palliativverband reicht eine Belegung von 80 Prozent der Betten, um wirtschaften zu können. Diese Marke sei bewusst gewählt worden, um den Einrichtungen im Land Druck zu nehmen. „Es gibt keinen Grund, doppelt zu belegen“, sagt Vorsitzende Susanne Kränzle. Im Wangener Hospiz hingegen lag die Auslastung im Schnitt bei 104 Prozent, besagt die Statistik der Heimaufsicht.

Auffällige Zahlen

Eine bisherige Hospiz-Mitarbeiterin hat in Gesprächen mit der „Schwäbischen Zeitung“ gesagt, dass es am Wangener Hospiz in der Vergangenheit an Wochenenden höhere Sterberaten gegeben haben soll als unter der Woche.

Recherche-Ergebnisse bestätigen: Nach Informationen aus Behördenkreisen gibt es eine Statistik dazu. Sie besagt, dass in den Jahren 2012, 2013 und 2014 an Samstagen 64 Menschen am Engelberg starben. An Sonntagen waren es demnach 56 Personen. Montags und dienstags waren es jeweils 40Menschen, mittwochs und donnerstags je 37, freitags 45. Der Hospiz- und Palliativerband Baden-Württemberg hatte daraufhin Vergleichsdaten bei zwei anderen Hospizen erhoben: „Bei beiden gab es eine völlig gleichmäßige Verteilung der Sterbefälle über alle Wochentage hinweg“, sagt Vorsitzende Susanne Kränzle auf Anfrage. Bei der Ursachenforschung kamen die Behörden nicht weiter. Auch Annegret Kneer erklärte sich nicht.

Schwierige Recherchen

Allerdings hatte das Hospiz an Wochenenden zeitweise mehr Betten zur Verfügung – und zwar in der benachbarten, an Wochenenden nicht belegten Augenstation der Oberschwabenklinik (OSK). Nach Schließung des Krankenhauses in Leutkirch zum 1. Juli 2013 waren Büros zu Patientenzimmern umgebaut worden. Ende März 2014 gab es laut OSK eine Übereinkunft zwischen Hospiz und Wangener Krankenhaus. Sie sah einen „Raum als Puffer“ vor. Basis war laut OSK eine „innerbetriebliche Nachbarschaftshilfe ohne Wissen der Geschäftsleitung“. Auf Nachfrage, wie viele Hospiz-Gäste Wochenenden in der Augenklinik verbrachten, sagte ein Sprecher: „Ob noch mehr Zimmer in Anspruch genommen wurden, wissen wir nicht.“

Nachdem vor zweieinhalb Wochen bekannt geworden war, dass das Wangener Hospiz vorübergehend schließt, hat die „Schwäbische Zeitung“ in sehr schwierigen Recherchen („Klima der Angst“) lange Gespräche mit vielen Kontaktpersonen aus dem Inneren und dem Umfeld der Einrichtung gesprochen. Außerdem wurden Behörden und andere Institutionen sowie Politiker befragt – und selbstverständlich Annegret Kneer selbst. Das Ziel war, in der heutigen Ausgabe ein möglichst umfassendes Bild von den Entwicklungen der vergangenen Jahren am Hospiz zu bieten. (sz)