"Generation beleidigt": Die Auswüchse der linken Sprachpolizei

Alexander Jungkunz

Chefpublizist

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18.04.2021, 05:56 Uhr
Darf eine weiße Frau Dreadlocks tragen? Es gibt Menschen, die diese Frage mit einem klaren "Nein" beantworten.

© Fotos: imago images/Westend61//papa-stock.adobe.com, Montage:NN/Hava Darf eine weiße Frau Dreadlocks tragen? Es gibt Menschen, die diese Frage mit einem klaren "Nein" beantworten.

Darf ich diesen Text überhaupt schreiben? Als älterer weißer Mann? Kann ich mich da äußern über die Gefühle und Befindlichkeiten von Menschen mit anderer Hautfarbe und Herkunft?


"Falsche Fragen" bei Übersetzungsdebatte um Amanda Gorman


Die Frage ist durchaus berechtigt. Erinnern Sie sich an die kürzlich erst sehr erbittert geführte Debatte darüber, ob weiße Autorinnen die Gedichte von Amanda Gorman übersetzen dürfen, jener jungen schwarzen Poetin, die bei der Inaugurationsfeier von Joe Biden viele begeistert hatte? Nein, das geht nicht, wurde da befunden.

Und es gibt viele weitere Beispiele dafür, was nicht geht – weil Moralwächterinnen und -wächter dies sehr vehement einfordern.

© Edition Tiamat/Montage: Sabine Schmid

Die französische Autorin Caroline Fourest, bekennende Linke und lesbisch, liefert jede Menge Fälle davon in einem Buch, das auch durch ihren sehr emotionalen Furor Furore macht. "Generation Beleidigt" heißt das Werk (Edition Tiamat, 144 Seiten, 18 Euro), Untertitel: "Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer."

Dürfen also, ein Beispiel, weiße Frauen Dreadlocks tragen? Dürfen sie nicht, sagen Identitäts-Verfechter. "Man kann die Leute nicht mehr zählen, die gezwungen sind, Entschuldigungen vorzubringen, weil sie es gewagt haben, eine Afrofrisur, Dreadlocks oder bloß angeblich 'afrikanische' Zöpfe zu tragen", beklagt Fourest.

Es sei "beleidigend, weil die kulturellen Realitäten völlig verwischt und zu einem Vergnügen gemacht werden", zitiert Fourest eine Aktivistin. Das Stich- und Reizwort lautet: "kulturelle Aneignung". Das heißt: Es ist nach der sehr strengen Weltsicht der Identitätspolitiker heikel bis eben tabu, bestimmte Verhaltensweisen, Bräuche oder Moden zu übernehmen, die aus einer anderen Kultur stammen.

Wenn ein Yogakurs gestrichen wird

Nochmal Fourest, die ihrem Zorn freien Lauf lässt: "Man rebelliert gegen Rihanna wegen ihrer angeblich 'afrikanischen' Zöpfe; man ruft dazu auf, Jamie Oliver zu boykottieren, weil er einen 'jamaikanischen' Reis kreiert hat; in Kanada fordern Studenten die Streichung eines Yogakurses, um sich bloß nicht die indische Kultur 'anzueignen'; an amerikanischen Universitäten fahnden sie nach asiatischen Menüs in der Mensa. Indessen weigern sie sich, große klassische Werke zu studieren, da diese 'beleidigende' Passagen enthielten."

Vor allem in den USA und in Kanada, zunehmend aber auch in Frankreich macht Fourest jene Fanatiker aus, die unduldsam ihre Ansichten durchsetzen wollen. An Universitäten, auch in Gewerkschaften und Teilen der Medien werde es zusehends schwer, diesen Gruppen zu widersprechen, die dort gut vernetzt an Einfluss gewinnen. Die Anfänge reichen weit zurück: 2012 gab es in den USA eine virtuelle Hetzjagd gegen Heidi, eine Familienmutter, die eine Geburtstagsfeier für ihre Tochter in japanischem Stil ausgerichtet hatte. Das dürfe man nicht, so der Empörungssturm, den sie auslöste – weil: kulturelle Aneignung. Es war dann ein Japaner, der den Wütenden die Gegenfrage stellte: "Bist du nur dann befugt, eine Pizza zuzubereiten, wenn du in Italien lebst?"

Scarlett Johansson sollte einen transsexuellen Zuhälter spielen – darf sie nicht, urteilten Kritiker.

Scarlett Johansson sollte einen transsexuellen Zuhälter spielen – darf sie nicht, urteilten Kritiker. © REUTERS/Mario Anzuoni

Auch in die Kunst greift die Identitätspolitik ein: Manche verlangen die Zensur antirassistischer Werke, wenn diese nicht von Farbigen stammen. Das Gemälde "Open Casket" der weißen Künstlerin Dana Schutz prangerte die Ermordung eines jungen Schwarzen an.

Geht nicht, befand die Identitätspolizei: "Das Gemälde sollte von niemandem akzeptiert werden, der sich um Schwarze sorgt oder das zumindest behauptet, denn es ist nicht akzeptabel, dass ein Weißer das Leid der Schwarzen in Profit und Vergnügen verwandelt", wurde der Künstlerin vorgehalten. Worauf Caroline Fourest fragt: "Welches Vergnügen?" – und entsetzt feststellt. "Allein aufgrund ihrer Hautfarbe wird eine weiße Künstlerin und Malerin für unfähig befunden, den Schmerz der Mutter nachzuempfinden."

Ein anderes Beispiel, bei dem es um ein Kunstwerk ging, das wegen sichtbarer nackter Weiblichkeit Anstoß erregte: In Manchester wurde das Gemälde "Hylas und die Nymphen" von John William Waterhouse 2018 zeitweise entfernt. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dazu: "Uns trennt nur mehr eine papierdünne Wand von dem, was die ,Entartete Kunst‘ und der gedankliche Rahmen der Säuberung einmal fabriziert haben."

"Entartete Kunst" – zur Erinnerung: Das war für die Nationalsozialisten alles "Undeutsche", Nicht-Arische, Abstrakte oder nicht "Normale". Sie verbannten und verbrannten die Werke unzähliger Künstler.

© Campus Verlag/Montage: Sabine Schmid

Noch ein Beispiel: Scarlett Johansson sollte einen transsexuellen Zuhälter spielen – darf sie nicht, urteilten die Fanatiker. Die weltberühmte Schauspielerin wehrte sich: "Ich bin der Meinung, dass in einer idealen Welt jeder Schauspieler in der Lage sein sollte, jeden zu spielen, und dass Kunst in jeder Form immun gegen politische Korrektheit sein sollte." Das erwartbare Echo auf solche Sätze, die lange als selbstverständlich galten: ein weltweiter Shitstorm.

© Patrick Semansky, dpa

Den erntet in Deutschland aktuell Sahra Wagenknecht wegen Passagen in ihrem neuen Buch "Die Selbstgerechten", in dem sie "Lifestyle-Linke" ins Visier nimmt – mit heftiger Polemik wie dieser, die ihre Partei empört: "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein."

Nun gibt es auch eine linke Zensur

Starker Tobak. Caroline Fourest würde das in dieser Schärfe kaum unterschreiben, auch weil es andere diffamiert. Beide Autorinnen sind sich aber einig in der Sorge, dass die Linke, die ihr Ziel doch lange im Kampf für mehr Gerechtigkeit über alle Hautfarben und Klassen hinweg sah, sich nun zusehends auf Kämpfe um Identität versteift – und damit letztlich den ganz Rechten hilft. Sie könnten sich da sogar als "Meister der Freiheit" inszenieren, so Fourest: "Einst kam die Zensur von der konservativen und moralistischen Rechten. Nunmehr entspringt sie der Linken; oder vielmehr einer bestimmten, nämlich ihrerseits moralistischen und identitären Linken." Ihr Schlussplädoyer: "Diese Tyrannei der Beleidigung erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen und von neuem zu lernen, die Gleichheit zu verteidigen, ohne der Freiheit zu schaden."


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Ähnlich äußerte sich gerade der frühere Bundespräsident Joachim Gauck. Er schrieb: "Menschen, die die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte lieben, fragen nicht danach, ob jemand schwarz ist oder weiß. Denn nicht Herkunft und eine daraus abgeleitete 'Identität' entscheiden, sondern Haltung. Und die ist unabhängig von der Hautfarbe."

58 Kommentare

franke046

@DonCarlos

Egal an den Kriegen 1870/71 und 1914 war Preussen und das deutsche Kaiserreich maßgeblich und auslösend mit dabei.
Der erste wurde durch Bismark provoziert und der zweite wäre ohne die vorbehaltlose Rückdeckung aus Berlin so nicht ausgebrochen auch wenn natürlich der Ursprung in Wien zu suchen ist. Natürlich könnte man jetzt auch sagen dass im 2. Weltkrieg England und Frankreich dem 3. Reich den Krieg erklärt hat. Aber jetzt kommen wir in Haarspaltereien.

Aber meine Grundaussage war ja dass ich keine Lust habe mir bei allem geschichtliche Ereignisse vorhalten zu lassen.

DonCarlos

@Franke046: " Eine Stadt [...], von der 3 Kriege, davon 2 Weltkriege ausgingen."

Daß der II. WK von D ausging, ist unbestritten. Aber welche war der andere? Oder sollte mir entgangen sein, daß Berlin 1914 zu Österreich-Ungarn gehörte?

Und falls Sie mit dem 3. Krieg den Deutsch-Französischen Krieg meinen, liegen Sie auch falsch! Die Kriegserklärung erfolgte am 19. Juli 1870 durch Frankreich.

franke046

@moritz27

Ich bin 1959 geboren. Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 gegründet. Was davor im Deutschen Reich war darf keiner Vergessen weder in Europa noch auf der Welt. Ich verwahre mich jedoch dagegen angeblich ständig für etwas verantwortlich zu sein für etwas was vor meiner Zeit geschehen ist. Wenn ich mich auf der Welt umschaue finde ich jede Menge Länder die auch Dreck am Stecken haben. Namen will ich hier keine nennen.
Ausserdem wenn sie schon auf das dritte Reich reflektieren dann hätte man Berlin als Hauptstadt mehr als in Frage stellen müssen. Eine Stadt die mit den Werten der Bundesrepublik und seinen Institutionen nichts zu tun hat. Eine Stadt die ursprünglich die Hauptstadt Preussens war, von der 3 Kriege, davon 2 Weltkriege ausgingen.

moritz27

@jerk:
Wenn ein Spaßmacher, wie Thomas Gottschalk etwas zu dem Thema beisteuert. Nehmen Sie das ernst?
Ich verstehe nicht, was Promis auszeichnet, dass sie sich im Fernsehen zu ernsten Themen äußern sollen und wollen.


Und selbstverständlich habe ich mich angepasset, dort wo ich das für richtig halte.
Meine offiziellen Briefe beginnen mit, "Sehr geehrte Damen, Herren und Diverse", und ich spreche von hell- und dunkelhäutigen Menschen.
Wobei da immer noch eine andersaussehende Gruppe, wie Asiaten, außen vor bleibt.
Aber da finde ich sicher auch noch etwas, damit die nicht beleidigt sind.
Und seit Jahrzehnten gehe ich weder als Indianer, noch als Chinese oder Mohr zum Fasching.
Die deutsche Sprache ist ein Minenfeld, aufgrund unserer unsäglichen Vergangenheit.
Was sind da schon ein paar Minen mehr? :-))

jerk

Die Diskussion kann aber nur unter falschen Voraussetzungen stattfinden, wenn Herr Jungkunz von Sprachpolizei spricht und eben nur die schockierenden Vorfälle aneinanderreiht, womit die Grundlage der Debatte doch schon gesetzt ist und über das "Schockiert sein" nicht hinauskommt. Vorfälle wie in der Sendung "Die letzte Instanz" haben doch gezeigt, dass es einem Großteil der Gesellschaft zu umständlich ist, sich einfach mal Gedanken über den eigenen Sprachgebrauch oder Verhalten zu machen. Dabei sind die Einschätzungen und Erfahrungen von Gruppen, welche von kultureller Aneignung betroffen sind, ausschlaggebend.