„Fällt das Baltikum, ist Berlin als Nächstes dran“
Lange warnte Estland vor bösen Absichten Russlands. Um nicht nächstes Opfer zu werden, rüstet das Land auf. Doch was täten die Verbündeten im Ernstfall?
Tallinn/Tartu – Er ist schon seit dem Morgen hier, wie jeden Tag. Geduldig knüpft Peeter Stofffetzen in ein Netz, das breit aufgespannt vor ihm hängt: beige neben oliv neben gelb neben braun. Auch ein Muster hängt da, aber der 71-Jährige weiß längst aus dem Effeff, wie so ein Tarnnetz auszusehen hat. Er tue das für die Ukraine, sagt er und kneift die Augen zusammen. „Denn wenn die Russen gewinnen, sind wir als Nächstes dran.“
Es ist schon das hundertste Tarnnetz, das Peeter und die anderen Freiwilligen hier in der Universität Tartu knüpfen – insgesamt 4000 Quadratmeter, in ganz Estland sind es über 40.000. Sie sollen ukrainische Soldaten vor Angriffen schützen und für ein wenig innere Ruhe sorgen. „Viele in meinem Umfeld haben Angst, dass die Russen auch uns angreifen könnten“, sagt Signe (43), eine andere Freiwillige. Die Arbeit hier sei ein Weg, mit der Angst umzugehen.

Ukraine-Krieg schürt Sorge vor Russland: Estland setzt auf Abschreckung
Eigentlich könnte man sich in der zweitgrößten Stadt Estlands schönere Gedanken machen. Tartu, zwei Busstunden von der Hauptstadt Tallinn entfernt, wird nächstes Jahr Europas Kulturhauptstadt sein, im Zentrum haben die Organisatoren schon einen knallroten Schriftzug aufgestellt, „#Tartu2024“, jeder Buchstabe einen Meter hoch. Aber der Krieg beschäftigt die Menschen. Denn Russland, der mächtige Nachbar im Osten, ist zu vielem fähig.
Estland ist kein Land in Panik, aber eines, das um seine Verwundbarkeit weiß. Lange warnten sie hier vor der Kriegslust Moskaus, allzu lange nahmen die Verbündeten in Europa die Gefahr nicht ernst. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat sich das geändert. Die Nato hat den Schutz des Baltikums jetzt besonders im Blick. Und Estland, das Land an der östlichen Flanke des Bündnisses, rüstet auf.
„Tut mir leid, das so sagen zu müssen. Aber wenn die baltischen Staaten fallen, ist Berlin als Nächstes dran.“
Künftig will die Regierung in Tallin mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung investieren, dauerhaft. Prozentual gesehen geben nur Polen, die USA und Griechenland mehr aus. Man will nichts riskieren. „Wir müssen alles tun, um einen russischen Angriff zu verhindern“, sagt Hanno Pevkur. „Deshalb setzen wir auf Abschreckung.“
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Estland warnt Deutschland vor Putin
Der 46-Jährige ist seit Juli 2022 Verteidigungsminister. Als er damals ins Ministerium kam, sagt er, habe er seinen Leuten gleich klargemacht, dass sie die richtigen Lehren aus dem Ukraine-Krieg ziehen müssten. Vom Verteidigungsetat soll nun möglichst viel Geld in Ausrüstung fließen, und die Liste ist lang: Bis 2031 will Estland unter anderem Himars-Raketenwerfer, Haubitzen, gepanzerte Fahrzeuge und Drohnen anschaffen, außerdem jede Menge Munition. Pevkur sieht das auch als Dienst an Europa. „Tut mir leid, das so sagen zu müssen. Aber wenn die baltischen Staaten fallen, ist Berlin als Nächstes dran.“
Man kann das überzogen finden. Oder hellsichtig. Jedenfalls ist das Land bereit, für seine Sicherheit Opfer zu bringen. Das fängt mit der Unterstützung der Ukraine an, für die Estland, gemessen an Größe und Wirtschaftskraft, weit mehr tut als der Rest Europas: Über 50.000 Flüchtlinge sind inzwischen hier registriert, bei einer Bevölkerung von 1,3 Millionen. Und es reicht bis weit in bisherige Tabuzonen hinein.
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Um die Militärkosten zu finanzieren, führt die Regierung eigens eine Kfz-Steuer ein, außerdem erhöht sie Einkommen- und Mehrwertsteuer von je 20 auf 22 Prozent. Populär ist das natürlich nicht, zumal die Wirtschaft nicht mehr so brummt wie vor dem Krieg und die Inflation zuschlägt. Aber größerer Protest regt sich bislang nicht. „Natürlich würde ich das Geld lieber für anderes ausgeben“, sagt Premierministerin Kaja Kallas an einem trüben Donnerstagmorgen im Oktober. „Aber in unserer Situation ist es das Vernünftigste, was wir tun können.“
„Russland erwartet, dass es den Schmerz viel länger ertragen kann als wir“
Kallas‘ Regierungssitz, das Stenbock-Haus, liegt in der Altstadt, vom Balkon aus hat man einen herrlichen Blick über Tallinn, das im Mittelalter eine deutsche Hansestadt war. Nur ein paar hundert Meter entfernt ist der Freiheitsplatz, wo zu Kriegsbeginn tausende Esten für die Ukraine demonstrierten. Dass Russland am 24. Februar losschlug, jenem Tag, an dem Estland eigentlich seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion feiert, verstanden manche hier als düsteres Zeichen.
20 Monate ist das her, inzwischen hat sich die globale Aufmerksamkeit verschoben. Hin zu Israel, das sich gegen den Hamas-Terror verteidigt, weg von der Ukraine. Kallas’ große Sorge ist, dass Europa der Hilfe für Kiew überdrüssig wird und Moskau davon profitiert. „Wir können nicht müde werden, weil Russland darauf spekuliert“, mahnt sie. „Russland erwartet, dass es den Schmerz viel länger ertragen kann als wir.“
Zur Wahrheit gehört, dass Estland akut wenig zu befürchten hat. Moskaus Kapazitäten sind in der Ukraine gebunden, 2023 fiel deshalb sogar das Großmanöver „Sapad“ aus, mit dem Russland und Belarus sonst recht offen einen Angriff auf das Baltikum simulierten. Außerdem hat die Nato ihre Präsenz in der Region erhöht, Deutschland will bis 2025 rund 3500 Soldaten in Litauen stationieren, eine ganze Brigade. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nennt es das „sichtbarste Leuchtturmprojekt der Zeitenwende“. Wie das finanziert werden soll, ist offen.
Estlands Geheimdienst warnt vor Russland: Ab Mitte der 20er-Jahre steigt das Risiko
Trotz allem schrieb der estnische Geheimdienst zuletzt, ab Mitte der 2020er-Jahre steige das Risiko – besonders wenn Russland in der Ukraine Erfolg haben sollte. Wenn Moskau die Nato testen will, dann an ihrem verwundbarsten Punkt, im Baltikum.
„Wir haben jahrhundertelang gesehen, dass nichts Gutes aus dem Osten kommt.“
Und dann? Die estnische Armee ist klein: 6500 aktive Soldaten, 28.000 Freiwillige. Moskaus Truppen stünden wohl binnen 60 Stunden in Tallinn, das hat vor einigen Jahren ein Planspiel der Nato ergeben. Die Überlebensfrage für Estland, Litauen und Lettland ist dann, wie schnell die Verbündeten reagieren – und in welcher Form. Fragt man Offizielle, dann verweisen Sie auf Artikel 5 des Nato-Vertrags, der besagt, dass das Bündnis einem angegriffenen Mitglied beisteht. Aber bei manchen ist da doch ein leiser Zweifel. „Die Frage ist, was die Nato machen würde“, sagt Signe, die Freiwillige aus der Uni in Tartu. „Hilft sie? Und wie lange dauert das? Zehn Tage?“
Das ist kein Misstrauen, eher ein Mitdenken aller Eventualitäten. Denn das Gefühl, von allen im Stich gelassen zu werden, hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Esten eingegraben. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Land zum Spielball der Mächte. 1940 schluckten die Sowjets das Baltikum, ein Jahr später kam die Wehrmacht, 1944 wieder die Rote Armee. Die Esten erlitten Terror, Deportationen, unzählige starben. Die Welt ließ all das geschehen.
Würde die Nato für Estland einen Konflikt mit Putins Russland riskieren?
Und so ganz abwegig ist die Frage ja nicht: Würde die Nato einen offen Konflikt mit Russland riskieren, den Dritten Weltkrieg, um das kleine Estland zu retten?
Austesten will das niemand. Darum gibt es nur eins: Abschreckung ausbauen und Kiew stärken, wo es geht. „Die Ukraine kämpft für uns. Buchstäblich“, sagt Estlands Außenminister Margus Tsahkna. Es sei jetzt an der Zeit, die Aggression ein für alle Mal zu beenden, Moskau in seine Grenzen zu verweisen. „Wir müssen die Gelegenheit nutzen, dieses aggressive Regime loszuwerden“, sagt er und schiebt gleich nach, er meine damit keinen Regimewechsel. Darüber zu entscheiden sei Sache der Russen. Und wenn es doch anders kommt? „Wir sind bereit zu kämpfen“, sagt er. „Wir haben jahrhundertelang gesehen, dass nichts Gutes aus dem Osten kommt.“ (Marcus Mäckler)