In Comics verwandeln sich Gedanken in Bilder. Aus dem gefürchteten Pfarrer wird ein schwarzer Panther

Comics und Graphic Novels haben ihren Geltungsbereich erweitert und sich auch als Medium von Biografie und Reportage bewährt. Dass Zeichnen darüber hinaus ein Mittel der Reflexion sein kann, beweisen grafische Essays von Magdalena Kaszuba und Julia Hosse.

Christian Gasser
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Erinnerungen an den Beichtstuhl: Eine Schlüsselszene aus Magdalena Kaszubas «Das leere Gefäss» (Bild: pd)

Erinnerungen an den Beichtstuhl: Eine Schlüsselszene aus Magdalena Kaszubas «Das leere Gefäss» (Bild: pd)

Da sitzt sie nun dem Priester gegenüber, die kleine Magdalena, für ihre allererste Beichte am Tag vor der ersten Kommunion. Eingeschüchtert, die Augen gesenkt, gesteht sie ihre harmlosen Sünden. Doch egal, was sie dem schwarz gewandeten Gottesmann anvertraut, es ist nicht genug. Und prompt verwandelt sich dieser in einen schwarzen Panther, bedrohlich und gierig streicht er um das Mädchen, verlangt nach mehr Geheimnissen, und in ihrer Panik erfindet Magdalena Sünde um Sünde. Befriedigt erteilt ihr der Priester schliesslich die Absolution. Das Mädchen jedoch verlässt die Kirche verzweifelt: Das Fegefeuer ist ihr gewiss, hat sie doch diesen heiligen Moment ausgerechnet durch Lügen entweiht!

In ihrem Comic «Das leere Gefäss» setzt Magdalena Kaszuba diesen Schlüsselmoment in der Auseinandersetzung mit ihrer polnisch-katholischen Herkunft in Bilder um, die nicht nur erzählen, sondern das Geschehen immer auch verdichten, metaphorisch überhöhen und reflektieren. Die 1988 in Polen geborene Künstlerin, deren Eltern 1989 nach Hamburg auswanderten, legt also keine lineare autobiografische Erzählung ihres Aufwachsens vor, sondern eine Reflexion der polnisch-katholischen Traditionen und deren Auswirkung bis auf ihr Leben im spirituell eher nüchternen Hamburg. Sowohl erzählerisch als auch gestalterisch handelt es sich nicht mehr um einen klassischen Comic, sondern um einen gezeichneten Essay.

Abstraktes sichtbar machen

Damit schreibt sich Magdalena Kaszuba einem Trend ein, den man am Rand der Comicszene seit längerem beobachten kann. Die Emanzipation des Comics von der seriellen Genre-Unterhaltung führte zu einer Ausweitung der Möglichkeiten. In den persönlicheren Autorenarbeiten der Graphic Novel wurde die lange auf das Erzählen und Illustrieren von Geschichten reduzierte Verknüpfung von Wort und Bild gelockert oder gelöst. Für neue Inhalte mussten auch neue Formen gefunden werden. Die Autobiografie war eine Möglichkeit, eine andere war der Reportagejournalismus in Comicform. Nun aber erscheinen mehr und mehr auch grafische Essays, die persönliche, politische, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Themen in erster Linie visuell reflektieren.

Eine Zeichnung sage mehr als tausend Worte, heisst es. Die Zeichnerin Kaszuba beweist jedenfalls, dass die Zeichnung sich auch als ein Mittel der Reflexion bewährt. Eine Zeichnung kann Komplexes und Abstraktes sichtbar machen, so wird es auf eine sinnliche Weise nachvollziehbar – und oft präziser und profunder, als wenn es durch Wort vermittelt wird. Zeichnen ist eine andere Form des Denkens. Lange haftete der zeichnerischen Sinnlichkeit der Ruch einer vorrationalen Oberflächlichkeit an. Doch in einer immer üppigeren Bilderwelt wird die Zeichnung wohl zu einem immer wichtigeren Werkzeug, um die Zeichen zu verstehen.

Plasticdinos und Streichersound

Wie man in Bildern nachdenkt, macht auch «In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester» von Julia Hosse vor. Hosses Thema ist die Erinnerung an die vergangene Zeit – da erweist sich Zeichnen als probate Technik. Hosse beginnt mit (nachgezeichneten) Videoaufnahmen eines Saurierparkbesuchs in ihrer Kindheit. Ernüchtert stellt sie nun fest, dass der Park, den sie in ihrer Erinnerung als spektakulären, in satten Farben inszenierten Dschungel voller beängstigender Raubechsen abgelegt hat, in Wirklichkeit eine ziemlich dürftige Einrichtung war: «Nur ein paar verblichene Plasticdinos zwischen vertrockneten Büschen.» Was trügt? Wo ist die Wahrheit abgespeichert? In der Erinnerung? Im Video?

Wie wichtig das Bild in diesen grafischen Essays ist, zeigt sich am Text-Bild-Verhältnis. In beiden Bänden ist der Text auf ein Minimum reduziert, auf einzelne, zumeist sachliche Sätze. Losgelöst vom Bild sind die Texte schlicht und banal. Ihre Funktion ist es, die Bilder zu verorten. Die Aussagen stecken in den Zeichnungen, nicht in den Worten.

Julia Hosse verarbeitet mit «In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester» Bilder aus ihrer Kindheit. (Bild: pd)

Julia Hosse verarbeitet mit «In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester» Bilder aus ihrer Kindheit. (Bild: pd)

Hosse etwa versucht, sich zeichnend die Vergangenheit zu vergegenwärtigen und dabei über den Erinnerungsprozess nachzudenken. Sie schaut sich auch das Video der demütigend verlaufenen Einschulung ihrer kleinen Schwester an und versucht die Gründe für deren traurigen Gesichtsausdruck nachzuvollziehen. Das Gesicht der Schwester ist geradezu fotorealistisch ausgearbeitet. Die Aula, der Pausenhof, der Schuldirektor, der sie mit ihrem falsch ausgesprochenen Nachnamen («Hose») verwirrt, die noch unbekannten Mitschülerinnen und Mitschüler – sie werden reduziert, brüchig, unvollständig gezeichnet und dabei stilisiert. Diese Darstellungsweise von Erinnerung macht die sprachliche Ausdeutung überflüssig. Das Bild liefert eine präzise Analyse.

Die Zeichnungen sind frei

Wie sehr der Text dank den Bildern reduziert werden kann, zeigt sich besonders sinnfällig im Comic «Das leere Gefäss», der mit dem Glauben ein abstraktes Thema umkreist. Den Verzicht auf das Wort macht Kaszuba wett, indem sie sich auf die traditionelle katholische Ikonografie besinnt, diese in Bildern, die virtuos zwischen Figuration, Stilisierung, Abstraktion und Narration changieren, immer wieder bricht, unterläuft oder auch weiterführt – ohne je in Klischees abzurutschen.

In ihren Bildern wird auf beklemmende Weise spürbar, wie der strenge Katholizismus Enge, Repression, Angst bedeuten kann. Im Falle von Kaszuba führte er gar zu Hass – Hass auf Gott, die Welt und sich selbst. Für den Bruch mit dem Glauben und für die neuen Gefühle zwischen Freiheit und Orientierungslosigkeit findet Kaszuba metaphorische Bilder: Sie zeichnet sich als Gefäss, das sich selber ausleert – die Flüssigkeit, die aus dem Krug fliesst, ist so dunkel wie der Panther im Beichtstuhl.

Wie in Comics arbeiten Kaszuba und Hosse in ihren neusten Werken mit Bildsequenzen und erzählen so durch das Bild. Die Bilder jedoch sind freier angelegt als in Comics; sie haben ein gewisses Eigenleben, für das sie auch Raum erhalten. So ergeben sich Aussagen jenseits der narrativen Syntax. Die Zeichnungen sind frei – frei wie assoziative Gedanken. Dank dieser Freiheit erweisen sich «Das leere Gefäss» und «In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester» als grafisch meisterhafte Arbeiten.

Magdalena Kaszuba: Das leere Gefäss (Avant-Verlag, 152 Seiten, Softcover, farbig, ca. Fr. 27.50). – Julia Hosse: In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester (Edition Büchergilde, 176 Seiten, Hardcover, farbig, ca. Fr. 34.90).