Hergés Meisterwerk-Comic„Tim & Struppi“ feiern ihren 90. Geburtstag

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Köln – Wir hatten zu Hause drei Comic-Berge, die von einem ins andere Kinderzimmer wechselten und mit der Zeit an Höhe gewannen: „Asterix“ hieß der eine, „Lucky Luke“ der andere, „Tim & Struppi“ der dritte. Band für Band kam bei allen hinzu. Aber erst als der Kinder- zum erwachsenen Leser wurde und tat, was im Comic Tims Aufgabe ist – recherchieren, der Typ ist immerhin Reporter –, wurde die Reihe des belgischen Zeichners Hergé mehr als nur ein buntes Lesevergnügen. Jetzt wird „Tintin“, wie Tim im Original heißt, 90 Jahre alt. Ein Blick auf seine Geschichte.

Die Geburt von Tim/Tintin

Am 10. Januar 1929 brachte Hergé, damals 22 Jahre alt, Tintin zur Welt. Bis aus ihm Tim wurde und er so den deutschen Markt eroberte, sollte es noch 38 Jahre dauern – zu dem Zeitpunkt zog sich Hergé bereits langsam aus dem Tintin-Kosmos zurück.

Der schlechte Beginn

Der allererste Band wurde nie in die offizielle Reihe aufgenommen: „Tim im Lande der Sowjets“ nämlich gereichte dem von Vorurteilen und Klischees beeinflussten Hergé nicht zur Ehre. Für den Einfluss verantwortlich war Abbé Norbert Wallez: Der Herausgeber der Zeitung „Le Vingtième Siècle“, wo Tintin erstmals erschien, war so ziemlich alles, was heute unter den Begriff „politisch unkorrekt“ fiel: Antiamerikaner, Antibolschewik, Antikapitalist, Antisemit. Tintins Sowjet-Abenteuer war ein Kampf gegen supermiese, tierähnliche Russen. Es folgten „Tim im Kongo“ – ein Fest des Rassismus – und „Tim in Amerika“ – eine Party gegen Liberalismus. Noch 2007 sorgte „Tim im Kongo“ für juristischen Wellenschlag: Der kongolesische Student Mbutu Mondano Bienvenu klagte gegen die weitere Verbreitung der Geschichte über die einstmals belgische Kolonie. Die Klage wurde 2012 abgewiesen. Die Brüsseler Richter entschieden, dass die Darstellung eben die Sichtweise der damaligen Zeit widerspiegele.

Die Besserung

In „Kohle an Bord“, 1978 erschienen, schickt Hergé Tintin/Tim erneut nach Afrika – diesmal kämpft er gegen die Verschleppung von Schwarzafrikanern. Verantwortlich für die neue Aufgeklärtheit des Belgiers: ein chinesischer Austauschstudent, den Hergé in Brüssel traf, Zhang Chongren. Als „Tschang“ wurde er zur Figur in dem Band „Der blaue Lotus“, wo sich Reporter Tim klar auf die Seite der Chinesen schlägt, die gegen die japanische Bedrohung kämpfen.

Die handelnden Figuren

„Doof“ sehe Tim aus, sagte mein Bruder immer und griff lieber zu Lucky Luke. Irgendwo hatte er ja Recht: Ein Eierkopf mit gelber Haartolle drauf – nein, cool ist Tim nicht. Und als Reporter jagt ihn Hergé zwar um die ganze Welt – aber weder interviewt er, noch recherchiert er. Weit vielschichtiger sind andere Figuren: Tims Freund Kapitän Haddock, der vom Alkoholiker im Laufe der 24 Bände zum Abstinenzler wird, das Fluchen aber auch nüchtern meisterlich versteht (Kostprobe: „Sie Gurkennase!“ – „Ihr Salatschnecken!“ – „Hunderttausend heulende Höllenhunde!!!“). Oder Professor Bienlein, der fast taub ist – jedenfalls „ein klein wenig harthörig“. Oder Schulze und Schultze, Zwillings-Detektive. Im Englischen sind sie „Thomson and Thompson“ – von diesem Namen leiteten die New-Waver Thompson Twins ihren Bandnamen ab. Bianca Castafiore ist die einzige, dafür mächtige Frauenfigur. Eine Opernsängerin, die ständig die Juwelenarie „Hah! Welch Glück – mich zu seh'n – so schön ...“ schmettert. Die Arie stammt aus Gounods Oper „Faust“. Der Text ist nicht eine von Hergé erfundene Passage, sondern entspricht dem Original: Faustens Margarethe blickt beim Singen in den Spiegel.

Erfindung & Wahrheit

Tibet gibt's. Den Mond auch – letzteren betreten Tim und Struppi im Comic übrigens schon 1954, Neil Armstrong dagegen ist dort erst 1969 unterwegs. Aber wo, bitte, liegt Bordurien? Irgendwo in Osteuropa platziert Hergé das Fantasieland und stattet es in Anlehnung an den Herrscher, General Plekszy-Gladz, mit dem Gruß „Amaih Plekszy-Gladz!“ aus – was Comicexperten zu der Annahme kommen ließ, dass Bordurien von Hitler-Deutschland inspiriert sei.

Die Kunst der Klarheit

Das Magazin „Rolling Stone“ nannte Hergé 2017 „den berühmtesten Comic-Künstler des 20. Jahrhunderts“ – begründet wird dieser Titel mit der Form. „Ligne claire“, klare Linie, wird Hergés Zeichenstil 1976 getauft. Ein Stil, der auch 90 Jahre später noch modern wirkt. Auch ein Stil, der eng mit der Psyche des Künstlers verbunden ist: Hergé wurde von Albträumen über komplett weiße, also leere Flächen geplagt. Der Zeichner heilte sich quasi selbst, indem er 1958 „Tim in Tibet“ schuf – mit großen weißen (Schnee-)Flächen, auf denen dennoch ein Abenteuer passiert.

Zum Geschäft

Mehr als 230 Millionen verkaufte Alben weltweit – das muss man Hergé erst einmal nachmachen. Bis heute erzielen Originalzeichnungen Ergebnisse von mehr als einer Million Euro bei Auktionen. Dennoch blieb es bei 24 Bänden. In seinem Testament verfügte der 1983 verstorbene Zeichner, dass niemand nach ihm „Tim und Struppi“ weiterführen dürfe. Seine Witwe Fanny Vlaminck erklärte diesen Wunsch später mit dem einfachen Satz: „Das ist Kunst.“

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