Interview

US-Politberater Ian Bremmer: «Folgen Sie Leuten, mit deren Ansichten Sie nicht einverstanden sind»

Mauern grenzen nicht nur unbeliebte Bevölkerungsgruppen aus, sondern auch störende Gedanken. Der Politikwissenschafter Ian Bremmer erklärt, wie wir uns im Zeitalter des Populismus ideell abschotten – und was wir dagegen tun können.

Marc Neumann, Washington
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 Ian Bremmer wuchs in einem Sozialwohnungskomplex einer Vorstadt in Boston auf – heute berät er Politiker und CEOs auf der ganzen Welt. (Bild: Bloomberg)

Ian Bremmer wuchs in einem Sozialwohnungskomplex einer Vorstadt in Boston auf – heute berät er Politiker und CEOs auf der ganzen Welt. (Bild: Bloomberg)

Herr Bremmer, in Ihrem jüngsten Buch «Us vs. Them» ist die Idee der Mauer zentrale Metapher. Sie markiert eine historische Zäsur, so wie der Mauerfall das Ende der Pax Americana einläutete . . .

Der Mauerfall markierte tatsächlich den Anfang vom Ende der Pax Americana. Nach dem Zweiten Weltkrieg halfen die Vereinigten Staaten den Verlierern beim Wiederaufbau. Kapital und amerikanische Werte beeinflussen den Marshall-Plan und die Unterstützung für die Vereinten Nationen. Nicht so nach dem Zerfall der Sowjetunion: Wir trieben die Nato-Expansion voran, sie auf der anderen Seite des Atlantiks die Erweiterung Europas. Die Chinesen starteten ihren eigenen globalen Marshall-Plan. Anstrengungen für eine amerikanisch geprägte Globalisierung gab es keine.

«Mauern können physisch, technologisch, metaphorisch oder rhetorisch sein – derzeit sind alle im Einsatz.»

Geht es den Menschen heute besser?

Immer mehr Menschen fühlen, dass das System ihnen immer weniger Nutzen bietet, aus wirtschaftlichen, kulturellen, technologischen Gründen und Sicherheitsbedenken – oder einer Kombination davon. Das endet meist in einem der folgenden Szenarien: Entweder man startet wie in Tunesien oder Ägypten angesichts der misslichen Lebenssituation eine Revolte. Die meisten dieser Revolutionen scheitern. Alternativ kann man entweder die zugrunde liegenden Probleme angehen. Oder man versucht, die Revoltierenden nachhaltig zu schwächen.

Und das leisten Mauern?

Mauern können physisch, technologisch, metaphorisch oder rhetorisch sein – derzeit sind alle im Einsatz. Bei Mauern geht es um eine strukturelle Enteignung der Menschen, und das passiert gerade: Wenn die Globalisierung scheitert, dann akzeptieren wir weniger Einwanderung und weniger Freihandel. Gleichzeitig enteignen und spalten wir unsere eigenen Bürger umso mehr – mit Identitätspolitik und Tribalismus, die derzeit im Westen extrem zunehmen.

Donald Trump hat sich vorgenommen, um jeden Preis eine Mauer zu bauen zwischen den USA und Mexiko. Ist hier nicht der Wunsch der Vater des Gedankens – weil eine solche Mauer migrationswillige Menschen nicht abhalten kann?

Präsident Trump sagt gerne: Wenn Sie sehen wollen, wo Mauern funktionieren, brauchen Sie nur nach Israel zu schauen. Er hat recht. Nur weil wir ihn nicht mögen, sollten wir die Augen vor der Wahrheit, die er hier sagt, nicht verschliessen – weil sie wegweisend für unsere Zukunft ist. Aber Trump ist nicht das Problem. Er ist das Symptom, die Ursache geht tiefer. Ebenso wenig verurteile ich seine Wähler – mein Bruder wählte Trump. Wäre sie noch am Leben, hätte meine Mutter für ihn gestimmt, sie las jede Woche den «National Enquirer». Wenn Leute jahrelang von mächtigen Leuten mit Diplomen von Eliteschulen angelogen wurden, kann ich deren Ärger nachvollziehen, genauso wie wenn sie die Chance wahrnehmen, das System aufzurütteln oder umzustürzen.

Ian Bremmer – Verfechter des «American Dream»

mnm · Ian Bremmer ist in einem Sozialwohnungskomplex eines Vororts in Boston aufgewachsen und gab mit 20 Jahren sein erstes Buch heraus. Zwei Jahre später erhielt er das MacArthur-Stipendium und promovierte in Politikwissenschaften an der Stanford University. Der bald 50-jährige war das jüngste Fakultätsmitglied der «Hoover Institution», lehrte an der Columbia University und schrieb für zahlreiche US-Medien. Ende der Neunziger Jahre gründete er die Beraterfirma «Eurasia Group». Dort unterstützt er internationale Politiker und CEOs bei politischen Fragestellungen und im Risikomanagement. In seinem jüngsten Buch «Us vs.Them» (2018) warnt Bremmer vor dem ambivalenten Charakter der Mauer: «Mauern töten die Demokratie nicht. Sie beschützen sie für uns – indem sie Andere ausschliessen.» Das gilt nicht nur für physische Barrieren. Auch Handelstarife, Importzölle, Qualitätsstandards, Zulassungsquoten und Datenschutz versteht der Unternehmer als eine Abgrenzung, mit der wir uns von anderen Menschen, Konkurrenten oder Feinden distanzieren.

Das tönt eher nach dem Einreissen von Mauern.

Der Wir-gegen-die-anderen-Moment der Mauer ist stärker als die Mauer selbst. Die Entmenschlichung ist viel wichtiger. Trumps unerhörter Erfolg erklärt sich aus der Leichtigkeit, mit der er das fertigbringt. Er ist darin ein Naturtalent. Trump spaltet uns auch ohne Mauern. Wenn er Menschen eint, dann gegen ihn. Er ist tatsächlich ein Mensch unserer Zeit . . .

. . . einer immer tribaleren, identitätsgetriebeneren Zeit.

Durchaus. Ich bin ein wenig böse auf mich, dass ich das Buch nicht schon während der Finanzkrise und der Occupy-Wall-Street-Bewegung geschrieben habe. Ich hätte etwas bewegen können, aber ich tat nichts. Heute erleben wir das Problem in hochentwickelten Industrienationen viel stärker. Noch nie habe ich mein Land, die USA, gespaltener erlebt; dasselbe gilt für den Westen insgesamt. Und das, obwohl es der Weltwirtschaft seit der Finanzkrise nie besser ging: 3,9 Prozent Wachstum weltweit, Europa ist nicht mehr in der Rezession, es sieht alles ziemlich gut aus. Allerdings fragen sich eben viele zu recht: Was passiert, wenn die Wirtschaft schwächelt? Wenn die Zinsen steigen? Wenn der Spielraum für Sozialleistungen im Staatshaushalt kleiner wird? Wenn mir alle CEO, die ich kenne, sagen, sie könnten mit weniger Angestellten mehr Geld verdienen? Sie können mir nicht weismachen, dass das gut ausgeht.

«Der ‹Wir-gegen-die-anderen-Moment› der Mauer ist stärker als die Mauer selbst.»

Sind Mauern also der Anfang vom Untergang?

Ich bin durchaus optimistisch, was den kollektiven Geist oder die Humanität angeht. Aber ich will primär auf die kommenden Probleme aufmerksam machen. Diesen müssen sich Philanthropen, CEO, Bürgermeister und Gouverneure stellen, damit wir in zehn oder zwanzig Jahren nicht in eine Katastrophe laufen, in der wir alle in autoritären Regimen und hinter Mauern leben. Angesichts der geopolitischen Plattenverschiebungen war mir klar, dass die Pax Americana bald Geschichte sein wird. Dem sollten wir uns lieber früher als später stellen. Wir können das unvermeidliche Ende der Dinge nicht aufhalten, aber wir können uns und die nächste Generation besser darauf vorbereiten.

Sie sind in sozialen und Ihren eigenen Medien stark präsent. Was tun Sie, um dort keine Mauern zu schaffen, die Blasendenken und Propaganda Vorschub leisten?

Gute Frage. In meinem angehefteten Tweet auf Twitter steht, dass Sie etwas grundlegend falsch machen, wenn Sie keinen Leuten folgen, mit deren Ansichten Sie nicht einverstanden sind. Ich versuche, das zu leben. Wenn ich auch nur eine Person dazu bewegen kann, über etwas nachzudenken, mit dem sie nicht einverstanden ist, das ihre persönlichen Paradigmen nicht trifft, dann habe ich gute Arbeit geleistet. Die Leute schätzen das sogar. Ich sage, was ich denke. Geld brauche ich keines. Ich muss für niemanden arbeiten, mein Unternehmen gehört mir zu hundert Prozent. Ich kann mir erlauben, die Dinge beim Namen zu nennen. Das schulde ich meinen Followern auf Social Media. Denn wir haben zu viele junge Leute, die die Nachrichten nicht mehr lesen, nicht nur, weil sie sich angelogen fühlen, sondern weil sie ihnen die Hoffnung auf Veränderung nehmen. All die Flüchtlinge, all das Leid, zu viel, zu weit weg – daran kann ich nichts ändern, heisst es dann immer. Doch, das kannst du! – das will ich ihnen zu verstehen geben.

«Wenn ich auch nur eine Person dazu bewegen kann, über etwas nachzudenken, mit dem sie nicht einverstanden ist, dann habe ich gute Arbeit geleistet.»

Sie kritisieren nicht nur die Spaltung in Politik und Medien, sondern auch in der Technologie. Wo stehen die Mauern da?

Unsere Institutionen sind bis anhin unfähig, auf die Veränderungen, die von der Technologie ausgehen, zu reagieren und sie zu regulieren. Es ist geradezu amüsant, dass Tech-Leute wie Mark Zuckerberg oder Elon Musk eigentlich idealistische Leute sind: Sie leben in den USA, viele sind Einwanderer und glauben an die liberale Demokratie und den freien Markt – das sind keine bösartigen, grössenwahnsinnigen Hitler-Typen. Aber sie sind beschränkt, besitzen kein tieferes Wissen über Geschichte oder Politik. Ich glaube, dass Zuckerberg Facebook ernsthaft als Portal für eine offene, utopische Gesellschaft konzipiert hat und sich jetzt verwundert fragt: Um Gottes willen, wieso hat diese Plattform die Spaltung weiter vertieft?

Wo sehen Sie mittelfristig die Folgen der Spaltung, auch jenseits von Facebook?

Ich sorge mich, dass alle nur von der vierten industriellen Revolution, von Robotik, künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge als Geschäftsmodell träumen. Es gibt eine immense kognitive Dissonanz bei all diesem Zeugs. Niemand denkt stattdessen an das Szenario einer postindustriellen Revolution. Die Technologie mag unserer anpassungsfähigen Spezies die Möglichkeit geben, unser Leben zu verbessern. Aber gleichzeitig befürchte ich, dass sie die Entzweiung und die Ungleichheit weiter vorantreibt. Wenn wir das nicht bald angehen, kann es gut sein, dass wir grosse Teile der Menschheit radikal isolieren und entfremden.