Ar-Men (Splitter)

Juli 12, 2018

Tschernobyl, die französischen Süd- und Antarktisgebiete und schließlich die Antarktis selbst. In seinen letzten Werken begleiteten wir Emmanuel Lepage an ungewöhnliche, unwirtliche und entlegene Gegenden unseres Planeten. Auch in seinem aktuellen Band entführt er den Leser einmal mehr an einen solchen Ort, der einerseits weitab vom Schuss liegt, der sich jedoch gleichzeitig direkt vor Lepages Haustür befindet – mehr oder weniger, versteht sich. Denn Lepage ist Bretone und die Rede ist von dem Leuchtturm namens Ar-Men, weit draußen im Atlantik vor der Bretagne, westlich der Île de Sein. Ar-Men (bretonisch für „Fels“) wurde bekannt durch seine exponierte, isolierte Lage und ist einer der – aufgrund der Wetterbedingungen – am schwersten zugänglichen Leuchttürme überhaupt (Spitzname „Die Hölle der Höllen“). Sein Bau dauerte daher auch ganze 14 Jahre (1867–1881, im ersten Jahr konnten die Arbeiter nur siebenmal anlanden). Seit 1990 läuft er im automatischen Betrieb, zuvor war der Turm bewohnt. Was uns zur Geschichte dieses Bandes bringt.

Die ist diesmal nicht im Reportage-Stil gehalten und setzt zu Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein. Germain ist einer der Leuchtturmwärter, die hier ihre 20-Tage Schichten absolvieren und stets hoffen, dass die meist raue See es danach erlaubt, ihren Arbeitsplatz wieder zu verlassen. Nicht so Germain. Er ist gerne hier am Ende seiner Welt. Hier in der Einsamkeit versucht er ein Trauma aufzuarbeiten, was ihm bisher aber nicht gelingt. Denn er, der Ich-Erzähler, spricht allabendlich mit seiner imaginären Tochter. Erzählt ihr alte Geschichten rund um bretonische Mythen und Legenden, wie die von der versunkenen Stadt Ys oder vom Geisterschiff Bag Noz. Als er mit seinem knorrigen Kollegen Louis, den seine Vergangenheit ebenfalls umtreibt, nach einem Sturm die gewohnten Instandsetzungs- und Reinigungsarbeiten angeht, findet Germain an der Wand des Treppenhauses alte Aufzeichnungen des ersten Leuchtturmwärters. Der hieß Moizez, war ein Findelkind des Meeres und berichtet vom äußerst schwierigen und beschwerlichen Bau des Turmes auf diesem kleinen, unwirtlichen Felsen. Ein Bau, der nötig wurde, da immer mehr Schiffe an den Felsenriffen zwischen Ar-Men und der Île de Sein, der sogenannten Chaussee, zerschellten…

Eine Geschichte um einen einsamen Leuchtturmwärter (eigentlich sind es ja zwei) kennen wir von Christophe Chaboutés „Ganz Allein“ (erschienen im Carlsen Verlag). Emmanuel Lepage geht hier einen völlig anderen Weg. Er beschränkt sich nicht auf das Innenleben des/der Wärter(s), sondern siedelt seine Geschichte inmitten von bretonischen Sagen an, die er mit der Baugeschichte des Leuchtturmes (also doch ein wenig Reportage), dessen erstem Wärter und schließlich Germain selbst verknüpft. Das bewerkstelligt er kunstvoll wie virtuos. Zuerst lässt Lepage Germain seiner (imaginären) Tochter die Sage um die Stadt Ys erzählen, was optisch in einem einfacheren, mittelalterlich anmutenden, bunten Stil gehalten ist. Dann erfolgt die lange Rückblende zu Moizez, ganz mit Brauntönen gestaltet, die einerseits die Jugend des Waisenkindes schildert, ein gesellschaftlich nie akzeptierter Außenseiter, und andererseits den komplizierten Bau von Ar-Men, der von den Menschen auf der Île de Sein skeptisch verfolgt wurde, lebten diese doch auch von den Gütern, die die havarierten und gestrandeten Schiffe „abwarfen“, eine Existenzgrundlage, die der Leuchtturm nun zerstören wird.

Am Ende schlägt Lepage mit der Baugeschichte und dem Leben Moizez‘ einen Bogen zu Germain, der wie dieser die Einsamkeit und den inneren Frieden suchte und sich schließlich gemeinsam mit Louis seiner Vergangenheit und damit seinem Trauma stellen muss. Dann, im Epilog besuchen wir noch einmal gemeinsam mit dem Autor und den beiden letzten Wärtern den Turm, jetzt ganz in schwarz-weißer Realität gehalten. Die bunte Fantasie weicht der tristen Wirklichkeit. Ar-Men leuchtet zwar längst automatisiert, doch ist alles noch da: die Betten, die Küche, die alte Technik, die komplette Einrichtung. Gemeinsam mit dem Dreck der Vogel, mit dem Rost und dem Salz, das an dem Bauwerk nagt, welches nun niemand mehr regelmäßig pflegt und wartet. Und mit den Aufzeichnungen von Moizez, die noch immer oder erneut beginnen, durch die Wand zu schimmern.

Wie kaum ein zweiter versteht sich Emmanuel Lepage darauf, Natur und Landschaften jeweils stimmungsvoll einzufangen, v.a. Dank seiner perfekten Aquarelltechnik. Die Episoden auf See oder an den wilden Küsten in den Vorbänden („Reise zum Kerguelen-Archipel“, 2013 und „Weiß wie der Mond“,2015) zählen dann auch zu den eindrucksvollsten Bildern, die er seinen Lesern präsentiert. Hier in „Ar-Men“ kann er sich Wasser-technisch nun hemmungslos austoben. Die Ansichten des sturm- und wellengepeitschten Leuchtturmes, der den Gewalten trotzt, stehen für sich und könnten auch als Einzelkunstwerke mühelos durchgehen. Dabei übertreibt Lepage in seinen Darstellungen von Riesenwellen, die den Turm beinahe völlig überrollen, nicht im Geringsten, was diverse Fotos im Internet bezeugen. Lepage geht bei seiner Story klug vor und baut nicht nur auf die Szenen im Turm: die Darstellung der Legenden und der lange Rückblick auf das Leben von Moizez und die Baugeschichte von Ar-Men, sorgen inhaltlich und optisch für Abwechslung und bringen das Leben aus alten Zeiten näher. Und die Verknüpfung dieser Geschichten ist ein gelungenes zusätzliches Gimmick. Mit „Ar-Men“ präsentiert uns Lepage erneut einen eindrucksvollen Beweis seiner Kunst. (bw)

Ar-Men
Text & Bilder: Emmanuel Lepage
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-130-6

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