Zeitzeugnis im Comic:American Dream

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Die Hauptfiguren Jurgis und Ona mit ihrer Familie, auf dem Auswandererschiff in die USA. Illustrationen aus Kristina Gehrmann: Der Dschungel (Foto: Verlag)

Die junge Hamburger Illustratorin Kristina Gehrmann adaptiert Upton Sinclairs sozialkritischen Roman "Der Dschungel" als Graphic Novel.

Von Siggi Seuss

Dass eine Graphic Novel 2016 für würdig befunden wurde, mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet zu werden, war ein Novum in der Geschichte des Preises. Dass der erste Band der Trilogie "Im Eisland" von Kristina Gehrmann über den tragischen Verlauf der Arktisexpedition von John Franklin darüberhinaus den Preis in der Sparte "Sachbuch" erhielt, darf ebenfalls als ein Schritt der Juroren in Richtung Comic- Kunst verstanden werden.

Nun hat sich die junge Illustratorin aus Hamburg erneut einem historischen Stoff gewidmet, einem, der von Upton Sinclair 1906 in seinem Roman "Der Dschungel" mit Elementen einer Sozialreportage bearbeitet wurde - eine ungeschminkte Wiedergabe der Verhältnisse in den Schlachthöfen und Fleischfabriken Chicagos um die Jahrhundertwende. Der Sozialist Sinclair liefert in seinem ersten Welterfolg eine detaillierte Schilderung der von Profitgier, Ausbeutung und Korruption beherrschten Arbeitsverhältnisse armer Leute, die in den monströsen Fabriken schufteten. An der Seite einer litauischen Auswandererfamilie führt uns der Autor in die Hölle der Union Stockyards von Chicago. Der gutmütige und gutgläubige Jurgis und seine Verlobte Ona kommen, zusammen mit ihrer achtköpfigen Familie - wie Millionen andere Einwanderer aus Europa in dieser Zeit -, voller Hoffnung und Illusionen ins Land der Verheißungen, um ihren American Dream zu verwirklichen. Sie ziehen sogar in ein einfaches Häuschen, das ihnen zum Mietkauf angeboten wird, weil sie glauben, die hohen Belastungen durch gemeinsame Anstrengungen schultern zu können. Dass sie von skrupellosen Geschäftemachern über den Tisch gezogen werden, wird ihnen genauso schnell bewusst wie die Unmöglichkeit, Jobs zu finden, von denen man gesichert leben kann - von den katastrophalen Arbeitsbedingungen ganz abgesehen. Mit unverstelltem Blick und schnörkellos schildert Sinclair die fortschreitende Verelendung der Familie, lässt jedoch in Jurgis schließlich die Erkenntnis reifen, dass das Unrecht nur durch die Solidarität der Arbeiter gebrochen werden kann. Damit wird die Tonart des Romans zunehmend proklamatorisch - angesichts des geschilderten Elends eine durchaus gewollte Wendung.

Kristina Gehrmann hält sich in ihrer Graphic Novel an die Chronologie der tragischen Ereignisse. Nur den Tod Onas blendet sie am Ende aus. Wie schon bei "Im Eisland" mögen sich die von farbigen Comics geprägten Leser wundern, wie schnell sie die digital bearbeiteten Schwarzweißbilder, denen man ihre Nähe zur Illustrationskunst der Mangas ansieht, ins Geschehen ziehen: ausdrucksstarke Gesichtszüge, trotz schlicht wirkender, aber präzis gesetzter Strichführung von großen Augen, Nase und Mund. Sorgsame Schattierung der Szenerie, um den Eindruck von Tiefe zu verstärken. Realistische Hintergründe, wie Straßenzüge, Skylines und Fabrikfassaden, Werkhallen und schier endlose Viehgatter. Und vor allem eine ausgewogene Bild- und Seitenkomposition, zwischen Nahaufnahmen und Totalen, mit Perspektivwechseln, die einem suggerieren, man verfolge die Handlung aus verschiedensten Blickwinkeln wie in einem Film - von drinnen, draußen, oben, unten und auf Augenhöhe der Charaktere. Diese Bilddramaturgie bindet Aufmerksamkeit und bringt uns in elf Kapiteln die katastrophalen Verhältnisse in den Stockyards nahe, als seien wir teilnehmende und mitfühlende Beobachter des Geschehens. So wünschen wir uns Literaturadaptionen in Gestalt von Graphic Novels. (ab 14 Jahre)

Kristina Gehrmann: Der Dschungel. Nach dem Roman von Upton Sinclair. Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 382 Seiten, 28 Euro.

© SZ vom 17.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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