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Streben nach Glück: Eine Seite aus dem ersten Band von "Solanin".

© Tokyopop

Mangazeichner Inio Asano: Die Seele der Jugend

Inio Asano ist so etwas wie ein Nationalschatz. Kaum ein Mangaka spricht einer ganzen Generation junger Japaner derart aus der Seele. Der Verlag Tokyopop widmet dem Ausnahmetalent jetzt eine Werkausgabe.

Asano erzählt von jungen Menschen, die unter gesellschaftlichem und familiärem Erwartungsdruck leiden, unter Perspektivlosigkeit und der Friss-oder-stirb-Mentalität eines außer Kontrolle geratenen, sich von innen selbst zerfressenden Kapitalismus, der seit zwanzig Jahren in der Wirtschaftskrise steckt. Demgegenüber stehen die Hoffnungen, Wünsche und Träume der Jugend, die Leidenschaften, Freundschaften und Liebschaften, die unter den Anforderungen des Erwachsenenlebens erdrückt zu werden drohen.

Bisher haben sich zwei Verlage in Deutschland an Asanos Manga gewagt: Egmont veröffentlichte bereits um 2007 die zwei Bände von „What a Wonderful World“, welche trotz damals noch kaum Gehör findenden Kritikerlobs sang- und klanglos unterging und heute auch nicht mehr lieferbar ist. 2010 versuchte Schreiber & Leser mit „Sun Village“ sein Glück, leider mit ähnlichem Ergebnis. Der Einzelband ist allerdings noch lieferbar.

Ein Schicksalsschlag, der alles verändert

Tokyopop ließ sich davon glücklicherweise nicht abschrecken und kaufte gleich alle bislang in Deutschland unpublizierten Asano-Lizenzen ein. Asanos dreizehnbändiges Opus magnum „Gute Nacht, Punpun“ veröffentlicht der Hamburger Verlag seit diesem Frühjahr. Bislang sind zwei Bände erschienen. Gleichzeitig erschien auch schon das zweibändige „Solanin“. Im Herbst geht es dann mit „Das Feld des Regenbogens“ und „Mädchen am Strand“ weiter. Tokyopops Mut muss man hier wirklich applaudieren, denn nicht nur bereichert Asano qualitativ das deutsche Manga-Angebot wie kaum ein anderer Mangaka. Die Werkausgabe glänzt auch Dank der hervorragenden Aufmachung mit hochwertiger Klappbroschur und edlem Prägedruck und den herausragenden Übersetzungen von Sakura Ilgert. 

„Solanin“ kann man hierbei vielleicht als Asanos Hauptwerk auffassen. Die Helden des Manga sind Langzeitstudenten und Freeter, also Selbstständige und Gelegenheitsjobber, die sich von Arbeit zu Arbeit hangeln, nie wissend, wie lange sie noch mit ihrem Geld aushalten. Meiko ist eine von ihnen. Kaum ein Jahr nach dem Studium schmeißt sie ihren Job, der sie anödet. Ihr Freund Taneda, der in einer Grafikagentur arbeitet, kann sich mit seinem Gehalt nicht einmal selbst über Wasser halten. Und so werden Meikos dahinschmelzende Ersparnisse zu einem tickenden Countdown, bis zu deren Ablauf sie sich entschieden haben muss, wie ihr zukünftiges Leben aussehen soll. Mit aller Kraft versucht sie, sich an die Unbekümmertheit der Jugend zu klammern, und überredet Taneda, den alten Traum von der eigenen Band mit ein paar alten Studienfreunden wieder aufleben zu lassen. Doch ein schwerer Schicksalsschlag droht das fragile Gebilde jugendlicher Unvernunft endgültig einstürzen zu lassen.

Große Lebensweisheit - und das mit Mitte 20

Mit Manga verbindet man ja oft die Ausdruckskraft der Figuren, die in der Erzählung deutlich stärker gewichtet wird als die Entwicklung eines voranschreitenden Plots. In diesem Sinne ist „Solanin“ so sehr Manga wie kaum ein anderes Werk. Die emotionale Wucht, mit der „Solanin“ einen erwischt, ist außergewöhnlich. Das ist umso bemerkenswerter, da Asano so vieles aus Kleinigkeiten, aus belanglos erscheinenden Episoden und Aussagen heraus entwickelt. Die Figuren sind einem sofort sympathisch. Dafür hat Asano einfach ein Händchen. Viel liegt sicher auch an den Asano-typischen Figurendesigns mit den charakteristischen, breiten Gesichtern, die viel Lebensfreude vermitteln.

Jugendliche Unvernunft: Ein Panel aus „Solanin“.
Jugendliche Unvernunft: Ein Panel aus „Solanin“.

© Tokyopop

Es wird viel gelacht in „Solanin“. Der Manga findet immer wieder Platz für Albernheiten, verspielte Posen, Grimassen und Sticheleien, teilweise nur in einzelnen, zusammenhanglosen Panels völlig frei neben der eigentlichen Handlung herlaufend. Und im nächsten Augenblick bricht Asano einem dann wieder gnadenlos das Herz, ohne dabei melodramatisch zu werden. Fast der gesamte zweite Band widmet sich der emotionalen Aufarbeitung eines Schicksalsschlags – und ist dabei trotzdem genauso humorvoll und lebensbejahend wie der erste. Dieses große dynamische Spektrum im Gefühlsleben der so glaubwürdig wirkenden Figuren ist es wohl, das einem beim Lesen mitten in die Seele trifft.

Zwischendurch lässt Asano seine Figuren immer wieder auf schwarzem Panelgrund über ihr Leben, ihre Gefühle und ihr Streben nach Glück nachdenken, arbeitet dies aber geschickt in den grafischen Fluss der Seiten ein (was in der deutschen Ausgabe aufgrund des Unterschieds zwischen japanischem und westlichem Schriftbild zugegeben etwas verloren geht). Auch sonst ist „Solanin“ visuell überwältigend. Die extrem detaillierten, realistischen Hintergründe lassen einen direkt in die Handlungswelt eintauchen. Die Figuren sind in ihren Gesichtsausdrücken und Gesten auch grafisch sehr expressiv. Für Panelfolge, Lesefluss und Komposition zeigt der Manga ein geradezu unheimliches Gespür. Man glaubt es kaum, dass Asano bei der Fertigstellung des Manga selbst erst Mitte zwanzig war, so beeindruckend sind seine zeichnerischen und erzählerischen Fertigkeiten, so ergreifend ist die Lebensweisheit, die einem aus den Seiten entgegen sprüht.   

Uns gehört die Zukunft

Teils scheint Asano eine elegische Hymne auf die Vergänglichkeit der Jugend anzustimmen, ohne dabei allerdings, wie in Japan oft üblich – man denke beispielsweise an die Filme eines Hayao Miyazaki – in naiven Sentimentalitäten zu ersaufen. Aller Tragik zum Trotz ist „Solanin“ letztendlich aber von Hoffnung bestimmt. Wer seine jugendlichen Träume bewahrt, so scheint uns Asano sagen zu wollen, wer seine Freundschaften pflegt und seinen Spieltrieb nicht aufgibt, dem kann die Zukunft nichts anhaben, der wird selbst nicht Teil einer toten Gesellschaft, die von Phantomen wie Karriere und finanzieller Absicherung regiert wird.

Oder nicht? So didaktisch, wie sich das hier liest, gibt sich Asano natürlich bei Weitem nicht. Was man sich am Ende für einen Reim aus der Geschichte machen soll, steht nicht auf den Seiten, da ist man als Leser schon selbst gefordert. „Solanin“ erzählt in erster Linie von Menschen, die sich wahr anfühlen. Und, zumindest davon scheint Asano uns überzeugen zu wollen, diese Menschen sind keine Versager, auch wenn sie ihren Job schmeißen oder ihre Regelstudienzeit schon lange überschritten haben. Stattdessen verdienen sie unseren Respekt, denn es ist ungemein schwierig, sich allgegenwärtiger Anforderungen zu erwehren und seine Leidenschaft, seine Freiheit, seine Träume nicht aufzugeben. Und wenn das alles nur für den einen Moment ist, wo man auf der Bühne eines kleinen Clubs mit guten Freunden einen Song eines ganz besonderen Menschen singt, und auch, wenn daraus niemals eine Karriere wird, so ist es das alles wert. Denn in diesem Moment ist man am Leben.

Leben für den einen Moment: Musik spielt in „Solanin“ eine große Rolle.
Leben für den einen Moment: Musik spielt in „Solanin“ eine große Rolle.

© Tokyopop

Inio Asano – Solanin. Tokyopop, zwei Bände, 208 und 224 Seiten, je 12 Euro. Einen Überblick über seine weiteren bei Tokyopop erscheinenden Bücher gibt es hier. eine Leseprobe von „Solanin“ gibt es hier. Und eine Rezension unseres Autors Michel Decomain von Inio Asanos „Gute Nacht, Punpun“ gibt es hier.

Unser Autor Michel Decomain studiert Filmwissenschaft und Japanstudien in Berlin. Er schreibt und schrieb unter anderem für die „Mangaszene“ und „Comicgate“, ist Mitherausgeber der Doujinshi-Anthologie „Baito Oh!“, betreut als Redakteur diverse Comic-Projekte für den Comic-Culture-Verlag und gibt gelegentlich Workshops zu Storytelling und Manga. Gegenwärtig arbeitet er als Szenarist an mehreren Comic-und Manga-Projekten.

Michel Decomain

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