Der Tessiner Schriftsteller Alberto Nessi war unlängst für eine Lesung nach Rifferswil eingeladen worden. Dort machte er wunderliche Begegnungen, die ihn zu seltsamen Gedanken über Gedichte und Glühwürmchen anstifteten.
Es stimmt nicht, dass die Glühwürmchen verschwunden sind, wie Pier Paolo Pasolini 1975 in einem Text seiner «Freibeuterschriften» behauptet hatte. Er verglich darin das Schicksal der leuchtenden Insekten mit der kulturellen Vielfalt, die von der Industrialisierung ausgelöscht worden sei. Ich habe erst gerade einige Glühwürmchen in meinem Garten gesehen.
Nun aber bin ich in einem kleinen Dorf zwischen Zug und Zürich für eine zweisprachige Lesung, deutsch und italienisch: zwei Musiken treffen aufeinander. Zwar gibt es hier keine Glühwürmchen, aber das Leuchten von Azaleen und Rhododendren in einem zauberhaften botanischen Garten. Die Landschaft ist eine idyllische Oase im wirtschaftlichen Zentrum der Schweiz, die ihrerseits Polemiken hervorrief, da der hier abgewickelte Rohstoffhandel in manchen Ländern viele Leben ausgelöscht habe.
Jedoch kenne ich hier in Rifferswil einen Mann, der die Quellen rettet. Es gibt hier ein Bächlein, das man so auch in Arkadien finden könnte. Es durchquert friedlich das Dorf und wird von keinen Dämmen eingepfercht, es plätschert durch die Landschaft, eingerahmt von Schilfgras, Zwergahorn, Schneeball, Kornelkirsche, Weiden, Gräser, Wicken und Heckenrosen, die nach dem Dung der Felder riechen. Enorme Traktoren fahren hier zackig vorüber, die Bauern sind reich, reicher als die Veterinäre; nicht gerade wie im Berner Oberland, aber immerhin . . .
Respekt freilich vor den Bauern, wenn sie die Landschaft solcherart zum Leuchten bringen und nicht bloss die schönen weiss-schwarzen Kühe melken, die geradewegs den Liebig-Bildchen unserer Kindheit nachempfunden scheinen und die nun bewegungslos in der frühen Sonne meditieren.
Die Deutschschweizer verstehen es, Wunder zu vollbringen, wenn sie wollen.
Am Jonenbach begegne ich einem übergewichtigen, schwitzenden Mädchen, den schwarzen Hund an der Leine und Kopfhörer auf den Ohren. Es weist mir den Weg nach Kappel, wo vor einigen Jahrhunderten die alten Eidgenossen, im Krieg gegen die Protestanten, mit grossen Kellen eine Milchsuppe löffelten: noch ein Liebig-Bildchen aus unserer Schulzeit . . . Dann kreuzt meinen Weg eine schwarze Katze auf drei Pfoten, die gerade maunzend ihren einsamen Spaziergang macht. Man begegnet also interessanten Wesen an dem fröhlichen Bach: dem Herrn der Quellen, dem übergewichtigen Mädchen, der dreibeinigen Katze, Zwingli, der ins Gras beisst in der Schlacht, Goethes Heidenröslein . . .
Gestern Abend las ich ein paar Seiten Prosa und Lyrik in der kleinen Gemeindebibliothek von Rifferswil, wo man doch tatsächlich in einer schmucken Vitrine Bücher von Tessiner Autoren ausgestellt hat, in einem Dörfchen von 1075 Einwohnern: Die Deutschschweizer verstehen es, Wunder zu vollbringen, wenn sie wollen. Wir haben über Literatur gesprochen in einem dieser Dörfer, die mehr zuwege bringen als die Städte, sofern da nur die richtigen Leute wohnen. Das ist bei uns im Tessin nicht anders, ebenso in Italien.
Wir beobachten es allenthalben: Die Kultur gedeiht heute oft in kleinen Städten oder an abgelegenen Orten: Sant'Arcangelo di Romagna, Rifferswil, in den Tessiner Breggia-Schluchten . . . Giacomo Leopardi macht in einem seiner «Opuscula moralia» folgende Beobachtung: Das literarische Volk der grossen Städte sei weniger in der Lage, sich eine Meinung von den Büchern zu machen, als etwa jenes der kleinen Städte: «da nämlich in den grossen Städten die Dinge vielfach falsch und flüchtig seien, so sei da auch die Literatur häufig falsch, flüchtig oder oberflächlich».
Vielleicht also war dies die verzauberte Landschaft, von der Carla einst sprach, als sie, viele Jahre ist's her, von der Universität Zürich zurückkehrte und mir von dort erzählte. Wir liebten uns auf unsere seltsame Weise, indem wir, auf der Suche nach dem Geheimnis, das die Poesie ist, am Stadtrand in einen grünen Apfel bissen oder im Restaurant an den Papierblumen schnupperten. Und sooft ich auf Reisen bin, fällt mir auf, dass es auch heute ein grosses Bedürfnis für Poesie gibt in unserer prosaischen Gesellschaft.
Die Poesie lebt im Schatten, sie wird aus vielerlei Gründen nur von wenigen gelesen: Ein wenig glaubt man, sie sei den Spezialisten vorbehalten, ein wenig hat sie einem die Schule verdorben. Statt die Freude an der Lektüre der Texte zu wecken, schüchtern die Lehrer ihre Schüler häufig mit interpretatorischer Folter oder mit ihren Fragenkatalogen ein. Freilich auch und nicht zuletzt verloren manche die Lust, weil zu viele Verseschmiede die Wasser verschmutzen, die den Parnass herunterfliessen.
«Muss ich das alles lesen?», rief entsetzt der Jugendliche, der von der Mutter – was sind die heutigen Heranwachsenden bloss für Muttersöhnchen – bei der Wahl eines Sommerbuches begleitet wird: Aus seinem Gesicht verschwand augenblicklich jede Lebensfreude. Ich habe die Frage vor wenigen Tagen in einer Buchhandlung jenseits der Grenze aufgeschnappt; vielleicht bezog sie sich auf eine vom Lehrer empfohlene Lektüre, ich weiss es nicht. Tatsache jedoch ist, dass der Jugendliche nichts davon wissen will, er ist unberührt davon. Die Spassgesellschaft hat ihm die Freude daran verdorben. Oder ist es dem Lehrer vielleicht nicht geglückt, ihm die Lust an den Wörtern einzugeben?
Auf jene Frage könnte ich antworten: Nein, nicht aus Pflicht sollst du lesen, aber der Freude wegen. Lesen ist ein Akt der Freiheit, anarchisch. Gefällt dir dieses Buch nicht? Nimm ein anderes! Der englische Dichter W. H. Auden sagte es so: «Das Vergnügen ist fern davon, eine unfehlbare kritische Richtschnur zu sein; sie ist aber die am wenigsten trügerische.»
Die Dichter, die wirklichen Dichter, können dich erfrischen, vergnügen, entzücken; sie lehren dich, nicht nur mit dem Intellekt, sondern auch mit dem Herzen zu denken. Du schadest dir selber, wenn du sie nicht liest; wenn du nicht lernst, den tanzenden Glühwürmchen der Hoffnung zu folgen, die mit ihren flackernden Lichtern aufflammt, erlischt, wieder aufflammt.
Der Schriftsteller Alberto Nessi lebt in Bruzella (Ti). Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung der Erzählband «Milò» (Limmat-Verlag, 2016). Im gleichen Jahr wurde er mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet.
Aus dem Italienischen von rbl.