Pirouetten drehen oder Comics zeichnen? Jugendbücher stellen Rollenklischees infrage

Weiblichkeitsideale und Selbstbestimmung sind zentrale Themen aktueller Jugendbücher. Gesellschaftliche Debatten wie die #MeToo-Bewegung stossen diese Auseinandersetzung ebenso an.

Manuela Kalbermatten
Drucken

Mädchen und junge Frauen sind in der Populärkultur so sichtbar wie nie zuvor. Von «Game of Thrones» über Kino-Blockbuster wie «Wonder Woman» bis zu den in jüngster Zeit omnipräsenten Biografien unerschrockener «rebel girls» werden sie als einflussreiche Akteurinnen ins Licht gerückt. Diese Entwicklung schlägt sich auch auf dem jugendliterarischen Markt nieder. In phantastischen Texten etwa werden Mädchen weit öfter als Knaben als Symbole des Widerstands und der Hoffnung inszeniert: Sie rebellieren erfolgreich gegen Strukturen, die sie und andere in ihrer Selbstbestimmung beschneiden.

Anderseits hinterlassen virulente Geschlechterdebatten, wie sie in jüngster Zeit vor allem durch die #MeToo-Bewegung in Gang gesetzt wurden, ebenfalls deutliche Spuren in der Jugendliteratur. Viele Texte machen sexuelle Gewalt sehr explizit zum Thema. Dabei stehen düsterste Gesellschaftsdiagnosen wie etwa im Roman «Du wolltest es doch» der irischen Schriftstellerin Louise O’Neill neben leiseren Texten wie jenem der Amerikanerin Marci Lyn Curtis, die in «Dieser Augenblick, erschreckend und schön» das Porträt einer hartnäckigen Überlebenskünstlerin zeichnet.

Widersprüchliche Erwartungen

Beide stellen klar heraus, dass sexuelle Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist. Sie erzählen aber auch davon, dass jeder Mensch mit dem Trauma anders umgeht: dass es in Ordnung ist, zusammenzubrechen, zu weinen und zu toben, dass es aber auch in Ordnung ist, wieder Spass zu haben, Sex zu haben: zu überleben.

In ihrer Graphic Novel «Pirouetten» erzählt Tillie Walden aus dem Leben einer jungen Frau, die als Eiskunstläuferin unter Konkurrenzdruck und Schönheitsidealen leidet. (Bild: Tillie Walden)

In ihrer Graphic Novel «Pirouetten» erzählt Tillie Walden aus dem Leben einer jungen Frau, die als Eiskunstläuferin unter Konkurrenzdruck und Schönheitsidealen leidet. (Bild: Tillie Walden)

Zwischen diesen Polen sind viele Werke angesiedelt, die Fragen nach den Folgen von Rollenbildern und -zwängen aufwerfen und sich kritisch mit den Idealen beschäftigen, die an junge Mädchen herangetragen werden: nämlich leistungsstarke Subjekte zu sein und gleichzeitig einem recht standardisierten Bild von Weiblichkeit zu entsprechen. Die erst 22-jährige Amerikanerin Tillie Walden, die 12 Jahre lang Eiskunstläuferin war, legt mit ihrer autobiografischen Graphic Novel «Pirouetten» eine so subtile wie kraftvolle Auseinandersetzung mit diesen Anforderungen vor, die im Aufruf ihrer Trainerin – «Ich erwarte saubere Beinarbeit und perfekte Armhaltung. Und ein Lächeln» – sinnfällig zum Ausdruck kommen.

Schwester Zombie

klm. · Eine vielleicht einzigartige Fusion der oft stereotyp gesetzten Bilder von starker Heldin und verletzlichem Mädchen gelingt der Comic-Künstlerin Olivia Vieweg in ihrer apokalyptischen Graphic Novel «Endzeit». In der von Zombies belagerten Gegend um Weimar und Jena schliessen sich die schüchterne, etwas naive Vivi und die mit allen Wassern gewaschene Eva zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen, auf die der feministische Wahlspruch «Sisterhood is powerful» im besten Sinne zutrifft. Gemeinsam haben die beiden Teenager ausser ihrem unbezwingbaren Hunger nach Leben in einer vom Tod gezeichneten Welt eigentlich nichts. Ihr spontanes Bündnis erweist sich aber nicht nur als erstaunlich dauerhaft, sondern als in jeder Hinsicht ermächtigend und heilsam – auch, als sich herausstellt, dass Eva selbst infiziert ist und Vivi durchaus gefährlich werden könnte. Vor dem Hintergrund des apokalyptischen Standardrepertoires, in dem über düsterste Bilder meist der utopische Horizont des heterosexuellen Liebespaars oder der Kernfamilie gespannt wird, erscheint das Duo nicht nur als erfrischende Alternative. Es verleiht dem bis zur letzten Seite spannenden, zuweilen ziemlich blutigen Werk auch eine hoffnungsvolle Note, die lange nachschwingt.

Olivia Vieweg: Endzeit. Graphic Novel. Carlsen, Hamburg 2018. 288 S., Fr. 28.90 (ab 14 Jahren).

Den erbarmungslosen Leistungsdruck und die (verinnerlichten) Mechanismen von Wettbewerbsmentalität und Selbstdisziplinierung inszeniert sie in Panels von endlosen Tagen, an denen die Protagonistin auf und neben dem Eis konstant gegen Schlafmangel und Kälte kämpft. Mal duckt sich Tillie unter dem Blick ihrer Rivalinnen weg; mal geniesst sie den Triumph, ganz oben auf der Rangliste zu stehen. Immer wieder hadert sie mit den rigiden Kleider- und Make-up-Vorschriften.

Vor allem aber kämpft sie mit dem Gefühl, ein Leben zu leben, das sie so eigentlich nicht leben will. Dass sie damit nicht allein ist, schreibt Walden virtuos ins reiche Mienenspiel ihrer unterschiedlichen Mädchenfiguren ein. Stärke und Selbstbestimmung, das zeigt ihr beeindruckendes Werk deutlich, haben oft wenig damit zu tun, sich einen Platz an der Spitze zu erkämpfen, und mehr damit, sich zu offenbaren in dem, was man ist und fühlt. Sich zum Beispiel in einem hyperfemininen Umfeld als lesbisch zu outen und den Leistungssport aufzugeben, weil man einfach viel lieber Comics zeichnen will.

Überkommene Ideale

Obwohl «Pirouetten» die Geschichte eines ganz spezifischen Mädchens in einem ganz spezifischen Kontext erzählt, spricht der Band Themen an, die in vielen Texten intensiv verhandelt werden: körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, der Umgang mit Leistungs- und Schönheitsidealen und mit der Verachtung, die jenen zuteilwird, die nicht der «Norm» entsprechen.

Leichtfüssig, zuweilen etwas plakativ, immer aber mit der unverkennbaren Absicht, jenen Mut zu machen, die im hochkompetitiven Umfeld der Oberstufe durch alle Maschen fallen, erzählt zum Beispiel Julie Murphy in «Dumplin'» die Geschichte der jungen Willowdean. Die ist, wie sie zu Beginn gleich selbst verkündet, «dick. Das ist kein Schimpfwort. (. . .) Jedenfalls nicht, wenn ich es sage.»

Will hat sich zum Ziel gesetzt, der ganzen Kleinstadt am diesjährigen Schönheitswettbewerb zu beweisen, dass sie auf Bewertungen von aussen pfeift. Dass verächtliche Blicke und auch die enttäuschten Kommentare ihrer Mutter, die sie «Dumplin'» – Knödel – nennt, durchaus ihr Selbstbild getrübt haben, wird ihr aber zusehends bewusst. Und zwingt sie, sowohl in sich hineinzuhören als auch auf Konfrontationskurs zu gehen. Denn einer Actionheldin wie Wonder Woman mag das Selbstbewusstsein in die Wiege gelegt sein.

In einer Welt, die junge Frauen immer noch oft nach ihrem Äusseren beurteilt, ist «body positivity» aber nicht einfach Privatsache. Dass sich immer mehr Texte kritisch mit den Mechanismen befassen, in denen unmögliche Ideale zementiert und «Abweichlerinnen» bestraft werden, ist nur eins von derzeit vielen Zeichen dafür, dass sich die Jugendliteratur in Bezug auf Gesellschaft und Geschlecht wieder stärker zu politisieren beginnt.

Louise O’Neill: Du wolltest es doch. Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt. Carlsen, Hamburg 2018. 366 S., Fr. 28.90 (ab 16 Jahren).

Marci Lyn Curtis: Dieser Augenblick, erschreckend und schön. Aus dem Englischen von Nadine Püschel. Königskinder, Hamburg 2018. 413 S., Fr. 29.90 (ab 14 Jahren).

Tillie Walden: Pirouetten. Graphic Novel. Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt, Berlin 2018. 400 S., Fr. 46.90 (ab 12 Jahren).

Julie Murphy: Dumplin'. Go Big or Go Home. Aus dem Englischen von Kattrin Stier. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 394 S., Fr. 29.90 (ab 12 Jahren).