ZEITmagazin ONLINE: Frau Müller, es ist noch nicht lange her, da haben rechte Gruppierungen und Parteien in Chemnitz und Köthen sogenannte Trauermärsche veranstaltet. Wenn wir jetzt vor dem Totensonntag über Trauer sprechen, müssen wir auch darauf noch einmal blicken: Haben Sie den Eindruck, dass die Trauer dort aufrichtig war?

Heidi Müller: Ob die Trauer aufrichtig war oder nicht, ist aus der Ferne schwierig zu beurteilen. Es hatte den Anschein, als wäre es dort nicht um die Verlustverarbeitung gegangen, sondern um die politische Instrumentalisierung eines Verlustes.

ZEITmagazin ONLINE: Es wurde explizit dazu aufgerufen, auf Trauer Wut und Gewalt folgen zu lassen.

Müller: Das ist sehr gefährlich, denn so kann man einen sogenannten circle of violence in Gang setzen. Mehr Tote und mehr Trauer könnten die Folge sein. Da stellt sich die Frage, wem das wohl nützt. 

ZEITmagazin ONLINE: Die Familie des getöteten Daniel H. hat sich in Chemnitz öffentlich dagegen gewehrt, derart instrumentalisiert zu werden. Ist es legitim, dass Angehörige anderen sagen, wie diese zu trauern haben, oder wie eben nicht?

Müller: Im Falle dieser Familie ist es mehr als verständlich. Da ging es ja zumindest auch um die Instrumentalisierung ihres toten Angehörigen. 

ZEITmagazin ONLINE: Setzt sich jemand, der öffentlich gegen den Willen der Angehörigen trauert, grundsätzlich in ein moralisches Unrecht?


Müller: Hier geht es meiner Ansicht nach nicht um Recht oder Unrecht. Aber wie sieht es denn mit dem Mitgefühl für die trauernden Angehörigen aus? Ist man da irgendwie sensibel? Oder wird hier einfach ohne Rücksicht auf Verluste Öffentlichkeit produziert? Das wirft ja auch ein Licht auf die behauptete Trauer.

ZEITmagazin ONLINE: Was bedeutet im Sinne der Forschung eigentlich Trauer?

Müller: Trauer ist eine natürliche Reaktion auf eine Verlusterfahrung beziehungsweise wird damit die Bewältigung der Verlusterfahrung bezeichnet. Mit Verlust kann der Tod eines Angehörigen aber auch der Verlust von beispielsweise Heimat oder Sprache gemeint sein.

ZEITmagazin ONLINE: Hat Trauer etwas Kulturspezifisches?

Müller: Definitiv. So wird in Deutschland kaum jemand davon ausgehen, dass es eine schwere Sünde darstellt, wenn nach dem Verlust eines Kindes noch eine gewisse Zeit viel geweint wird. In anderen Gegenden der Welt ist offene Trauer aber verpönt oder schnell abgehandelt. Hinzu kommt: Wir sollten gerade im Deutschen immer wieder klären, worüber wir eigentlich sprechen. In der englischen Sprache etwa ist eine viel genauere Differenzierung möglich. Trauer kann bereavement, grief oder mourning sein. Dazu gibt es noch sorrow und sadness. In Deutschland wird alles unter dem Begriff der Trauer subsumiert. Das heißt, dass für die Beschreibung der emotionalen Reaktionen, des biopsychosozialen Prozesses und die soziale Rolle nur eine Begriffsgruppe – Trauer, trauern, Trauernde – zur Verfügung steht.  

ZEITmagazin ONLINE: Was bedeutet das?

Müller: Es spielt beispielsweise eine Rolle bei der Frage, ob Trauer ein Ende hat. Ist Trauer als Emotion gemeint? Dann ist das der Fall, denn darin liegt ein Kennzeichen von Emotionen, die ja im eigentlichen Sinn ganz konkrete Erregungen, sichtbare Gemütsbewegungen sind. Ist die soziale Rolle als trauernde Person gemeint, dann hat auch hier Trauer ein Ende. Hinterbliebene berichten oft, dass die gesellschaftliche Schonzeit nach einem Verlust recht schnell wieder vorbei ist. Doch haben die Sehnsucht und der Kummer im Innern je ein Ende? Das ist schwierig zu beantworten. Hinterbliebene können den Schmerz auch Jahre später noch fühlen. Er wird schwächer, doch er verlischt nie ganz.

ZEITmagazin ONLINE: Verläuft das bei allen Menschen in etwa gleich?

Müller:  Natürlich nicht, aber das Vermögen, einen Verlust zu bewältigen, ist in uns allen angelegt. Alle Menschen können trauern. Und allein das Bewusstsein, dass Menschen aufgrund  ihrer Natur dazu in der Lage sind, hilft vielen schon, die sich damit vielleicht schwerer tun als andere. Das erlebe ich in der Trauerberatung immer wieder.

ZEITmagazin ONLINE: Was sagen Sie den Menschen konkret, was über "Es wird schon alles werden" hinausgeht?

Müller: "Das wird schon wieder", "Schau nach vorne", das sind Plattitüden, die viele Betroffene verärgern oder verletzen können. Die zweifeln ja häufig ohnehin schon an sich und denken, sie machen etwas falsch, weil sie sich belastet fühlen oder die Verarbeitung nicht so schnell verläuft, wie sie das wollen. Oft äußern sie aber auch die Sorge, gar nicht richtig trauern zu können. Wenn es in der Situation angemessen ist, sage ich, dass jeder Mensch trauern kann, aber dass jeder es auf seine Art macht und dass viele unterschiedliche Faktoren das Verlusterleben beeinflussen. Häufig sind viele erst einmal beruhigt, weil sie dann wissen, dass sie nichts grundsätzlich falsch machen.      

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ZEITmagazin ONLINE: Wozu dient der Trauerprozess, der – wenn ich Sie richtig verstehe – evolutionär in uns angelegt ist, aber in seinen Formen kulturell und individuell geprägt ist?

Müller: Der Prozess dient dazu, sich an die neue Lebenssituation anzupassen. Einerseits setzen sich die Betroffenen mit den Erinnerungen, dem Schmerz und allem, was direkt mit dem Verstorbenen zu tun hat, auseinander. Andererseits sind sie mit den Anforderungen konfrontiert, die das Leben ohne die verstorbene Person an sie stellt. So pendeln Betroffene hin und her zwischen Verlustverarbeitung und der Bewältigung des neuen Lebens. Wichtig sind Pausen, denn das alles kann sehr kraftraubend sein.  

ZEITmagazin ONLINE: Viele Menschen würden sich gewiss wünschen, diese Trauer nicht aushalten zu müssen.

Müller: Das ist sicher für viele ein zutreffender Gedanke. Insbesondere in der heutigen Zeit, wo es immer schnell gehen muss. Aber wir Menschen sind soziale Wesen. Wir gehen Bindungen zu anderen ein. Sie sind für uns überlebenswichtig. Stirbt jemand, der uns nahestand, ist die Trauer in den Worten des bekannten Trauerforschers Colin Murray Parkes "the price we pay for love". 

ZEITmagazin ONLINE: Glauben Sie, dass unsere derzeitige gesellschaftliche Polarisierung durch die geteilte Trauer über einen kollektiv erlebten Verlust überwunden werden könnte? Als Lady Di starb, lagen sich völlig fremde Menschen in den Armen. Als Hans Martin Schleyer 1977 von der RAF ermordet wurde, trauerten Konservative und gemäßigte Linke vereint. Und auch in unserer Arbeit erleben wir, dass Menschen sich massiv und überaus warmherzig für Texte über Verlusterfahrungen interessieren. Als suchten sie nach einem gemeinsamen Nenner, nach kollektiver Empathie.

Müller: Trauer kann Verbindendes schaffen. Sie ist aber kein Allheilmittel zur Überwindung von Polarisierung oder politischem Zwist. Die von Ihnen genannten prominenten Beispiele liegen lange zurück, insofern ließe sich annehmen, es gebe diese öffentliche Form kollektiver Trauer heute so nicht mehr.