Einleitung
Am Ende ging alles sehr schnell. Am Vormittag des 6. November 2024 war Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt, und am Abend verkündetet Olaf Scholz den Rausschmiss von Christian Linder. Die erste Regierung aus SPD, FDP und den Grünen1 ist damit gescheitert. Bereits im Frühjahr zeichnete sich dieses Ende ab, und lange schien es, als wären die Grünen die Hauptschuldigen. Denn ihre Deutungshoheit schmolz genau so schnell wie ihre Wahlergebnisse. Die Grünen wurden von der Partei, die jeder gut finden musste, zur Partei, die keiner mehr gut finden durfte.
Das Ampel-Aus fing mit dem Verlöschen des Grünen Lichts an, doch an ihrem Ende wirkten sie wie unbeteiligt. Die Grüne Unschuld stand am 7. November vorm Kanzleramt und beklagte sich, dass sich das alles »nicht richtig anfühlt«. In dieser Szene erscheinen wie in einem Brennglas die Grüne Politik und ihre Probleme: Man ist dabei und steht doch als moralische Instanz darüber. Man scheitert als Bundesregierung und stellt das eigene Gefühl nach vorn. Man ist Partei der Ökologie und vertritt die Interessen der eigenen Klientel. Im Scheitern der Grünen liegt der Schlüssel, um ihren verzweifelten Hochmut und ihren belehrenden Kleinmut zu verstehen.
Am 18. November beendete ich die Arbeit an diesem Buch. Es ist ein Buch über die Grünen und ein Buch gegen die Grünen. An beidem gibt es in Deutschland keinen Mangel. Denn in keinem anderen Industrieland ist eine Umweltschutzpartei so stark wie hier. Von den einen als Weltenretter geliebt, werden die Grünen von immer mehr Menschen abgelehnt. Die Teilung zwischen Zustimmung und Ablehnung verläuft entlang von Milieugrenzen. Akademisch gebildete Großstädter stehen unerschütterlich zu der Partei, die den Goldstandard ihrer Moral vertritt. Alle anderen schauen mit wachsender Skepsis auf die Belehrungen aus dem Elfenbeinturm. Warum soll man diese übersichtliche Lage nun noch einmal beschreiben?
Die Grünen scheitern. Und ihr Scheitern ist Ausdruck einer Krise unserer Gesellschaft. Die Moral des gebildeten Bürgertums scheint abgewirtschaftet. Allzu häufig offenbart sie sich als Doppelmoral: Man ist für Migration, wohnt aber selbst in einem gentrifizierten Stadtteil, dessen hohe Mieten jeden Flüchtling fernhalten. Man befürwortet den Ausbau von Windkraftanlagen und wohnt in der Stadt. Man begrüßt die bürokratische Gängelung der Wirtschaft, um sie beim klimafreundlichen Umbau zu überwachen, aber ist Beamter. Man predigt Flugscham und ist bereits um die ganze Welt geflogen. Diese plakativen Beispiele für die Doppelmoral sind aber nur der boulevardtaugliche Teil des Grünen Scheiterns. Die Ursache für das Zerbrechen dieses Images liegt nicht allein im Egoismus seiner Anhänger, sondern vielmehr in der fundamentalen Krise der spätindustriellen Gesellschaften. Dieser Niedergang trifft die Grünen besonders hart, da sie das privilegierte Kind der gegenwärtigen Widersprüche sind.
In modernen Gesellschaften gibt es eine Vielzahl von Krisen. Und als wäre die Lage noch nicht kompliziert genug, gibt es einen Streit darüber, welche Krise die Mutter aller Probleme sein soll und welche Medizin dagegen helfen könnte. Politische Parteien entstehen aus den elementaren Widersprüchen einer Epoche, und sie versuchen, eine Lösung dafür zu finden. Die Grüne Partei ist als Reaktion auf die ökologische Krise entstanden. Damit gehört sie zu den wenigen Parteien, die auf einen neuen Typus von Krise reagieren wollen. Doch die Ökologie ist bei den Grünen in den falschen Händen.
Bisher vertraten Parteien menschliche Interessen. Die sozialistischen Parteien kämpften für die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten, die liberal-konservativen Parteien für die Interessen der bürgerlichen Eigentümer, und die faschistischen Parteien sind aus dem Ressentiment derjenigen entstanden, die sich zurückgesetzt und bedroht fühlten. Die Weltanschauungen unterscheiden sich kategorisch und führen entsprechend zu verschiedenen Arten von Parteien.
Die Grünen sind aus dem neuen Widerspruch der Ökologie entstanden. Ökologie bedeutet in seiner einfachsten Definition ein Denken, das die Auswirkungen menschlichen Handelns auf seine Umwelt beachtet. Waren bisher nur menschliche Akteure Gegenstand von Politik, tritt nun die ganze Welt in die Arena. Wie radikal sich ein ökologisches Denken von den bisherigen menschlichen Interessenskämpfen unterscheidet, wird erst langsam bewusst. Die Grünen stehen im Zentrum dieser Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins, und zugleich sind sie ihr Bremsklotz. Denn Grüne Politik steht mit beiden Beinen in menschlicher Interessenspolitik.
Die These, die hier untersucht werden soll, lautet: Die Grünen sind die Partei des neuen Individualismus und nicht der ökologischen Wende. Die ökologische Dimension bleibt hinter den komplexen Ich-Ansprüchen verborgen. Die Grünen sind vor fünfundvierzig Jahren gegründet worden und könnten mittlerweile erwachsen sein. Doch sie agieren noch immer wie ein Teenager, der zwischen lautstarken Forderungen und beleidigtem Trotz schwankt. Die Grünen haben aber nicht nur das Erwachsenwerden vertagt, sie haben vor allem verpasst, die außermenschliche Dimension der Ökologie denkbar und fühlbar zu machen.
Was als Gutmensch mit seiner robusten Doppelmoral zum Spott im Kabarett taugt und was als Hassfigur für andere Parteien dient, ist darum nur die oberflächliche Beschreibung eines Phänomens, das die spätmoderne Gesellschaft prägt. Das neue Individuum ist die reflektierte Gestalt des alten Egoisten. Es nutzt die älteste Form von Politik, indem es die eigenen Ansprüche mit einer allgemeinen Wahrheit verknüpft, und es schließt daraus, dass seine Interessen die Richtung für alle vorgeben dürfen.
Das neue Individuum überführt die alte Anmaßung der Eliten in das schillernde Gewand der Gegenwart und produziert dabei ein Wunderwerk von Paradoxien: Die neuen Eliten verhalten sich wie empörte Teenager, die wissen, dass sie Teenager sind und darum empört sein dürfen. Ihr infantil herrisches Auftreten spekuliert auf die erwachsene Reaktion der Gesellschaft, die ihr Aufbegehren lobt. Das reflexive Individuum ist die trickreiche Gestalt des alten Egoismus, der seine selbstbewussten Ansprüche zur hochstehenden Moral verzaubert.
Lange wirkte der Zauber des reflektiert-naiven Zeitgenossen verführerisch, und vor allem die Medien waren seiner Behauptung erlegen, die progressive Richtung zu kennen. Doch jetzt, wo die Fassade bröckelt, wird sichtbar, wie wenig die Grünen als ökologische Vordenker taugen. Hinter der progressiven Behauptung tritt der auftrumpfende Individualismus hervor, und dieser neue Individualismus sucht nicht nach einer ökologischen Politik, sondern er selbst ist das Problem der Ökologie. Die massenhaften Ich-Ansprüche drohen das Netz der sozialen Systeme zu zerreißen. Wo jeder seine eigene Welt sein will, wird die gemeinsame Erde zum Schlachtfeld der Ansprüche. Und im globalen Maßstab zerreißen die milliardenfachen Konsumansprüche die ökologischen Netze schneller, als sie von der Natur wieder geheilt werden können. Die paradoxe Haltung des neuen Individualismus besteht darin, diese Überforderung zu beklagen und zugleich den Weg des Individualismus weiterzugehen. Die Krise der Ökologie ist zugleich eine Krise derjenigen, die einen Weg zur ökologischen Politik suchen.
Der neue Individualismus produziert nicht nur unendliche Ansprüche an die Welt, sondern er hat auch ein verfeinertes Sensorium für Diskriminierungen aller Art, so macht er die Umwelt zum Objekt seiner Achtsamkeit. Das sensible Ich klagt eine heile Welt ein, weil es sich darin wohlfühlen möchte. So wird die Ökologie durch die Brille der eigenen Empfindung betrachtet, und so werden Umwelt und Gesellschaft zu Objekten, die dem eigenen Wohlbefinden dienen sollen. Gute Luft und reines Wasser gehören zum gleichen Forderungskatalog, zu dem auch Meldestellen gegen »Hass und Hetze« gehören. Das Ziel aller Reinheits-Forderungen ist das eigene Befinden in der Welt. Die Umwelt muss vor Verschmutzung geschützt werden, wie die Minderheiten vor Diskriminierung und das eigene Ich vor Kränkungen bewahrt werden sollen.
Die Grüne Partei ist keine ökologische Partei, sondern eine Partei, in der die Ökologie die Rolle eines geliebten Haustiers einnimmt. Man würde vieles dafür tun, aber der Grund dafür ist die eigene Gefühlsbindung und kein Bewusstsein von der Eigenlogik des Lebewesens. Aus dieser Perspektivverschiebung folgt der seltsam infantile Stil der Grünen. Man fühlt sich von der schmutzigen Welt persönlich gekränkt und ist darum permanent entrüstet über nebensächliche Fehler. Ein falsches Wort oder ein Auto, das mit dem falschen Motor fährt, werden zum Skandal, hinter dem die realen Zusammenhänge verschwinden. Das empörte Ich wird zum Maßstab, durch den Nebensächliches gewaltig und Wichtiges unsichtbar wird.
Die radikale Ich-Perspektive ist das Kennzeichen des Grünen Milieus. Und genau in dieser Ich-Perspektive liegt der Widerspruch zwischen einer ökologischen Politik und einer menschlichen Interessenspolitik. Doch gerade dieser Kurzschluss aller Probleme auf die Ich-Perspektive und ihrem Wunsch nach Wohlbefinden ist das Erfolgsrezept innerhalb des Grünen Milieus. Er ist folgenreich für die Gesamtgesellschaft und gefährlich für die Ökologie der Welt. Das ökologische Scheitern ist also keine Folge einzelner geglückter oder missglückter Grüner Entscheidungen, sondern es ist die zwangsläufige Fehlentwicklung einer Partei, die für ihren gründenden Widerspruch noch immer keine politische Gestalt gefunden hat.
Ich halte die ökologische Frage für eine der relevantesten Fragen unserer Zeit, und ich hoffe, dass es bald in allen Industrienationen Parteien gibt, die sich auf den Weg zu einer ökologischen Politik machen. Eines der größten Hindernisse auf diesem Weg sehe ich in der Ich-Zentrierung der ökologischen Politik durch die Grünen. Je länger die Grünen mit Ökologie identifiziert werden und je mehr auffällt, dass sie die Partei eines Milieus sind, das von der globalen Ausbeutung am meisten profitiert und diesen Profit mit moralischen Skrupeln vor sich und der Welt legitimiert, desto mehr gerät die Ökologie in Misskredit.
Je länger die ungelösten Fragen der Ökologie in den falschen Händen der Grünen bleiben, desto tragischer wird es für die Welt. Grünen-Hasser werden in diesem Buch die Bestätigung für ihren Hass finden. Doch sie werden zugleich lernen, dass der Grund für die scharfe Kritik der Grünen ein gänzlich anderer sein muss. Die Grünen sind nicht gescheitert, weil sie eine ökologische Politik versucht haben. Und die Grünen scheitern nicht nur, weil sie innerparteilich den Widerspruch von hochgestimmter Predigt und machiavellistisch quotierter Machtpolitik bis zum Äußersten treiben. Vielmehr scheitern sie, weil sie bisher noch keine ernsthaften Versuche unternommen haben, die neuen Wege einer ökologischen Politik zu erforschen. Sie segeln unter falscher Fahne. Dafür muss man sie kritisieren und darf sie vielleicht sogar hassen.
Die Ignoranz gegenüber den unbeantworteten Fragen der Ökologie zeigt sich aktuell darin, dass die Grünen anstreben, eine Volkspartei zu werden, und traurig sind, dass sie vom Volk nicht genug geliebt werden. Der Irrtum wäre leicht aufzuklären. So wie jedes Milieu, dessen Ideologie sich als hegemonial empfindet, verwechseln die Grünen den Zuspruch der eigenen Blase mit der Meinung in der Bevölkerung. Dieser Trugschluss ist verständlich, da die Grünen in der privilegierten Position sind, dass ihre Meinung mit der Mehrheit der offiziellen Medien identisch ist. Dass sie in Tagesschau und heute-journal gelobt werden, während die AfD kategorisch verdammt wird, und dass die großen Zeitungen wie ZEIT, SPIEGEL oder Süddeutsche Zeitung wohlwollend über sie berichten und besorgt sind, wenn es ihnen einmal nicht gut ergeht, diese zugewandte Aufmerksamkeit hat die Grünen glauben lassen, die Liebe sei allgemein.2
Doch das ist eine optische Täuschung. Die Grünen sind die Partei des Milieus des neuen Individualismus, und dieses Milieu ist prägend für die Felder der symbolischen Ordnung. Medien, Hochschulen, Kunst- und Kultur-Einrichtungen sind die vorrangigen Arbeitsplätze der kreativen Klasse. Die Dominanz auf diesen Feldern bedeutet aber weder eine Mehrheit in der Bevölkerung noch sichert die hier propagierte Weltanschauung, dass sich eine Mehrheit davon überzeugen lässt. Und vor allem bedeutet die wechselseitige Bestätigung innerhalb des Milieus nicht, dass hier politisch sinnvolle Vorschläge oder ökologische Konzepte erarbeitet würden.
Die optische Täuschung des Grünen Milieus besteht darin, aus der kulturellen Hegemonie im eigenen Umfeld einen Wahrheits- und Machtanspruch für alle abzuleiten. Dass sie in der Homogenität der Meinungsblase die wenigen Andersdenkenden mit moralischer Einschüchterung aus dem Blickfeld drängen können, führt zu dem trügerischen Schluss, dass auch alle anderen ihnen folgen müssen. Je mehr sie realisieren, dass ihre Hoheit an den Grenzen ihrer Stadtviertel endet, desto empörter schimpfen sie über die unzähligen Abweichler in der Bevölkerung. Doch der inflationäre Nazi-Vorwurf, der innerhalb der Milieugrenzen noch zu ängstlichen Reaktionen führt, weckt außerhalb nur noch Achselzucken.
Die Ökologie ist bei den Grünen in falschen Händen, da der Anspruchs-Individualismus den Blick auf das eigene Wohlbefinden richtet und der bevormundende Politikstil das Thema »Ökologie« zu einem verhassten Politikfeld gemacht hat. Das strategische Problem der Grünen besteht darin, dass eine Milieu-Partei, die gerne eine Volkspartei wäre und meint, dafür das Volk erziehen zu müssen, ebendieses Volk gegen sich aufbringt. Und der fundamentale Widerspruch der Grünen Partei besteht darin, dass eine Politik aus der radikalen Ich-Perspektive im kategorischen Widerspruch zur Ökologie steht.
Das Grüne Scheitern ist das Scheitern der aktuell herrschenden Eliten, deren Denkweise nicht mehr zu den Problemen der Realität passt. Wie sich Eliten verhalten, die ihre Macht schwinden sehen, gehört zu den existentiellen Fragen einer jeden Gesellschaft. Die Selbstverteidigung der Eliten kritisch zu verfolgen, gehört zum Fundament der Demokratie. Um besser verstehen zu können, warum die Ökologie bei den Grünen Eliten in den falschen Händen ist, braucht es ein Buch über das Milieu und seine Partei.