Die haarsträubenden Abenteuer des Comics-Zeichners Lewis Trondheim

Der Autor im Dienst seiner selbst: Der Franzose Lewis Trondheim verkörpert das neue Selbstverständnis der Comic-Autoren. Künstler wie er haben die Entwicklung von den traditionellen Comics zur Graphic Novel vorangetrieben.

Christian Gasser
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Herr Hase ist gestorben – es lebe Herr Hase! (Bild: PD)

Herr Hase ist gestorben – es lebe Herr Hase! (Bild: PD)

Just in dem Moment, in dem der kommerzielle Durchbruch greifbar schien, liquidierte Lewis Trondheim seine erfolgreichste Figur: Herr Hase fiel in «Wie das Leben so spielt» (2004), dem zehnten Band seiner «haarsträubenden Abenteuer», einer Explosion zum Opfer. In der Welt der Comic-Serien, in der die meisten Figuren sich nicht einmal umkleiden, geschweige denn altern dürfen, ist der Tod einer Hauptfigur tabu.

Lewis Trondheim brach dieses ungeschriebene Gesetz sehr bewusst, und nicht nur aus Lust an der Provokation: Er befürchtete, Herrn Hases Popularität könnte ihn in Versuchung führen, fortan ein bewährtes Muster zu variieren, um die Erwartungen einer wachsenden Leserschaft zu befriedigen. Wichtig ist dem hyperaktiven Franzosen, von dem allein im vergangenen Jahr ein knappes Dutzend unterschiedlicher neuer Bücher auf Deutsch erschienen sind (siehe Kasten), vor allem eines: Routine und Langeweile zu vermeiden und immer dorthin zu gehen, wo er nicht erwartet wird.

Neues Selbstbewusstsein

Die gegenwärtige Vielfalt und Qualität der Comics hat mehrere Ursachen. Ein wesentlicher Grund ist das Selbstverständnis der Comic-Schaffenden, das sich in den letzten 25 Jahren grundlegend verändert hat. Sie haben ihre Rolle als Dienstleister ihrer Figuren und Verlage abgelegt und verstehen sich heute als Autoren. Erst dieses Selbstbewusstsein ermöglichte es, die Comics von ihrer stereotypen Formelhaftigkeit zu befreien. In diesem Prozess spielte der 1964 geborene Lewis Trondheim eine zentrale Rolle, und so gilt er bis heute als Inbegriff des modernen Comic-Autors.

Kurz nach Herrn Hases Tod verschrieb sich Trondheim, nachdem er innerhalb von nur vierzehn Jahren rund hundert Comic-Alben veröffentlicht hatte und ein Burnout befürchtete, eine Auszeit. Nach lediglich achtzig comicfreien Tagen jedoch setzte er sich bereits wieder an den Zeichentisch, um in «Ausser Dienst» in Form eines Comics die Ängste vieler Comic-Zeichner zu reflektieren: Wie altert man als Comic-Zeichner in Würde? Wie bewahrt man sich Lust und Kreativität? Wie vermeidet man Depressionen und Trunksucht?

Tatsächlich ist die Geschichte der Comic-Zeichner reich an tragischen Schicksalen. Selbst geniale und erfolgreiche Künstler wie Hergé («Tim und Struppi») und Franquin («Spirou», «Gaston Lagaffe») wurden jahrzehntelang von Selbstzweifeln und Depressionen gequält. Viele andere versanken nach einem vielversprechenden Frühwerk in künstlerische Belanglosigkeit.

Neue Comics von Lewis Trondheim

cg. · Neben Herrn Hases überraschendem Comeback sind in den letzten zwölf Monaten ein knappes Dutzend Trondheim-Comics auf Deutsch erschienen. In «Mohnblumen aus dem Irak» (mit Brigitte Findakly, Reprodukt) zeichnet er die Kindheitserinnerungen seiner irakisch-französischen Frau auf. «Ralph Azham: Ein verlöschendes Feuer» (Reprodukt) ist der mittlerweile zehnte Band seiner mit sämtlichen Fantasy-Klischees spielenden Saga. «Mickey's Craziest Adventures» (Zeichnungen: Keramidas, Ehapa) ist der Pastiche eines angeblich auf einem Flohmarkt gefundenen Mickey-Mouse-Abenteuers aus den 1960er Jahren. «Maggy Garrisson» (Zeichnungen: Stéphane Oiry) ist eine schnoddrige Londonerin, die eher zufällig zur gewieften Privatdetektivin wird und es mit korrupten Polizisten, ruchlosen Gangstern und erbärmlichen Kleinkriminellen aufnimmt. 

In «Ausser Dienst», dem zahlreiche Gespräche mit jungen und älteren Kollegen vorangegangen waren, kam Trondheim zu dem Schluss, dass Routine und Wiederholung der Keim der meisten Probleme sind. Der klassische Comic-Zeichner zeichnet zumeist allein in seinem Atelier in Arbeitsteilung mit einem Szenaristen Jahr für Jahr eine Variation des immergleichen Abenteuers desselben Helden – im Erfolgsfall jahrzehntelang und ohne sich zeichnerisch entwickeln zu dürfen.

Der rasende Comic-Autor

Das hat sich dank der Szene um Lewis Trondheim geändert. 1990 gründete er mit fünf Kollegen den unabhängigen Autorenverlag L'Association, der sich von Anfang an als Alternative zur herkömmlichen Bande-dessinée-Produktion verstand. L'Association lehnte Serien und Genres ab und setzte dafür auf persönliche Stoffe mit literarischem Anspruch. Der Comic-Autor trat aus dem Schatten der Figuren hervor.

In «Mohnblumen aus dem Irak» hält Lewis Trondheims Erinnerungen seiner Frau Brigitte Findakly fest. (Bild: PD)

In «Mohnblumen aus dem Irak» hält Lewis Trondheims Erinnerungen seiner Frau Brigitte Findakly fest. (Bild: PD)

Dank ihrem Erfolg trat L'Association eine Entwicklung los, die unterdessen zum Boom der Graphic Novel führte. Trondheim prägte diese Veränderungen wie kein Zweiter. Von Anfang an vervielfältigte der Autodidakt mit verblüffender Rasanz und beängstigender Produktivität Zeichenstile, Erzählweisen, Genres und Kollaborationen. Von philosophischem Minimalismus über autobiografische Bekenntnisse und schmissige Piratenballaden bis zu abstrakten Experimenten war alles jederzeit möglich.

Schon früh setzte er sich sogar über ein L'Association-Dogma hinweg, indem er sich mit «Herrn Hases haarsträubende Abenteuer» und der mit zahlreichen befreundeten Zeichnern entwickelten, humoristischen Fantasy-Saga «Donjon» doch auch selber in die Welt der Serie wagte. Seine Umtriebigkeit bewies, dass sich Autoren-Comics, avantgardistische Experimente und Serien für ein breites Publikum nicht ausschliessen müssen: Man kann sowohl für grosse Konzerne wie für unabhängige Verlage arbeiten, ohne seine Integrität als Autor preiszugeben.

Gewiss gab es in der Comic-Geschichte schon früher eigenwillige und starke Künstlerpersönlichkeiten, doch handelte es sich um Ausnahmen. Heute ist die künstlerische Souveränität normal. Emmanuel Guibert, Blutch, Pénélope Bagieu, Manu Larcenet, Bastien Vivès, Ruppert & Mulot, Aude Picault – um im französischen Sprachraum zu bleiben – sind weder abhängig von einem einzigen Verlag noch fixiert auf ein Genre, eine Serie, eine Figur. Sie wählen ihre Stoffe frei aus, finden für jede Geschichte den passenden Stil, suchen aktiv experimentelle Formate und lassen sich durch die Zusammenarbeit mit anderen Autoren und Zeichnern herausfordern.

Diese kreative Offenheit zieht vermehrt auch Frauen an, die sich in den früheren, stereotypen Männerwelten des Comics verständlicherweise nicht heimisch fühlten. In der Schweiz könnte man die Zürcherin Anna Sommer und den Genfer Frederik Peeters als Beispiele dieser Autorengeneration nennen.

Zum Ritter geschlagen

Der moderne Comic-Autor hat sich auch den früher unflexiblen Verlagen gegenüber das Recht ausbedungen, sich jederzeit neu zu erfinden und seine Leserinnen und Leser zu überraschen. Er hat auch das Recht, sich zu widersprechen: Unlängst liess Trondheim seinen gutmütigen Antihelden Herrn Hase in «Eine etwas bessere Welt» auferstehen und durch einen raffiniert verschachtelten Plot hoppeln, in dem es um soziale Netzwerke, Zivilcourage und Verschwörungstheorien geht.

Lewis Trondheim zusammen mit seiner Frau Brigitte Findakly. (Bild: PD)

Lewis Trondheim zusammen mit seiner Frau Brigitte Findakly. (Bild: PD)

Bis heute ist der zum Chevalier des Arts et des Lettres geschlagene Lewis Trondheim einer der produktivsten und vielseitigsten Comic-Autoren. Routine und Langeweile sind in seiner gegenwärtigen Produktion nicht auszumachen. Eine Grenze hat er sich jedoch gesetzt: Mit 60 Jahren sei Schluss mit Comics. Bevor der kreative Abstieg sich unweigerlich einstelle, werde er vom Zeichentisch an eine Kunsthochschule wechseln und dann den Nachwuchs in die Kunst des Comics einweisen.