17. Oktober 2018

Wenn Kinderträume zum Weltuntergang führen

„20th Century Boys“: Woodstock, Laserpistolen und ein verstecktes SF-Meisterwerk

Lesezeit: 4 min.

Woodstock, die Mondlandung, Rock’n’Roll, Hippies, Vietnam… 1969 war ein bewegtes Jahr, das die Welt nachhaltig prägen sollte. In den letzten Jahrzehnten versuchten sich etliche Künstler und Autoren an der Aufarbeitung der turbulenten 60s und 70s, während man in Nostalgie schwelgte oder den Krieg verteufelte. Und ausgerechnet ein japanischer Manga-Autor zeichnet uns davon ein Bild wie kaum ein anderer, umhüllt in eine unglaublich packende, durchdachte und emotionale Geschichte von Kinderträumen, dem ernüchternden Erwachsenwerden und ewiger Freundschaft. Natürlich sind die Laserpistole, gewaltige Roboter und eine ominöse Sekte nicht zu vergessen. Die Rede ist von Naoki Urasawas Meisterwerk „20th Century Boys“, das lange Zeit vergriffen und heiß begehrt war und ab sofort in einer wunderschönen Ultimativen Edition beim Panini-Verlag neu aufgelegt wird.

Der Manga erzählt die Geschichte von Kenji Endou, der sich als Kind mit seinen Freunden die brennenden Sommertage des Jahres 1969 mit dem Bau einer Geheimbasis vertreibt, während sie zwischen dem schattigen Gestrüpp Comics lesen, fernem amerikanischen Rock’n’Roll lauschen und von der glorreichen Zukunft träumen, in der sie die Welt vor bösen Aliens retten, samt geheimen Gruppen-Kennzeichen.

Doch als Erwachsener mittleren Alters ist Kenjis Leben alles andere als das eines coolen Rockstars. Kenji ist ledig, kümmert sich um die kleine Tochter seiner verschollenen Schwester und fristet sein Leben im Gemischtwarenladen seines verstorbenen Vaters. Er hat die Gegend, in der er groß wurde, nie verlassen. Doch dann erreicht ihn ein Brief eines Freundes aus Kindheitstagen, Spitzname Donkey, der ihn an die Geheimbasis und den Schwur der kindlichen Freundschaft erinnert. Kurz darauf nimmt sich Donkey unerwartet das Leben und das führt Kenji auf eine Reise, um die Hintergründe aufzuklären. Schnell wird klar, dass Donkey zwischen die Machenschaften einer mysteriösen Sekte geriet, die sich in Japan breit macht, von einem unbekannten Führer geleitet wird, der den Decknamen „der Freund“ trägt, zu allem Überfluss auch noch das Geheimzeichen von Kenji und seinen Freunden aus Kindheitstagen nutzt und den Untergang der Menschheit voraussagt.

Naoki Urasawa macht sich seit Jahrzehnten einen Namen durch hochkomplexe Thriller für Heranwachsende und Erwachsene, allen voran Werke wie „Monster“, der Astroboy-Interpretation „Pluto“ oder auch dem mit dem Max & Moritz-Preis ausgezeichneten „Billy Bat“, während seine aktuellste Miniserie, „Mujirushi“ gar in Zusammenarbeit mit dem französischen Louvre entstand. Dieser Erzählkunst steht „20th Century Boys“ in Nichts nach. Urasawa versteht es, das Profane mit Nostalgie zu versetzen und eine Magie zu verleihen, während sich im Hintergrund ein ausgeklügelter psychologischer Thriller auf höchstem Niveau abspielt, mit etlichen verwobenen, scheinbar losen Storyfäden. Alle Geschichten sind oft bereits Jahre im Voraus bis in kleinste Detail geplant und durchexerziert, bis sich im Verlauf Stück für Stück ein gewaltiges Mosaik ergibt, das sofort zum erneuten Lesen einlädt.

Im Falle von „20th Century Boys“, ist es die große Frage nach der Identität des „Freundes“, welche Kenji und den Leser verfolgt und in seine frühe Kindheit zurückführt. Die Geschichte wird immer wieder auf diversen Zeitebenen erzählt, während der Leser der Gegenwart folgt und kleine Einblicke in Kenjis Jugend und der seiner Freunde gewinnt, die das Bild nach und nach beleuchten. Gerade die einzelnen sympathischen Figuren sind es, die neben den Texten aus dem Off dem Manga seinen nachhaltigen Charme verleihen, während Kenji über seine  Versäumnisse als Erwachsener philosophiert oder der Leser sieht, was das Schicksal für jeden einzelnen der Gruppe bereithielt. Und doch verbergen sich ein fortwährend schleichende Sci-Fi-Elemente in der zwölfteiligen Reihe (wenn man den abschließenden „21st Century Boys“-Band mitzählt), die bereits auf den ersten Seiten mit einem gewaltigen, ominösen Ungetüm angedeutet werden und bei der Erwähnung kindlicher Laserpistolen das Herz höher schlagen lässt. Lediglich die Frage, ob sich das Ganze nicht doch in weniger als zwölf dicken Bänden erzählen ließe, bleibt bestreitbar. Und trotzdem hat die Geschichte um Kenji, die Geheimbasis und „den Freund“ kaum Längen, sondern bleibt mörderisch spannend.

„20th Century Boys“erinnert gerade zu Beginn strak an Stephen Kings „Stand By Me“, wird dann aber zunehmend komplexer und „fantastischer“, ohne jedoch den geerdeten Realismus zu verlieren. Ein Spagat, der schwer zu beschreiben ist und noch viel schwerer zu meistern – und dennoch gelingt. Und alleine durch den stark westlich angehauchten Stil gehört „20th Century Boys“ auch in jedes Regal eines Manga-Muffels.

Die Deluxe Edition kommt nun nach großer Nachfrage bei Panini mit einer überarbeiteten Übersetzung daher und enthält sogar ein erweitertes Finale, das von Urasawa nachträglich gezeichnet wurde. Die Bände haben leichtes Überformat, sind jeweils über 400 Seiten stark und haben sogar einen schicken und festen Schutzumschlag.

Eine Leseprobe findet sich hier.

Naoki Urasawa: 20th Century Boys • Aus dem Japanischen von Josef Shanel & Matthias Wissnet • Panini, Stuttgart 2018 • 420 Seiten • 19,00€ • Empfohlen ab 14 Jahren

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