Heute würde man "Shitstorm" sagen

"Das aktuelle Sportstudio": Carmen Thomas über ihren Skandal als erste Sportmoderatorin im deutschen TV

02.02.2023, 16.23 Uhr
von Eric Leimann

Carmen Thomas war die erste Frau, die im deutschen Fernsehen eine Sportsendung moderierte. Für viele damals noch ein Aufreger in der Männerdomäne. Natürlich war ihr legendärer Versprecher "Schalke 05" in der ZDF-Livesendung "Das aktuelle Sportstudio" ein gefundenes Fressen für ihre Kritiker. Im Interview mit prisma blickt die Pionierin auf diese Zeit zurück: "Wer sich als Mädchen mit Fußball beschäftigte, galt als lesbisch oder gestört".

Carmen Thomas war in den 70-ern und 80-ern eine der bekanntesten Journalistinnen Deutschlands. Sie moderierte als erste Frau eine Sportsendung, für das WDR-Format "Hallo Ü-Wagen" erfand sie das "Mitmachradio", sozusagen den Dialog zwischen Bürgern und Medien. Später gründete die immer noch sehr aktive Kommunikationstrainerin und Buchautorin die "Moderationsakademie" in Köln, der sie bis heute vorsteht. Am bekanntesten ist Carmen Thomas jedoch für einen Versprecher, denn sie sagte "Schalke 05" statt "Schalke 04". Im Interview erzählt Carmen Thomas, warum ihr der Fauxpas auf Dauer mehr genutzt als geschadet hat und weshalb Journalistinnen im Fußball heute deutlich bessere Karten haben.

prisma: Am 21. Juli 1973 unterlief Ihnen in "Das aktuelle Sportstudio" der berühmte Versprecher "Schalke 05". Aber es ist falsch, dass sie deswegen entlassen wurden, wie viele immer noch glauben ...

Carmen Thomas: Stimmt. Die Moderation ging danach ja noch anderthalb Jahre mit 15 Sendungen weiter. Der Beginn von "Hallo Ü-Wagen" im Dezember 1974 und die Festanstellung beim WDR waren die Gründe für den Sportstudio-Ausstieg. Ein anderer falscher Mythos besagt, dass es nach dem Versprecher Massen von Zuschauerprotesten gehagelt hätte. Wahr ist vielmehr, dass die "Bild"-Zeitung das "Schalke 05" erst 18 Tage nach dem Versprecher auf "Seite 1" getitelt und dazu die Legende vom Moderations-Ende – also bereits nach der fünften Sendung – frei erfunden hat. Diese Lüge verursachte das Märchen, das viele Zeitungen übernahmen. Also eine hausgemachte "Bild"-Story.

Ein Hauch von Rache?

prisma: Sahen Sie sich damals als Opfer einer Kampagne?

Carmen Thomas: Es war eine Kampagne, wie mich Whistleblower aus der "Bild"-Zeitung schon vor der zweiten Sendung vorgewarnt hatten. Denn da erschien ja bereits ein Vorabverriss in der "Bild am Sonntag", der schon vor der Sendung am Kiosk zu kaufen war. Dass ich mich traute, das zu Beginn der Sendung vorzulesen, war damals echt peinlich für das Blatt. Die Whistleblower waren danach überzeugt, dass bei der Sportstudio-Ende-Legende auch ein Hauch von Rache mit im Spiel war.

prisma: Warum haben Sie denn "Schalke 05" gesagt?

Carmen Thomas: (lacht) Schalke kennt ja nun jede und jeder. An dem Tag kamen einfach so viele Fünfen zusammen: meine fünfte Sendung, die fünfte Intertoto-Runde, das fünfte Spiel von Schalke in der Saison im Parkstadion. Und ich hatte wörtlich moderiert: "Fünf Vereine spielen diese Woche in der Intertoto-Runde. Und damit kommen wir auf das Spiel zu sprechen, das der Sprecher ... vorhin angesprochen hat." Also über diese journalistisch schlechten "Sprech"-Wiederholungen ärgerte ich mich schon beim Moderieren. Das war total ablenkend. Die "Fünf" vom Satz-Anfang ist dann schlicht hängengeblieben. Meine Mimik verrät das vorbewusste Bemerken. Deshalb vergaß ich dann auch gleich darauf den Gegner von Schalke, Standard Lüttich. Also insgesamt ein leicht nachzuvollziehender "Fünfer-Hänger".

Furchtbares Lampenfieber und Versprecher-Ängste

prisma: Haben Sie mit Teleprompter gearbeitet?

Carmen Thomas: Damals gab es noch gar keine Teleprompter. Ich hatte, wie zu der Zeit üblich, Moderationskarten. Das war normal. Dabei verursachten genau diese Karten, bei mir zehn Jahre lang – auch schon die fünf Jahre vor dem Sportstudio – zum Sendungsbeginn furchtbares Lampenfieber und auch Versprecher-Ängste. Erst bei "Hallo Ü-Wagen", der dreistündigen Live-Sendung, die ich fast 1.000-mal moderierte, lernte ich, komplett ohne Moderationskarten auszukommen. Der Weg: statt zu fragen, was ich hören wollte, lernen, zu hören, was das Gegenüber zu sagen hat. Eine erkennbar bessere und achtsamere Art, zu interviewen.

prisma: Sie waren damals auch nicht wirklich Fußball-Fachfrau, oder?

Carmen Thomas: Das ging doch gar nicht. Sich als Mädchen zu dieser Zeit mit Fußball beschäftigen! Das galt als abschreckend unweiblich. Nicht vergessen: von 1955 bis 1970 hat der DFB den Frauenfußball sogar unter Strafandrohung verboten. Und wer sich als Mädchen mit Fußball beschäftigte, galt als lesbisch oder gestört – und das waren üblerweise damals beides Schimpfwörter. Zum Trost immerhin: Sie sprechen mit einer ehemaligen Leistungssportlerin – Vierte bei den ersten Deutschen Trampolin-Meisterschaften und in zehn Jahren Kunstturnen auch etwas die Leiter rauf.

Der erfreuliche Unterschied zwischen Männern und Frauen

prisma: Fühlen Sie sich vom ZDF in Nachhinein ausreichend unterstützt?

Carmen Thomas: Super verhielten sich Sportstudio-Chef Kurt Meinicke und sein Vertreter Robert Becker. Beide waren damals besonders herzlich und wirklich bemüht, das mit der Frau an so einer prominenten Stelle richtig zu machen. Hervorragend am ZDF war seine absolute Vorreiter-Rolle, was den Einsatz von Frauen betrifft. Wibke Bruhns präsentierte 1971 als erste Frau mit "heute" die ZDF-Top-Nachrichtensendung. Ich folgte 1973 mit dem Sport. "Das Erste" hat Anne Will erst 26 Jahre später in die "Sportschau" gelassen. Im "aktuellen Sportstudio" kamen nach mir Sissy de Mas und Joan Haanappel. Dann Doris Papperitz und Christine Reinhart. Nach einer Pause von elf Jahren folgte Gott sei Dank bis heute Katrin Müller-Hohenstein. Und 2018 – nach noch mal 13 jähriger Pause – sorgt seither Dunja Hayali für ein Pari-pari mit den beiden Moderatoren Jochen Breyer und Sven Voss. Der Gewinn für mich ist, dass Männer und Frauen nicht nur verschieden aussehen, sondern auch erfreulich verschieden sind, so dass sich genau daraus ein immer noch zu wenig beachteter Wert ergeben kann.

prisma: In den letzten Jahren hat sich die Präsenz von Frauen in der deutschen Fußball-Berichterstattung massiv erhöht. Fast wie auf einen Schlag gab es plötzlich Fußball-Expertinnen vor der Kamera, Kommentatorinnen, Interviewerinnen.

Carmen Thomas: Prima! Das ZDF und später auch Sky haben einen größeren Anteil, dass inzwischen mehr Frauen beim Fußball vor die Kamera gelassen werden. Wenn auch weit vom Gleichstand entfernt. Und völlig akzeptiert ist das immer noch nicht. Frauen werden oft unfairer behandelt. Fragen Sie mal Claudia Neumann vom ZDF, wie viel Häme sie bei jedem Spiel, das sie kommentiert, einstecken muss. Das Aussehen ist immer noch zentraler als bei Männern. Dabei sind die heutigen Moderatorinnen ja absolute Fußball-Fachfrauen. Sie haben oft selbst gespielt und sind echte Kennerinnen der Fußballszene – ganz anders als ich damals.

prisma: Aber wenn Sie sich eigentlich gar nicht so sehr für Fußball interessierten, warum wollten Sie "Das aktuelle Sportstudio" gerne moderieren?

Carmen Thomas: Es war zu der Zeit eines der modernsten Formate im deutschen Fernsehen: exklusiv "live" vor Publikum, mit Kameras und sogar Hintergrund-Menschen im Bild. Alles No-Gos in anderen Sendungen. Und dann diese neue und ansprechende Mischung aus Sport und Unterhaltung. Die Sendung hatte damals eine unfassbare Reichweite – auch, weil sie direkt im Anschluss an die großen Samstagabend-Shows lief. Und das "Sportstudio" war ein wunderbares Sprungbrett. Stimmte bei mir: Die "Hallo Ü-Wagen"-Redaktion und -Moderation, die mir 1974 angeboten wurde, hatte auch mit der Popularität durch das "Sportstudio" zu tun. Also ich spüre viel Dankbarkeit für die Chancen, die durch die zwei Jahre beim ZDF eröffnet wurden.

Einladung von Rudi Assauer 

prisma: Wie lange wurden Sie von Schalker Fans aufgezogen?

Carmen Thomas (lacht): Gar nicht. Sie schrieben einen tollen Artikel in ihrem "Schalke Unser". 2005 war ich auf Einladung von Rudi Assauer auf dem Platz zum Interview mit ihm eingeladen. Und das ist ja wie vor einer ganzen Kleinstadt mit 64.000 Stadion-Menschen reden. Der Empfang war durchaus herzlich. 2006 war Assauer dann als Kamingast in meiner Moderationsakademie. Das war super. Denn er hat sich dabei als Typ mit Macho-Image so sehr eingelassen und geöffnet, dass sich Gäste daran mit Hochachtung und großem Vergnügen bis heute gerne erinnern.

prisma: Also würden Sie sagen, dass Ihnen der berühmte Versprecher im Nachhinein mehr genutzt als geschadet hat?

Carmen Thomas: Mit Sicherheit. In meinem neuen Buch "Reaktanz" über den Blindwiderstand, den Menschen als blockierend empfinden, wenn sie Fremdem, Verunsicherndem begegnen oder sich in ihrer Freiheit beschränkt oder bevormundet fühlen, habe ich den Vorzügen der Schalke 05-Folgengeschichte zwei Seiten gewidmet. Eine der besonders nachhaltigen Erkenntnisse steckt darin, dass das Wort "Fehler" im Anagramm, also gescrabbelt, stets zugleich "Helfer" ergibt und sich "Schatzsuche statt Fehlerfahndung" echt lohnt.

"Neues entdecken und täglich tieferes Erkennen-lernen" 

prisma: Sie haben schon seit 1980 – parallel zu Ihrer journalistischen Karriere – als Coach, als Kommunikationstrainerin und als Buchautorin gearbeitet. Sie sind bis heute aktiv. Sind Sie jemand, der immer wieder zu neuen Ufern aufbrechen muss?

Carmen Thomas: Ja, stimmt. Es ist mir eine Lust, immer wieder Neues zu entdecken und täglich tieferes Erkennen-lernen als Vergnügen zu verstehen. Dieser Wesenszug ist bei mir immer noch genauso stark ausgeprägt wie vor 50 Jahren. Und der dauert hoffentlich an, bis der Deckel drauf ist.

prisma: Eine allerletzte Frage noch – wenn man Sie googelt, findet man absolut nichts über Ihr Privatleben?

Carmen Thomas: Das ist auch gut so. Ein Verschluss-Grund: Als ich das "Sportstudio" und auch "Hallo Ü-Wagen" moderierte, gab es immer wieder mal privat unangenehme Szenarien. Aber Ihnen verrate ich jetzt mal: Ich habe eine wunderbare Tochter, einen super Schwiegersohn und zwei ganz bezaubernde Enkel.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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