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Kultur

Der subversive Humanist

Herausgeberin Literarische Welt
Es ist der Humor, der Zorn, Ekel und Verdruss überwindet: Zum Tod des Kinderbuchautors, Illustrators und saftigen Satirikers Tomi Ungerer

Dass ein Kinderbuchautor mehr über die Menschen zu sagen weiß als jeder Anthropologe, hat wohl niemand eindrucksvoller gezeigt als Tomi Ungerer.

Jeder noch so gute Mensch tue jede Menge böser Dinge, man sei eben gut und böse, für Kinder sei es vor allem beruhigend, davon zu wissen, hat er einmal gesagt. Und diese gelassen existenzialistische Philosophie wird in den fein umrissenen Details jeder seiner gezeichneten Geschichten sichtbar: etwa in der biederen Fürsorglichkeit, mit der Herr Racine ein Stück Pastete mit der Säbelspitze aufspießt, um es seinem Biest zu verfüttern, das sich später als ein verkleideter Haufen Kinder herausstellt („Das Biest des Monsieur Racine“, 1972); in der grimmigen Verweigerung, die der Katzenjunge Toby Tatze seiner ödipal-übergriffigen Katzenmutter breittatzig entgegenbringt („Kein Kuss für Mutter“, 1974); in der Art, wie die schöne Ordnung mit Villa, Morgenmantel und Hosenträgern der Krokodile Cromwell und Beowulf durcheinandergerät, als der versoffene Krokodilsvetter Warwick aus Schottland zu ihnen stößt („Warwick und die drei Flaschen“, 1967).

Es gibt wahrscheinlich keinen aufregenderen Moment für ein Kind als den, in dem man merkt, dass ein Buch einem die wilde Welt der Fantasie öffnet: dass man sofort in sie hineingelangt durch alles, was hintersinnig, vielleicht sogar ironisch oder subversiv schillert, die normale Wirklichkeit also jederzeit eine ganz andere sein kann.

Bei Tomi Ungerer hat dieses wundersame Tor in eine andere Welt die Gestalt eigenartiger, gänzlich un-bilderbuchhafter Tiere angenommen: die einer abenteuerlustigen Schweinefamilie („Die Mellops“), dreier eigenbrötlerischer Krokodile („Warwick und die drei Flaschen“), eines renitenten Katers („Kein Kuss für Mutter“), einer gutwilligen Schlange („Crictor, die gute Schlange“). Ungerers Tiere bilden ein Bestiarium, das völlig jenseits von nett-seichter Kuscheltierhaftigkeit oder unheimlich-düsteren Monstern anthropomorph ist. Wie ausgeprägt Ungerers Fähigkeit als Zeichner die eines großen Künstlers war, nämlich in einzelnen Dingen sofort ganze Geschichten zu sehen, berichtete einmal sein Weggefährte und Freund, der Kunsthistoriker Werner Spies. Man habe kaum zwei Schritte mit Ungerer in dessen Heimatstadt Straßburg gehen können, ohne dass er sich zu allem so erstaunt äußerte, als sähe er alles gerade zum ersten Mal: „,Schau mal‘, meint er, als wir an einer verstrubbelten Trauerweide vorbeikommen, ,die geht offensichtlich auch nicht gerne zum Friseur‘“. An Novalis habe man denken müssen sowie an dessen Satz: „Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden; ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum kann Epoche in unserm Innern machen“.

Ungerers besonderer, nämlich neugieriger und deswegen so genauer Blick auf die Welt war tief verbunden mit der unsteten europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert: 1931 in Straßburg in eine Familie von Turmuhrenfabrikanten geboren, wuchs Jean-Thomas, genannt Tomi, unter dem Eindruck des Wechsels der Nationalitäten, Sprachen und Kulturen auf. Seine Kindheit verbrachte er, nachdem der Vater früh verstorben war, in einem Industrievorort des elsässischen Colmar. Zu Hause sprach man Französisch, unter der deutschen Besatzung dann in der Schule Deutsch und elsässisch, bis nach dem Kampf um den Poche de Colmar, den Brückenkopf Elsass 1944/1945, die Region Alsace zu Frankreich gehörte und der elsässische Dialekt zunächst in der Öffentlichkeit verboten wurde (eine Vorgehensweise, die Ungerer später als crime culturel, als kulturelles Verbrechen bezeichnete).

Nach dem Krieg trampte Ungerer quer durch Europa, veröffentlichte erste Zeichnungen im „Simplicissimus“ und ging schließlich 1956 nach New York, wo er durch einen Glücksfall die Kinderbuchlektorin von Harper überzeugen konnte, aus seiner Geschichte um die Schweinefamilie Mellops ein Buch zu machen, aus dem dann auch ein Bestseller wurde.

Ungerer verkehrte bald mit den Großen von Manhattan, Saul Bellow, Tom Wolfe und Philipp Roth, auch wenn sein exzentrisch satirischer Stil und die Drastik seiner Zeichnungen über die sexuellen Eskapaden der High Society – etwa in seinem „Geheimen Skizzenbuch“ (1968) oder „The Party“ (1969) – nicht ganz nach Amerika zu passen schienen und nur die wenigsten die Nähe zu den Karikaturen eines Wilhelm Busch, Savignac oder Grandville erkennen wollten (auch wenn Titel wie „Das Kamasutra der Frösche“ oder „Der Furz, vom Urknall bis heute“ wenig Zweifel an ihrem satirischen Potenzial ließen).

Viele Jahre später, inzwischen wieder in Europa und weltberühmter Kinderbuchautor von Werken wie „Die drei Räuber“, „Der Mondmann“ und „Zeraldas Riese“, sagte Ungerer, ihm habe sein „elsässischer Humor“ immer geholfen, seinen inneren Zorn, Ekel und Verdruss zu überwinden und die Menschen zu respektieren, solange sie ihre Arroganz unterdrücken.

Dass es einen modernen, subversiv gütigen Blick auf die Welt gibt, der aus dem 20. Jahrhundert der Schrecken und der Aufbrüche herausführt, auch das hat Tomi Ungerer in seinen mehr als hundert Büchern und tausenden Zeichnungen gezeigt.

Am Samstag ist der große Bilder-Erzähler, europäische Humanist und Hochliterat für Kinder im Alter von 87 Jahren in Irland gestorben.

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