Geronimo - Feuer Und Flamme 2
Geronimo - Feuer Und Flamme 2
Reflexionen
und Anmerkungen
zur Lage der Autonomen
Edition ID-Archiv
Geronimo u.a.
Feuer und Flamme 2
Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen
zur Lage der Autonomen
Edition ID-Archiv
Berlin – Amsterdam
Geronimo u.a.
Feuer und Flamme 2
Inhalt
Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen zur Lage der Autonomen
Herausgegeben von:
Geronimo, Tecumseh und Richard Proletario
Umschlagentwurf:
Norbert Löderbusch Vorbemerkung 7
I.
Satz:
seb, Hamburg
Kritiken und Rezensionen zu FEUER UND FLAMME
1. Severine Lansac
Druck: Autonome Orte: Für eine kleine Politik 12
Winddruck, Siegen
2. Tecumseh I
Offener Brief an Geronimo 23
3. Tecumseh II
Von kulturellen und sozialen Klassen 27
4. VAL
Liebe, Krieg und Alltag 32
5. Andreas Fischer/Michael Wildenhain
Autonome – Find ich gut!
Eine nicht gedruckte konkret-Rezension 39
6. Wolf Raul
Rezension
›Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr.11/1991‹ 44
Kein Zweifel, die momentane Lage ist alles andere als revolutionär und den
III. Resten der radikalen Linken, für die der Begriff revolutionär zwar heute mehr
eine imaginäre Bedeutung hat, aber noch lange kein Schimpfwort ist, bläßt eine
Aus dem Inneren: kräftige Prise Zeitgeist entgegen. Insofern erscheint das Selbstverständnis eines
Die Schlagerstar-Debatte zum blauen Bock Verlages, nach dem vorläufigen Sieg des Kapitalismus weiterhin eine radikale Kri-
tik an dessen Verhältnissen zu betreiben, reichlich antiquiert. Doch nicht eine
1. Heinz Schenk spätpuberäre Trotzhaltung, sondern das Interesse, durch publizistische Interven-
Wir sind doch kein Kampagnenheinz! 162
tionen einen kleinen Stachel gegen das feuilletonistische Mainstream-Denken
2. Heinz Schenk und weit verbreitete Kurzzeitgedächtnis auszulegen, ist unsere Motivation zur
Die Autonomen machen keine Fehler, sie sind der Fehler!!! 169 Bücherproduktion.
3. Vorwort INTERIM Nr. 166 180
4. Heinz Schenk Es gehört nicht zu unserer Verlagspraxis, in K-Gruppen-Manier der 70er
The Empire strikes back Jahre, mit ideologieträchtigen Vorworten, die richtige Linie einer Publikation
Zum INTERIM-Vorwort bzgl. Heinz Schenk (Nr. 166) 181 den Leserinnen und Lesern mit auf den Weg zu geben. Aber da das vorliegende
5. Nachbemerkung 185 Buch innerhalb des Verlages, und vielleicht auch bei Teilen des Publikums nicht
ganz unumstritten ist, vorab ein paar Bemerkungen zu dem erwarteten Vorwurf,
die »Beschränktheit Geronimoscher Überlegungen« (oberflächlich, schönfärbe-
risch, ohne analythischen Tiefgang), durch eine weitere Veröffentlichung zu
manifestieren.
10
Severine Lansac gehört, auf die wir uns aber gemeinsam beziehen können. Oder etwas werbe-
technischer ausgedrückt: »Rekonstruieren wir heute unsere eigene Geschichte,
Autonome Orte: Für eine kleine Politik um morgen besser eingreifen zu können«( S. 14).
Revolution ist die rasende Inspiration der Geschichte Daß eine solche Selbstverständlich ihren Ausgang in einer höchst konventio-
(Antid Oto) nellen Form, nämlich in einem Buch mit einem, noch dazu männlichen Autor
nimmt, steht der autonomen Praxis einer alle umfassenden Mündlichem und
auch der Absage an ökonomisch und polizeilich verwertbare Autorschaft (vgl. S.
9)) nicht unbedingt entgegen. Eröffnet das Buch doch eine schriftliche wie
mündliche Auseinandersetzung und ist nun nicht als definitiver Schlußpunkt
eines alternden Autonomen zu lesen. So flüchtig, so aktuell, so beteiligt an der
Geschichte, Stellung nehmend, kleine Seitenhiebe austeilend, bleibt FEUER UND
I. Der Wind der Bewegung – gegen die Überlieferung FLAMME vorläufig, unabgeschlossen, Widerrede fordernd. Eben eine Grundlage,
Mit den ›schwarz-roten Erkenntnisstiefeln‹(S.8) doch keineswegs feldherren- an der viele weiterschreiben und -erzählen sollten, damit aus Geronimo nicht
gleich stapft er durch die eigene Geschichte, die sich vor ihm auftut im Moment, doch noch ein Autor im klassischen Sinn, sondern eine ganze AutorInnen-bande
da er sie beschreibt. Sie lag nicht schon da, bevor Geronimo sich daran machte, wird. Diese hätte dafür zu sorgen, das an die Form eines Buches gebundene
sie zu schreiben. Und man täusche sich nicht: sie liegt auch jetzt nicht einfach da Monopol auf die Geschichte zu zerstreuen: d.h. nachzutragen und umzuschrei-
-kompakt und handlich im rot-schwarzen Paperback, imbißgerecht verpackt für ben – was übrigens viel leichter ist als den Anfang zu machen. Nicht der Vor-
die schnell erschöpfbare Neugier. Vielmehr ist mit FEUER UND FLAMME ein klei- wurf, der Autor habe vergessen oder unterschlagen, nicht Korrekturen im Dien-
ner Steinbruch neben dem großen ›Müllhaufen der Geschichte‹ (wo kann man ste irgendeines Historismus, sondern kollektives Weiterschreiben an der geräu-
den eigentlich mal besichtigen?) errichtet, den es seinerseits abzutragen gilt. berten / zu räubernden Geschichte wäre die schöne Perspektive, die FEUER UND
Auf die Idee, sich eine eigene Geschichte zu geben, kommt eine/r meist erst FLAMME eröffnet.
dann, wenn sie verloren geht. (So wie ein Hausbesitzer im Moment einer Beset- Manchmal allerdings verwandelte ein ›geschichtsautonomer‹ Geronimo, der
zung seines Hauses sich meist erstmals an sein Eigentum ›erinnert‹.) Sollten also sich aus der Geschichte für seine eigenen Zwecke (Inspiration, Selbstverständlich,
diffuse Zeiten, in denen die Ausrichtung der eigenen Politik abhanden zu geraten Standortbestimmung, Abgrenzung, Polemik) bedient, sich in einen braven und
droht, zu Aneignungsprojekten in Buchform verleiten? Meldet hier einer Eigen- langweiligen Chronisten. Wie etwa im Internationalismuskapitel, das irgendei-
tumsansprüche an gegen die offiziellen was-sie-wollten-was-sie-wurden Bilan- nem blödsinnigen Vollständigkeitsanspruch ohne eigenen Bezug aufzusitzen
zen? ›Ich sag, wie es war. Ich erinnere mich genau.‹ Es könnte so sein, wäre scheint. Und noch eine kleine Falle der Geschichtsschreibung ist zugeschnappt:
Geronimo nicht ein Räuber, der von Eigentum nichts hält und also auch nichts alte Festschreibungen, Legendenbildungen haben sich auch hier eingeschlichen.
von diesen (besitz-)ergreifenden Erzählungen, in der die Gegenwart immer in so Etwa der viel-zitierte Tomatenwurf der Frauen der 68er Bewegung, so als hätten
kümmerlichem und fadem Licht erscheint. die Frauen ›achtundsechzig‹ nicht mehr zu bieten! Überhaupt ist es inkonsequent,
Nein, weder Erinnerung an die Bewegung wie in einer Festschrift – ›2O noch von ›achtundsechzig‹ zu reden, weil die Geschichte dieser Bewegung ohne
Jahre Autonome‹- noch Sinnstiftungsunternehmen à la Deutsches Museum ist Zweifel bereits 1967 begann, wie die Darstellung in FEUER UND FLAMME auch
FEUER UND FLAMME. Das wäre Abgesang auf eine Bewegung. Es weht ein andrer zeigt, bloß daß sie eben in diesem frühen Stadium von den Medien noch nicht
Wind in FEUER UND FLAMME. Einer der vorantreibt, der ganz atemlos macht. beachtet wurde.
Außer Atem, auf der Suche nach einem Ort für das Gedächtnis jenseits der Ein typischer Fall journalistisch-medial verwalteter Geschichte, in dem die
Aneignungsgeschichte. Kein Gedächtnis mit Goldsand. Geschichte einer Bewe- Benennung als »geschichtliches Ereignis« durch und mit den Medien beginnt. Für
gung erhält Bewegung, inspiriert Praxis. Sich aus der Geschichte nehmen, was die Nachfolgenden ist es schwer, dahinter zurückzugehen, weil die ›Dokumente‹
12 wir zur Inspiration brauchen. Daraus wird unsere Geschichte, die niemandem fehlen, verlorengegangen oder unterdrückt worden sind. Chris Markers Film 13
›Rot ist die blaue Luft‹ kann in diesem Sinne als beeindruckende rekonstruierte nämlich zeigen, daß NSB Macht zusammenballt und sie daher als Kategorie für
Dokumentation der ›Siebensechziger-Bewegung‹ gelten. autonome Bewegungen völlig untauglich ist.
Und kann man nicht auch FEUER UND FLAMME das Anliegen anmerken, eine Was man in FEUER UND FLAMME über NSB erfährt, kennen sie nur Gleichge-
eigene Geschichte jenseits und unabhängig von denen, die immer nur über ande- sinnte, keine verantwortlichen Gegner. Sie appellieren an die Vernunft aller und
re schreiben, zu formulieren? Die Geschichte ragt hier soweit in die eigene verschonen die eigentlichen Urheber mit konkretem Widerstand. Die Kämpfe
Gegenwart hinein, daß sie zwei Klippen zu umschiffen hatte. Zunächst die ›Kri- mit einem ungleich mächtigeren Gegner (der Atomlobby etwa) werden eingeeb-
senklippe‹. Denn mitten im Sprung hält niemand an, um den Sprung zu beschrei- net auf einen bloßen Interessenkonflikt. Ein Konflikt – das klingt so, als gäbe es
ben. Aus dem Erscheinen eines Buches zur Geschichte und Gegenwart der Auto- eine aushandelbare Lösung unter Gleichen, meist in Form eines Kompromisses.
nomen wäre dann auf die an Sprüngen arme Zeit, sprich Krise zu schließen. Da ...Als müsse man nur lang genug reden und prozessieren! Und weil Gewalt über-
sind jedoch die Windböen der Begeisterung für die Autonomen vor, die das flüssig ist in einer so kompromißbereiten Welt, lautet das tyrannische Credo:
Buch durchwehen. Und zweitens die ›Historismus-Klippe‹: Zeiten, in denen keine Gewalt! Nebenbei: die Forderung nach der ›whole fucking bakery‹ heißt
ständig »ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen wird«, sind so geschichts- eben auch, daß wir uns nicht mit häppchenweisen (juristischen) Zuteilungen
bewußt und -gesättigt, daß man gegen diesen historischen Sog anschreiben muß, (=Kompromisse), zufriedengeben. Was nicht bedeuten muß, daß wir nicht trotz-
vielleicht noch viel ironischer als in den Abschnitten ›Aus aktuellem Anlaß‹ und dem zugreifen würden.
den darauf folgenden (S. 228 ff.). Man darf sich schließlich nicht durch so eine Realpolitisch übersetzt sich die große und verschwommene Utopie in Zufrie-
geschichtsmächtige Gegenwart von den alltäglich erfahrbaren Konfrontationen denheit mit dem Kompromiß. »Ein kleiner Anfang« usw. Daß der Kompromiß
abhalten lassen. Sie bleibt auch angesichts dieser Dimensionen bedeutend. immer nur die sozialverträgliche Variante der Macht ist, dieser Gedanke darf gar
Dennoch, die beiden Klippen gibt es; schlafwandlerisch vielleicht werden sie nicht aufkommen. Im Meer der Gleichgesinnten hat man sich längst darauf ein-
durch den unbekümmert frischen Einstieg in das eigene Projekt umschifft. Und gestellt, daß eigene Forderungen nur dann aufgehen, wenn ökonomische Interes-
das ist vielleicht auch genau die angemessene Art, sich hinterher mit dem zu sen sich zu den eigenen Gunsten verschieben und wundert sich höchstens noch
befassen, was das Projekt trägt, dieser Wind, diese Lust, weiterzumachen, sich darüber, daß sich trotzdem nichts wirklich ändert. Die teilweise Einlösung von
vorantreiben zu lassen. Nichts ist lähmender als vor-ab Selbstreflexionen auf das, Utopien ist immer die zynische Antwort der Macht auf diese Utopien.
was man tun will. Aber vielleicht ist jetzt, mit diesem Nachfolge-Band die Zeit Die soziologische Erfassung der NSB versucht gegen alle strukturellen gesell-
für solche Gedanken, um eben nicht in irgendeinem dead-end der Geschichts- schaftlichen Unterschiede und Trennungen, inhaltliche Gemeinsamkeit auszu-
schreibung zu landen. machen. Bestehende (materielle) Unterschiede werden dabei brüderlich und
schwesterlich übersehen. So als sei die oft trennende Realität angesichts der schö-
II. Neue Soziale Bewegungen: Keine unkontrollierte Bewegung! nen Welt von morgen einer Analyse nicht wert. Der Traum vom bessren Leben
›Wir sorgen für Bewegung‹ (Tankstellen- Werbung in Kreuzberg) ist’s, der zusammenhält. NSB, soll man es den Soziologen glauben, sind Zusam-
Infolge der Entscheidung, die Geschichte der Autonomen an der sozialver- menschlüsse von Gruppen aus ideelen Motiven: für den Frieden, für eine gesün-
träglichen Erfindung der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) aufzufädeln, gibt es dere Umwelt...
in FEUER UND FLAMME ein ständiges theroetisches Gerangel um den Standort der NSB leben vom ›Wir-sitzen-alle-im-selben-Boot‹ Gefühl und gucken gar
Autonomen im Verhältnis zu den NSB. Die Autonomen kommen darin als nicht so genau hin, wer eigentlich wo sitzt. Und dann passiert das, was in der
›Fraktion‹, ›Richtung‹, ›Tendenz‹, ›eigenständige politische Kraft‹ vor – immer in ehemaligen DDR passiert ist, deren Opposition mit dem Tag des Mauerabbaus
Gefahr, von den NSB verschluckt, verdrängt oder ausgestoßen zu werden. Die zerfiel, weil nämlich manche am abgewrackten Ende dieses unter Druck gezim-
Frage wäre, ob dieses gesellschaftliche Parallelogramm den Blickwinkel nicht merten Bündnisschiffes saßen, andere sich ein Beiboot mitgebracht hatten, und
etwas verengt und eine ›autonomere Bewegungsgeschichte‹ nicht noch andere Dritte schließlich in den BRD-Luxusliner umstiegen. - Wer wollte angesichts
Seiten freigeben würde. Sie hätte sich an dem zu orientieren, was sich als Macht dessen seine politsche Praxis noch von NSB-Forschern erfassen, evaluieren und
14 auswirkt, was als Macht kenntlich gemacht werden müßte. Dann würde sich hochrechnen lassen? 15
Gegenvorschlag wäre eine Beschreibung der eigenen Bewegungsgeschichte sung von Leuten einhergeht, die dann Grundlage von staatlichen Verfügungen
im Hinblick auf die Macht. Eine genaue Analyse der Kräfteverhältnisse eben. ist. Die imaginäre Beziehung auf die festgefügt starre Form der Klasse ist dadurch
Wie funktionieren die Mechanismen der Macht? Was für Auswirkungen haben gespalten. Informationstechnologien konstruieren wechselnde Schnittmengen
sie auf uns? Mit dem Blick auf das Funktionieren und die Mittel der Macht wird von Betroffenen. Spezialisierte, fragmentierte und kurzfristige Betroffenengrup-
die Kritik gewetzt, die sich ansonsten manchmal in der Wut auf ›sie‹, oder etwas pen. Arabischen AusländerInnen, Gewerbetreibenden, die alleinerziehenden
konkreter »die Bullen« erschöpft. Ziele der Macht/ Wirkungsweisen des Kapitals Mütter, HausbesetzerInnen im Osten...
können dann eher analysiert werden, als daß sie unterstellt werden müßten. Gentechnologie als eine Informationstechnologie auf biologischer Grundlage
Macht setzt sich ja bekanntlich zusammen aus vielen Gegnern. Die Gegner sind hat ebenfalls Widerstand hervorgerufen. In einem Zusammenschluß von Gen-
da dingfest zu machen, wo konkret Gestaltungsmacht und Verfügungsgewalt technologie und Informationstechnolgie liegt die Zukunft für den oft zitierten
über andere ausgeübt wird. Nicht umgekehrt gibt es den einen Gegner mit der Präventions-Staat. Kaum eine Bundesbehörde (Bundesamt für Statistik, Bundes-
Generalmacht. Deswegen steht jedes Ankratzen des Gewaltmonopols auch nachrichtendienst oder Bundeswehr), die nicht eine Unterabteilung im Zusam-
immer auf der Kippe, ein gegen die Macht gerichtetes Zeichen zu sein und mög- menhang mit Gen-/Informationstechnologie gebildet hat.
licherweisen einem In-die Hände-spielen der Macht, die die Bilder von ›Gewalt‹ Diese offizielle Politik der Erfassung läuft ziemlich gradlinig auf Bevölke-
zur effektvollen Inszenierung ihrer Erschütterung und Repressionen geradezu rungspolitik zu. Erfassung schafft eine Atmosphäre der Knappheit und der
sucht und braucht. Begrenztheit des Raums, der Recourcen. Erfassung ist das scheinbar neutrale
Was wäre mit so einem, sagen wir ›machtanalytischen‹ Zugang für eine Fundament nationaler Abschottungspolitik.
Geschichte der Autonomen gewonnen? Oder wie eingangs gefragt, was entgeht Der Widerstand gegen Gentechnologie/ Bevölkerungspolitik gehört daher
Geronimo, wenn er sich zwar in Abgrenzung dazu, aber eben immer noch an auch in eine autonome Geschichtsschreibung, trotz der relativen Abstraktheit des
den NSB orientiert? Gegenstands. Die Auseinandersetzung damit zeigt schließlich auch, daß Autono-
An der im Buch so gut wie nicht vorkommenden Volkszählungsboykottbe- me sich nicht nur am Rande von Großereignissen tummeln.
wegung sowie der Auseinandersetzung mit Gentechnologie und Bevölkerungs-
politik ließe es sich vielleicht ermessen. III. Utopie oder Windbeutel ?
Die Vobobewegung 1983/1987 (und auch der Mikrozensusboyott 1985) ist »In harten Zeiten bewegen sich Penguine eher wenig, sie schlafen mehr, was aber nicht
tatsächlich fast überall recht schnell zu einem eher unbeachtlichen juristischen/ heißt, daß sie nicht fast immer auf dem Sprung sind. Trotzdem sparen sie so Fett für ihre
individualistischen Unternehmen geworden, so daß mit NSB-Augen betrachtet Fettschicht und für’n dickes Fell. Wenn’s so richtig scheiße kalt ist, drängen sich Penguine
schlechterdings nicht von einer Bewegung die Rede sein kann. Nur aus einer dicht aneinander und bieten jedem rasenden Eissturm Trotz. Yeder und Yede von ihnen
›machtanalytischen‹ Perspektive hätte sie auch als gescheiterte Bewegung ein hat das Bestreben, ins Innere der Gruppe oder in den Windschatten zu kommen, um dort
politisches Gewicht. Als Bewegung nämlich, die vorhatte, die Volkszählung zum in Ruhe einen oder fünf Windbeutel zu verzehren.« (Yok)
›Auftakt‹ für eine breitere ›Bewegung‹ gegen den Überwachungsstaat zu machen. Wenn Autonome sich nicht in Beziehung zu den NSB setzen sollten, als was
Für sie war die Volkszählung immer nur ein Faktor innerhalb des Projektes der für ein sonderbares Gewächs sind sie dann anzusprechen? Warum überhaupt
sozialen Umstrukturierung. Als solche hatte sie die Frage nach dem Funktionie- beschreiben, was Autonome sind? Wohl kaum, um den Soziologen Material und
ren der Macht ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Damit wäre Journalisten griffige Formeln zu liefern. Es geht auch nicht um die ethnologische
zugleich auf die »zunehmende Verrechtlichung und Instituionalisierung des Erforschung der Spezies der Autonomen, wenngleich die Formulierung ›die
›Klassenkonflikts‹« (S. 75) reagiert: der eben nicht mehr sichtbar in den Fabriken Autonomen‹ dies nahelegt. Was nun folgt und legitimerweise meinerseits nur fol-
aufbricht, sondern der in den Bereichen der Herrschaftsicherung aufzubrechen gen kann, ist eine Annäherung von Außen an den Raum, den Autonome ein-
ist, in die er ›abgewandert‹ ist. Kritisiert wird an den Informationstechnologien, nehmen. Diese Annäherung ist – sollte man es dem Geschriebenen nicht mehr
die in zunehmendem Maße die Mittel der sozialen Umstrukturierung werden, anmerken – ein Versuch, der eigenen Faszination an denen da, den Autonomen,
16 der (staatliche) Eingriff, der mit der wenig greifbaren, scheinbar harmlosen Erfas- auf die Spur zu kommen. Die Mythen zurückverfolgen bis an die Orte ihrer Ent- 17
stehung, statt sie einfach ›als Ersatz für politische Vorstellungen‹ zu knacken (171). ›Flucht auf’s Land‹). Dort entstehen Freiräume, die ihrerseits, weil diese Räume
Es gibt kein autonomes Manifest; autonome politsche Vorstellungen werden per Anspruch frei von Herrschaft sind, umso anfälliger dafür werden. Wer sich
manifest -an bestimmten Orten, in bestimmten Aktionen. Von dort aus, genauer freihält, der sorgt für seine eigene, höhere Lebensqualität und beläßt ansonsten
von der äußeren mythisierten Erscheinung der Autonomen aus, läßt sich eine alles so, wie es ist. Freiraum-Denken klammert die uns bestimmende Sozialität,
Politik rückübersetzen. Rückwärtig bildet sich eine kollektive, konkrete und die Einbrüche kritisierter Welten in eigene Räume, aus. Freiraum ist näher an der
genaue Politik heraus, die aus der aktuell bezogenen Perspektive noch diffus, Isolation als an der Revolution. Dem Anspruch, sich freizuhalten von Herrschaft,
disparat und widersprüchlich erschien. entspricht die Praxis der Askese. Eine Kritik im Medium der Askese wirkt unge-
Eher zwischen den Zeilen ist in FEUER UND FLAMME etwas über die Mythen fähr wie Dynamit, das freiherumliegend seine Sprengkraft in alle Richtungen
produzierenden Ausdrucksformen der Autonomen gesagt. Weil Geronimo sich ohne nennenswerten Effekt verschleudert. Konzentriert wirkt es nur dort, wo es
nicht entscheidet, ob er für Autonome, die schon alles wissen oder für Neugieri- befestigt ist. Die Sprengkraft entlädt sich immer zu dem Ort, an dem es den größ-
ge, die schon immer mal was über die Autonomen wissen wollten, schreibt, fällt ten Widerstand erfährt. Kritik ist ein Sich-Ins-Verhältnis-Setzen zu dem Kritsier-
die Darstellung autonomer Ausdrucks-und Lebensformen eher zurückhaltend ten, eine notwendige Grenzziehung, um nicht hinterrücks wieder eingeholt zu
aus. Denn je nachdem, zu wem man spricht, sagt man zu viel oder zu wenig, oder werden von dem, dem man den Rücken kehrte.
etwas, das wiederum Mythen produziert oder als Vereinnahmung oder Verrat Eine politische Praxis, die vom Austausch lebt, schottet sich daher auch nicht
empfunden werden könnte. Wenn ein Einzelner über die Autonomen schreibt, völlig ab von den Widersprüchen, die sie kritisiert. Dies belegt eindrucksvoll das
widerspricht das zunächst dem unkoordinierten, wilden Sprechen vieler, mög- um Worte ringende Patriarchatskapitel, durch das Widersprüche mitten hindurch
lichst aller an allen Orten. Eine Reduzierung auf einen Schreibenden, der mal gehen. Wie überhaupt die Beschreibung der eigenen Befindlichkeit hilft, diese
von außen, also über die Autonomen und mal von innen, also für die Autono- Widersprüche anzugehen. Im besten Sinne Selbstverständlich bieten die Kapitel
men schreibt, birgt eben auch die Gefahr, ihnen etwas zuzumuten, aufzudrücken aus FEUER UND FLAMME, in denen die Auseinandersetzung mit ›den Bedingun-
und abzusprechen. Dazu ja schon weiter oben. gen des eigenen Handelns‹ (S. 160) vorangetrieben wird (vor allem im Organisie-
Draußen/Drinnen, das sind Grenzbestimmungen. Autonomie fängt an mit rungskapitel, auch IWF- Kampagne). Gemeint ist ja nicht subjektivistische
dem Grenze ziehen im Sinne von sich in Widerspruch setzen an. Es heißt, sehr Nabelschau, sondern der Versuch, den Anspruch an eine politische Praxis in eine
bewußt zu bestimmen, wo das Zentrum der Macht und wo seine Ränder sind. Lebensform zu übersetzen.
Sich selbst am Rand zu plazieren ist das Gegenteil einer Marginalisierung, deren Und von den Lebensformen ist, wie gesagt, in FEUER UND FLAMME für mei-
Opfer man ist. Allerdings fällt oft genug beides zusammen und dann geht es nen Geschmack zu wenig die Rede.
darum, aus der Marginalisierung eine bewußte Haltung zu machen, aus der Noch einmal der Versuch einer Annäherung aus der Außenperspektive auf
Unterdrückung eine Positon. Leben in der Dezentrale. Aber Achtung: zu Zeiten die Lebensformen, also aus der Perspektive der Mythen. Diese waren im Gegen-
kann aus Rändern ein Zentrum werden. So wie man in Kreuzberg die ›Ränder‹ satz zur Alternativbewegung nie Erfindungen aufgrund eines mehr oder weniger
zur ›multikulturellen Vielfalt‹ hochstilisiert und damit letztlich attraktivitätsstei- einheitlichen Politikentwurfs, sondern reinste Recyclingunternehmen. Das Vor-
gernde Standortpolitik betrieben wird. Dann werden aus Rändern Nischen, in gefundene zweckentfremden, statt neue alternative Märkte zu erfinden. Anders
denen man es sich behaglich macht. Man sollte dann schnellstens weiterziehen, ausgedrückt, lieber Windbeutel an einem unverhofften Ort als reine Utopie.
andere Räume besetzen – die Räume anders besetzen. Wenn die Hammer-und-Zirkel Fahne als Tischtuch in einem besetzten Haus
Vom Rand aus hat man übrigens den besten Blick auf das Zentrum. Und die- wieder auftaucht, ist das ebenso eine Form der Zweckentfremdung, ein sinnvol-
ser Blick, die Analyse dessen, was man da sieht, umreißt die möglichen Räume. les Recycling, wie die Umwidmung das Polizeicodes ›Hönkel‹ für die flächen-
Das sind nicht die Freiräume, jenes Vakuum, das die Macht grade so ansaugt. Das deckende Bestäubung einer Einkaufsstraße mit Mehl. Auch die eingeworfene
unterscheidet die Autonomie von der Autarkie, die lediglich darauf bedacht ist, Fensterscheibe einer Bank wäre in diesem Sinne Zweckentfremdung. Aus der
sich frei und rein zu halten von dem abgelehnten und abgelegten Außen. In die- Trennscheibe wird ein Eingang. Das Reich der vorgeschriebenen Zwecke zerfällt
18 sem Sinne wäre die Alternativbewegung eine autarke Bewegung, (Stichwort ohne die Stützpfeiler der Macht und die so vorgeführte Macht ist auch in ihrer 19
geringsten Äußerung ein erheiternder Anblick. Was einschüchtert, wird in einem weniger zu arbeiten und dem Kob eins auszuwischen...Autonomie als die Beset-
Lachen abgeschüttelt. Von diesen Versuchen, Repressionen in einem grandiosen zung einer Leerzeile gesellschaftlicher Phantasien? Die Besetzung dieser Orte ist
Lachen den Boden zu entziehen, ist in FEUER UND FLAMME die Rede; zeigt es die Besetzung von ›Freiräumen‹ und grade nicht das Freiräumen von besetzten
doch auch, daß unter einer ›Motorradkappe‹ durchaus keine haßerfüllten Despe- Orten. Das machen Utopisten, die sich in der mit Schlechtigkeit besetzten Welt
rados stecken. (Und besorgt fragt sich Séverine Lansac, ob ein so spaßloser, ver- an einen besseren Ort wünschen. An einen Ort, der keiner ist, eine U-topie,
nünftiger Text dieser autonomen Wirklichkeit nicht unrettbar hinterherhinkt.) Nicht-Ort. Die anderen Orte aber, die wirkungsvollen, sind Hetero-topien. Ein
Dies hier bleibt ein Text, der in seiner ganzen Form den herrschenden Diskurs Ausdruck von Foucault, den er der Medizin entwendet. Dort bezeichnet er ein
nicht überschreitet -so wenig wie FEUER UND FLAMME übrigens auch, was das Gewebe an einer Stelle, wo es nicht hingehört.
Buch entgegen der erklärten Absicht etwa für den universitären Diskurs verwert- »Es gibt gleichfalls- und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirk-
bar macht. In Buchform kann sich Autonomie eben am wenigsten austoben! liche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeich-
Für den räuberischen Umgang mit Symbolen, für Zweckentfremdungsaktio- net sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte
nen im oben beschriebenen Sinn ist zu Zeiten, in denen subtile Medienstrategien Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig reprä-
an die Stelle von symbolischer Repräsentation der Macht tritt, wenig Anlaß. Sind sentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte,
solche ›Aktionen‹ doch auf die Symbole des Mächtigen angewiesen. Daß politi- wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind
sche Auseinandersetzungen sich immer dort entzünden, wo sich Macht eindeutig als alle Plätze, die sie reflektieren, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die
repräsentiert, wo sie sich zum Symbol verdichtet, zeigt sich z.B. an der Debatte Heterotopien.« (Michel Foucault, Andere Räume, S. 10)
um die Lenin-Denkmale. Und das zeigt auch, wie unangemessen im Verhältnis Als Gegenplazierungen wären Heterotopien nie unabhängig von den beste-
zu ihrem politischen Gewicht sich Debatten verschieben hin zu den Kristallisati- henden Plazierungen, von denen sie sich absetzen. So wie eine Wanderdüne viel-
onspunkten souveräner Machtäußerung. Auch deswegen ein Plädoyer für die leicht, umspült und verformt von den Wogen der Macht. Manches in diesen
kleine Politik für die unscheinbareren Äußerungen der Macht. Oder für eine Heterotopien ist regelrecht spiegelverkehrt, anderes nur scheinbar ganz anders.
Analyse der Erfassungs- und der Medientechniken. Aber das ist die theoretische Heterotopien halten auch Zeiten besetzt, die in den Intercityzügen ansonsten
Seite, von der überhaupt nicht absehbar ist, daß sie eine Perspektive zum Han- vorbeirauschen. Es herrscht eine andere Zeit. Von außen betrachtet könnte man
deln eröffnet. Autonome Politik ist eine Politik der Evidenzen. Sie ist auf das ihren Rhythmus behäbig oder beharrlich nennen. Von innen erscheint Beharr-
Spektakuäre angewiesen, das Aktuelle, die Straße, die Symbole. lichkeit als ein Moment der Kritik in Absetzung zur hastigen Avantgarde, die
Und autonome Praxis ist angewiesen auf Räume. Wirkungsvoll waren und immer bloß die Vorhut der Herrschenden ist. Dagegen schlägt uns der falsche
sind Aktionen immer an den anderen Orten, den autonomen Räumen, gewesen. Traum, an der Spitze einer Bewegung zu stehen, ständig ein Schnippchen. Wie
In sie wird hineingenommen, was nach der offiziellen Zweckbestimmung dort ein Faden des Frusts windet er sich durch ungezählte Perspektivdiskussionen. Auf
nicht hingehört. ›Autonome‹ verkörpern einen Raum, der nicht auf Dauer ange- dieses Phantom kann verzichtet werden. Es sollte genügen, daß Heterotopien,
legt sein muß, wie die Straße, die etwa für Dauer einer Demonstration autono- beunruhigen können.
mer Raum wird. So flüchtig wie Körper eben sind und im Verschwinden mythi- Heterotopien sind Gewebe ohne feste Umrisse, ohne Mitglieder und ohne
sche Körper hinterlassen. Die Unterstellungen der Anderen schaffen die Mythen. Programm. Weil Heterotopien sich an ihrer Umgebung bilden, hört man oft die
Und Mythen sind keineswegs Gespinnste! Sondern wirkungsvolle Orte, manifest Klage von der fehlenden Kontinuität. Umzüge, Themenwechsel, Launen, Kri-
gewordene politische Vorstellungen. Wer diese Orte passieren will, muß sich zu sen, Flauten, revolutionäre Wogen machen jedoch die Heterotopien aus. Die
ihnen ins Verhältnis setzen. Öffentlich geschieht das meist in der Form, daß die Kontinuität ist eine innere, in den Bewegungen oder besser Sprüngen. Und
Auseinandersetzung von den autonomen Orten auf die Aburteilung autonomer schwer, aber keinesfalls nur ein rhetorischer Trick ist es tatsächlich, die Konti-
Monster verschoben wird. So wird öffentlich die Phantasie ausgetrieben, die nuität einer Wanderdüne an ihrem Wandern festzumachen.
autonome Aktionen mit ihrer oft verblüffenden Plausibilität in anderen freisetzen Heterotopien sind durchlässig, porös. Von Zutrittsbeschränkungen redet, wer
20 könnte. Mehr als plausibel ist es, einmal ohne zu bezahlen einkaufen zu gehen, unverdaute, unverdauliche Kollektivansprüche an diese autonomen Orte heran- 21
trägt. Was für ein großes Mißverständnis ist es, daß ›das Kollektiv‹ absolute Iden- Tecumseh I
tität mit seinen Subjekten verlangt! Es ist gradezu angewiesen auf die widerstän-
digen nicht-identischen Momente der Einzelnen. Dieses Stück Fremdheit macht
Offener Brief an Geronimo
allererst den Austausch möglich, der Autonomie kennzeichnet. Sonst würde
Autonomie mit der Leugnung von Eigenständigkeit und Verschiedenheit begin-
nen, mit der Subsumtion unter eine vermeintliche Ideologie der Autonomen.
Das wäre kein guter Anfang. Unzugänglich erscheinen die Autonomen nur,
wenn autonome Selbstbeschreibungen und Äußerungen als Verhaltenskodex
gewendet werden. So ist auch FEUER UND FLAMME nicht als Festschreibung des-
Lieber Geronimo !
sen, was die Autonomen sind, zu lesen, sondern als Beschreibung von Hetrotopi-
en, unvollständig und unabgeschlossen – im Entstehen sich entwerfend und wie- Da du ja schon selbst dazu einlädts dich »auf’s heftigste zu beschimpfen und zu
der verwerfend. kritisieren« möchte ich das im Folgenden tun. Doch erst einmal gibt’s ein paar
Streicheleinheiten: Du hast es als erster gewagt, dieses vielen unter den Nägeln
brennende Thema »Wer und was sind wir – die Autonomen« und »Woher wir
kommen, wohin wir gehen« jenseits eines tagespolitisch aktuellen Textes in
Buchform anzugehen. Allein dafür gehört dir allerhand Lob und der schwarz-rote
Stern am Goldkettchen um den Hals gehängt.
Daß Mensch da vieles nur falsch machen kann bzw. es ihm aus tausenden von
Kehlen entgegenklingt »Nein, Nein, es war alles ganz anders« ist klar. Doch bleibt
der Moment, daß die Debatte eröffnet ist und die Fetzen fliegen können. Auch
mein oftmaliges Aufstöhnen beim Lesen über »so einen Schwachsinn« ist ein pro-
duktiver Moment. Er bringt mich nämlich dazu, jetzt hier in einem Straßencafe
zu sitzen und dir zu schreiben. Somit soll auch meine Kritik dich nicht in Grund
und Boden verdammen, sondern zielt eher in die Richtung einer »grundsätzlich
überarbeiteten« Neuauflage.
Zuerst mal zu den formalen Sachen: Für wen ist das Buch geschrieben? Als
»interner« Diskussionsbeitrag für autonome GenossInnen oder für Dritte (z.B.
meine Mutter, der ich mit dem Buch endlich die leidige Frage beantworten kann
»Was macht ihr eigentlich?«)? Du schwankst dauernd zwischen den Ansatzpunk-
ten hin und her und löst weder das eine noch das andere befriedigend. Für einen
»internen« Diskussionsbeitrag bleibst du zu sehr auf der beschreibenden Ebene,
arbeitest zu wenig Problemstellungen und Lösungsvorschläge heraus, andererseits
setzen deine Beschreibungen oft wiederum viel zu viele interne Kenntnisse vor-
aus und sind viel zu ungenau, als das ich’s ohne Erläuterungen meiner Mutter in
die Hand drücken könnte. Beide Ansatzpunkte müssen sich nicht unbedingt
widersprechen – sie müßten nur klar strukturiert werden. Zuerst beschreiben um
was es geht, dann daraus die Fragen und Problematiken entwickeln und eigene
22 Kommentierungen und Lösungsvorstellungen einbringen. Das hört sich zwar 23
jetzt nach der Kritik eines Uni-Profs an Seminararbeiten an, aber an deinem täglichen Niedergangsprozessen einer Bewegung stellst, kann Mensch dies auch
Buch fällt mir deutlich auf, wie »sachlich berechtigt« so eine Kritik manchmal ist. begreifen.
Auch vielen unserer heutigen Autonomen müßte Mensch genauer erklären, was Ebenso beschreibst du ’68 als Studentenrevolte; der Dreh- und Angelpunkt ist
z.B. der Häuserkampf 80/81 eigentlich war. für dich der 2. Juni 67, aber vom ebenso wichtigen Rolling Stones Konzert in der
Und bei der Konzeption sind wir beim nächsten Punkt. Oft verlierst du den Waldbühne hast du noch nie was gehört; wie überhaupt von den »Rolling Sto-
roten Faden, schneidest du da was an, führst es aber nicht als Gedanken zu Ende; nes« und den »Beatles« (sie stehen hier nur als die bekanntesten Symbole). All die
z.B. taucht der Bremer Kongreß 1988 über den »Neuen Antiimperialismus« ins- kulturellen Aufbrüche von Jugendlichen im weitesten Sinne fallen bei dir hinten
gesamt an drei Stellen auf, immer mit einem neuen Aspekt der Kritik versehen. runter oder werden höchstens nachgeordnet erwähnt, wenn sie für die Polit-
Auch die zeitliche Chronologie gerät manchmal durcheinander, und ein paar KaderInnen verwertbar sind. Haschisch und Kiffen, Drogen, Hippies und der
Fakten hättest du genauer recherchieren können. Es sind mir einfach zu viele Wunsch nach freier Sexualität tauchen bei dir nicht auf, nur eben die »Haschre-
kleine Fehler und gewaltige Worte (»massenhaft«, »Großdeutschland«). Oder bellen« als Gründungsformation der »Bewegung 2. Juni«. So beschreibst du die
manchmal fragt sich Mensch, was willst du nun eigentlich damit sagen, z.B. politische Oberfläche und das Handeln und Reden der politischen Schicht, aber
wurde ich aus dem Kapitel über den Alltag auch bei mehrmaligen Lesen nicht losgelöst von ihrer kulturellen Basis. Dabei hast du doch den Aufsatz von K. H.
schlau – aber vielleicht bin ich auch einfach zu blöd dazu. Zusammen mit den Roth mitverwurstet, in dem er genau diesen Punkt deutlich herausarbeitet: daß
manchmal bezugslosen Gedankenassoziationen und das der Text – trotz der ’68 eben keine »Studentenrevolte« war, sondern zumindestens eine umfassende
Überarbeitung durch Dritte – seinen geschwätzigen Unterton nicht verliert, »Jugendrevolte«.
wirkt das alles manchmal reichlich verwirrend. Oder als aktuelles Beispiel: Seitenlang läßt du dich bei den Aktionstagen
Doch nun zum Inhaltlichen: Zwei Hauptkritikpunkte habe ich: Erstens daß gegen den IWF über Siemensstadt aus, erwähnst aber das eigentlich »erfolgreiche«
du voll aus der Sicht der Polit-KaderInnen der Autonomen schreibst und dir Ereignis der IWF-Aktionstage, das Trommeln am Breitscheidplatz mit kaum
damit deutlich mehr als die Hälfte der »Wirklichkeit« verloren geht und zweitens, einem Wort. Hier gilt es doch tausende von Fragen raus zu arbeiten. Warum das
damit zusammenhängend, daß du scheinbar mit Kultur und autonomer Alltags- ausgedacht politisch richtige nicht ankommt (Siemenstadt, Arbeitsamt etc.) aber
kultur überhaupt nichts anfangen kannst. mit diesen diffusen Aktionen wie das Trommeln auf dem Breitscheidplatz oder
An drei Beispielen will ich das mal erläutern: Du erklärst den Häuserkampf dem »Bankerklatschen vor der Oper« viel mehr Breitenwirkung und damit letzt-
80/81 vor allem als von »Leuten aus der undogmatischen linken Alternativszene lich auch ein materieller Angriff bewirkt wird?
getragen, die z.T. vorher in Anti-AKW- Studenten- und Knastgruppen gerabei- Warum erwähnst du die autonome Alltagskultur wie Wohngemeinschaften,
tet hatten« (S. 95) Das ist als Teilaspekt nicht falsch , aber so wie es bei dir steht, Frauengruppen, besetzte Häuser, Jugend- Kulturzentren, Konzerte, Kiezdiskos,
wird es falsch. Du setzt nämlich diesen Teil als zentralen Aspekt, gestehtst noch Alternativ-Klitischen, Versuche eine andere Sexualität zu leben, etc, mit kaum
ein paar reformistische Stadtteilgruppen zu und vergißt den ganzen Rest: nämlich einem Wort. Dazu möchte ich dir als Lesetip zur Rangehensweise und zum
die Punks, ihre Musik (die eben mit »Slime« und »Fehlfarben« die kulturelle Blickwinkel den Aufsatz von K.H.. Roth »Massenautonomie im Modell
Klammer zwischen linksradikaler Szene und jugendlicher Restbevölkerung schaf- Deutschland« in einer der letzten Nummern der »Autonomie-Alte Folge« emp-
fen) und die sonstigen »no future« Jugendlichen aus Westdeutschland und sonst- fehlen (leider bezieht sich der Artikel nur auf die späten 70er Jahre).
woher. Erst dadurch wird aus den 500 Menschen der linksradikalen Szene, die für Zusammenfassend möchte ich festhalten: Dein Fehler ist, daß du die Autono-
sich ziemlich allein und isoliert sind, eine Bewegung und eine Kraft. Das Wort men eher als »politische Partei« beschreibst und nicht als linksradikale politische
»Punk« oder »Popmusik« taucht bei dir kein einziges Mal auf. Auch kann Mensch Tendenz in einer kulturellen und sozialen Bewegung. Weiter hinten kapierst du
die bürgerliche Beschreibung des ganzen als »Jugendrevolte« nicht so billig abtun, dies sehr gut (S. 222) aber warum wendest du das nicht auf die 200 vorhergehen-
wie du dies tust. Warum passen sich denn die Mehrheit der Menschen, die 80/81 den Seiten an?
mit Steinen geworfen haben, zwei, drei Jahre später wieder an? Warum wird der Obwohl du angeblich alle 43 Bände von Carlos und Frederik in der Bade-
24 existenzielle Bruch wieder vergessen? Nur wenn du dich den kulturellen und all- wanne gelesen haben willst, kein Wort zu den materiellen Existenzsbedingungen 25
unserer Szene oder gar zu der sozialen Herkunft von uns Mittelschichtskindern. Tecumseh II
Nur auf S. 110 gehst du kurz z.B. auf die Streichungen von Arbeitslosengeld und
Bafög ein, aber im völlig falschen Zusammenhang mit Jobbergruppen. Daß die
Von kulturellen und sozialen Klassen
Möglichkeit, sich relativ viel Zeit von den Mühseligkeiten des Gelderwerbs frei-
zuhalten und von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Bafög zu leben, eine wichti-
ge materielle Entstehungsbedingung für die Revolte 80/81 war und auch genau
deshalb in den Jahren danach der Angriff darauf einsetzte, arbeitest du nicht raus.
Vielleicht kommt auch deshalb heute kein Häuserkampf mehr so in Gang, weil
Vielen die freie Zeit fehlt? Nach meinem ersten offenen Brief zu deinem Buch FEUER UND FLAMME hatte
Damit will ich es erstmal belassen. Das Buch schadet auf keinen Fall, bedarf ich dir versprochen meine Kritik nochmal ausführlicher darzustellen, nicht nur
aber dringend einer gründlichen Überarbeitung, beziehungsweise dreier »Gegen- beim kritisieren und zerreißen stehen bleiben, sondern auch konstruktiv zu for-
bücher«, die es überflüssig machen. So hat es zumindest mit der Eröffnung der mulieren was ich anders gemacht hätte. Da ich wie alle Menschen die üblichen
Debatte seine historische Mission erfüllt. Probleme habe, mal in die Pötte zu kommen und die weltpolitischen Ereignisse
Mach’s gut. Alter (von Mainzer Straße bis zum Golf) sich überschlagen, fällt es mir schwer, alle
Gedankenfetzen und Ideen so schnell mal wieder aus einer verstaubten
(aus: INTERIM Nr. 102 /1990) Gehirnecke und von irgendwelchen Zetteln, die ich letzten Sommer in den Ber-
gen dazu beschrieb, rauszukramen und zu ordnen; geschweige in einen wohl-
durchdachten, mit »klugen« Zitaten gespickten Text zu fassen. Trotzdem hab
ich’s auf die schnelle mal versucht.
Wer und Was »die Autonomen« sind, kann mensch nur begreifen, wenn er /
sie uns primär unter kulturellen, sozialen und alltäglichen Gesichtspunkten
anschaut und erst dann von unserem politischen Erscheinungsbild her. Denn es
geht uns mehr um eine Lebensweise und Lebensgefühl, die im Unterschied zu
allen anderen »politischen Parteien« die ganz Existenz umfasst, als um ein politi-
sches Programm. Mensch kann nicht morgens als Schichtführerin in die Fabrik
oder als Studienrätin in die Schule und abends auf Autonome machen, wie
mensch ohne existentielle Konsequenz Parteimitglied z.B. der »Grünen« sein
kann. Wir Autonomen sind Teil und der radikalste und politisch expliziteste Aus-
druck der Subkulturen, die (nicht nur) in der BRD in den letzten 25 Jahren ent-
standen sind.
Dazu nun etwas genauer, doch vorher noch etwas zum Blickwinkel: Es gibt
zumindestens zwei Arten der Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtung: Einer-
seits der Blick von unten, wie wir uns (gerne) sehen, was wir wollen und was wir
gerne sein würden, auf welche historischen Wurzeln wir uns beziehen, in wessen
Kontinuität wir uns sehen, etc. Und andererseits der »objektive«, »analytische«
Blick von oben, quasi als »Weltgeist Superstar« aus einem Raumschiff auf die
Erde schauend und sich fragend, ob die autonomen Kämpfe in einer Gesellschaft
26 wie die der BRD überhaupt auffallen, was sie bewirken, welche Bedeutung und 27
Wichtigkeit sie haben, was wird davon »historisch« übrig bleiben (ist der Kampf siert und in den Kreislauf von Konsum- und Geld integriert, zerfällt diese Szene
gegen AKWs aus der Sicht des Jahres 2100 mehr als eine Fußnote?) und was ist bei genauer Betrachtung, die zeitweise (z.B. Ende der 70er) bis zu 10% der
vergebliches Abstrampeln gegen den Lauf der Welt. Bevölkerung der BRD ausmachte in zig Untergruppen, die sich zum Teil heftig
Mir ist jetzt erstmal der zweite Punkt wichtig: Seit etwa Mitte der 60er Jahre befehden. Und ein weiteres Problem ist die Kontinuität dieser Kulturen: Sie
hat sich in der BRD (wie auch in den USA und vielen anderen westeuropäischen bestehen allenfalls auf der Beschreibungsebene von oben, aber bis auf wenige
Staaten) ein kultureller Bruch vor allen von Teilen der Jugendlichen entwickelt, Ausnahmen nicht auf der Ebene der konkreten Personen. Die autonome Scene
deren zentrale Kennzeichen die Verweigerung der Konsum- und Leistungsgesell- ist ein großer Durchlauferhitzer, die Menschen kommen und gehen – und spie-
schaft sowie das Benutzen von Drogen und als gemeinsames, weltweit verbin- len das nächste Spiel. Menschen, die 68 dabei waren und heute immer noch
dendes Element die Musik waren: Von den »Beatles« (wie harmlos die heute auch dabei sind, kannst du an einer Hand abzählen, aber die Zahl derer, die mal einen
immer wirken, damals war ihre gesellschaftliche Funktion eine andere) über die Stein geworfen haben und heute z.B. StudienrätInnen sind, geht in die tausende.
»Rolling Stones« hin zu »Jimi Hendrix« und als offensichtlichster Bezugspunkt Oder: der Prozentsatz derer, die schon beim Häuserkampf 80/81 dabei waren
»Woodstock«. Dazu kamen noch gewisse Äußerlichkeiten, wie lange Haare, etc. und heute noch aktiv sind, ist zwar deutlich größer, aber auch die Masse der
Auf dieser kulturellen Ebene wurde eine »weltweite« Gemeinsamkeit gefunden HäuserkämpferInnen ist integriert. Das Problem der Autonomen ist mit, daß es
und dann und darauf aufbauend konnte sich die sogenannte »Studentenrevolte« sich wesentlich um eine Jugendrevolte handelt und die Mehrheit spätestens mit
1968 (oder besser: Jugendrevolte 68) entwickeln, die dann explizit politische 30 andere Wege geht – ob daß nun verwerflich ist, ist eine andere Frage, aber es
Inhalte und Forderungen hatte. Die soziale Herkunft oder ein gemeinsamer ist erstmal Fakt. Eine aufständische Kultur und Lebensweise ist individuell nicht
sozialer Hintergrund (z.B. als Massenarbeiter bei VW etc) spielte weitgehend konservierbar, überlebt sich, auch ihre »Lebenslügen« nutzen sich ab. Besonders
keine Rolle – der Joint kreiste vom abgehauenen Fabrikarbeiter zum klug daher unsere oft geschmähte alternative Ökonomie ist hier als Auffangspunkt gegen den
schwatzenden Studie aus Mittelstandskreisen, im Hintergrund die Musik von Jimi ökonomischen Druck zur Anpassung zu beachten. Aber noch gibt es keine
Hendrix. Eine Bewegung entstand erst, als Studies und Jugendliche zusammen widerständische Kultur der 40-Jährigen.
kamen, die Klammern bildeten Musik und Drogen, es konstituierte sich eine: In diesem kulturellen und sozialen Konglomerat sind die Autonomen (oder
KULTURELLE KLASSE früher die Spontis) der radikalste und explizit politische Flügel, der am existenzi-
Und diese kulturelle Klasse existiert bis heute – nicht mehr so auf Jugendliche ellesten und militantesten für seine Ideen und Interessen eintritt. Ohne diesen
bezogen wie ’68 und stellt den zentralen Bruch und Konfliktlinie in der Gesell- Hintergrund sind die »KaderInnen« der Autonomen ein lächerlicher Haufen von
schaft der BRD dar. Es geht im Groben um zwei kulturelle Entwürfe von Leben: politischen Wichtigtuern, aber mit diesen sind die Autonomen die Hefe im Teig.
Industrie- und Konsumgesellschaft oder um Leben im Hier und Jetzt. Dies drückt Und an den Punkten, wo es gemeinsame Berührungspunkte der verschiedenen
sich besonders in starken Generationskonflikten, der Ablehnung der Industriege- Teilscenes gibt (Anti-AKW, IWF, Häuserkampf, etc) entsteht die politische Stär-
sellschaft (besonders ihrer Großprojekte) der Kampf um sexuelle Selbstbestim- ke der Autonomen. Übrigens, auch die Grünen sind ein politischer Flügel dieser
mung (Lesben und Schwule, Versuche einer anderen Sexualität), den Kämpfen kulturellen Klasse.
der Frauen, den Kämpfen um die Lebenshaltungskosten wie Mieten, Fahrpreise Und ein weiterer Aspekt: Genau diese Herausbildung einer eigenen Kultur
etc, Experimente mit Drogen, in der gemeinsamen Musik (früher Rock, heute macht unsere Stärke im Vergleich zu Italien und Frankreich aus, die es uns im
Punk im weitesten Sinne) die gemeinsame Verweigerung von bestimmten Teilen Unterschied zu ihnen ermöglichte auch nach heftigen Angriffen der Herrschen-
der BRD-Kultur wie Karriere, Heiraten, Kleinfamilie mit Kindern etc und der den zu überleben (z.B. ’77). Die zig Jugend-, Kultur- und Autonome – Zentren,
Versuch, in anderen Lebensformen wie Großgruppe, WG und Kommune zu Kneipen, Kollektive etc., die es bei uns gab und gibt sind »unsere Berge« in die
leben. wir uns zurück ziehen können, trotz der Doppeldeutigkeit, daß dies gleichzeitig
Natürlich ist das alles viel widersprüchlicher, sind Teile ständig darum bemüht ein Kaltstellen im eigenen Ghetto ist. Nur im Vergleich zu z.B. Padua in Italien,
sich in die Gesellschaft der BRD reformierend zu integrieren, während andere wo es selbst in Hochzeiten 77 keine einzige »autonome« Kneipe gab, fällt auf wie
28 dies heftig bekämpfen (eben die Autonomen), werden große Teil kommerziali- wichtig diese alltägliche Infrastruktur ist. Wenn du nicht im Alltag als »soziales 29
Mitglied präsent bist, bist du zu leicht auf der politischen Ebene zu besiegen und Mittelschichten, ein Teil ist so an den Rand gedrängt, so daß sie sich als soziale
danach ist dann nichts mehr. Klasse von Marginalisierten neu konstituieren. Aber da das soziale Erleben der
Für den größten gesellschaftlichen Einbruch halte ich immer noch den Uni- BRD-Wirklichkleit so individualisiert ist, ist die kulturelle Klammer als der
Streik im Winter 88/89, weil hier von hunderttausenden autonome Verhaltens- Punkt, wo die unterschiedlichen Einzelschicksale zusammen kommen extrem
weisen, Politikformen und Inhalte aufgegriffen und auf die eigenen Verhältnisse wichtig, bzw. der entscheidende Punkt. All’ die Marginalisierten können nur
verwendet wurden. d.h. es wurden VV’s zur zentralen Entscheidungsinstanz, über eine gemeinsame Kultur die Trennungen und Unterschiedlichkeiten über-
durch die Besetzungen und dem Leben von tausenden von Leuten in den Unis brücken und sich somit als »soziale und kulturelle Klasse« gegen die BRD-Gesell-
ging’s um das ganze Leben, die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der Unis schaft konstituieren. Ein erster Ausdruck dieser neuen Zusammensetzung sind die
durch die StudentInnen, gegen die kapitalistische Verwertung der Uni, unser’m von über 10.000 Menschen getragenen revolutionären 1. Mai-Demos in Berlin.
Willen etwas zu lernen und ganz wichtig auch der deutlich antipatriarchale Cha-
rakter gegen die Männerunis. »Aber halt« höre ich schon alle aufschreiben, daß (aus: INTERIM Nr. 142/1991)
war doch alles inhaltlich so verwässert und so leicht reformistisch zu vereinnah-
men. Ja aber, so ist es eben, wenn das »Volk« unsere Inhalte aufgreift, das wird
dann nicht die »reine Lehre« sein und das es vereinnahmt wurde, heißt nicht, daß
es falsch war, sondern zeigt nur unsere Schwäche so einen Kampf auch durchzu-
setzen. Aber nur so ist eine Revolution im autonomen Sinne denkbar. Als ein
gesamtgesellschaftliches Aufgreifen von autonomen Verhaltensweisen von Fabri-
karbeiterInnen, von den BewohnerInnen der Stadtteile und Dörfer, von den
Frauen, von den Immigrantinnen. Und das ist nur als sozialer Prozess der Ent-
machtung von Herrschaftsstrukturen vorstellbar, die durch das allgemeine selbst-
bestimmte Verhalten in sich zusammen brechen, aber nicht als Sturm auf’s Rat-
haus (dies vielleicht nur als letzte, als abschließende, quasi nur noch symbolische
Aktion). Eine leichte Ahnung wie so etwas aussehen könnte, erlebten wir im
Herbst ’89 in der DDR und im Ostblock, aber da war nur das System reif zum
Sturz, aber nicht die Menschen für eine selbstverwaltete Gesellschaft.
In der BRD sind zur Zeit keine Entwicklungen absehbar, die einen bedeu-
tenden Teil der Bevölkerung gegen das System stellt. Es wird sicher heftige
Kämpfe der DDR-Bevölkerung um möglichst schnelle Gleichstellung mit dem
Westen geben, aber wenn der BVB-U-Bahn-Fahrer gleich viel verdient wie die
BVG-Westkollegin sind diese Kämpfe befriedigt. Sicher wird es heftige Kämpfe
um das Bleiberecht der AusländerInnen geben und antifaschistische Abwehr-
kämpfe, aber ein zentraler gesellschaftlicher Konflikt wie der Anti-AKW-Kampf
Ende der 70er oder gar ein Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums ist im Moment nicht absehbar.
Diese grundsätzliche Beschreibung des autonomen Anliegens als primär kul-
tureller Kampf würde ich bis Mitte (oder Ende) der 80er gelten lassen, nun setzt
eine neue Entwicklung ein, an deren Anfang wir uns bewegen. Die Beschrei-
30 bung als »kulturelle Klasse« ist heute überholt – ein Teil ist fest integriert als neue 31
VAL zwischen Autonomen und Antiimps spätestens ab 87 problematisch, weil von da
an, die rund um den IWF geführte (dröge) Theoriedebatte und diverse Hunger-
Liebe, Krieg und Alltag streik-Mobilisierungen die Grenzen immer mehr verschwinden lassen: Autono-
me Flugis und Zeitungen greifen nicht nur Themen, sondern sehr stark Inhalte
und vor allem Sprachhülsen und Begriffe von den Antiimps auf. Du beschreibst
die lähmenden Auswirkungen dieser Theoriedebatte mit einer Klarheit und ana-
lytischen Schärfe, die 1987 so bitter notwendig gewesen wäre, um die große Läh-
mung zu beenden. Stattdessen kam, von dir als Mechanismus klar erfaßt, damals
Lag’s in der Luft, endlich eine »Geschichte der Autonomen«? Ich habe FEUER bloß wieder die nächste Kampagne, bzw. das nächste Highlight (der Hafen, in
UND FLAMME mit Spannung, Zustimmung und wiederholten Seufzern – »na end- diesem Fall) und keine selbstkritische Debatte.
lich schreibt das jemand« – gelesen, ein wichtiges, ein überfälliges Buch. Ich muß And the beat went on.
das vorausschicken, bevor ich zu kritisieren anfange. Ich will es auch weniger als Aber die Autonomen sind ja immer ein heterogener politischer Zusammen-
Kritik als eher als Kommentar oder Hinzufügung verstanden wissen. Du weißt so hang gewesen, Zusammenhang von Zeitungen, Projekten, Gruppen, die alle ihre
gut wie ich, daß es »die« Geschichte »der« Autonomen nicht gibt, nicht eigent- eigene Geschichte haben. Du schreibst das Buch fast ausschließlich als eine politi-
lich. Wir stecken in unseren persönlichen wie politischen Lebensgeschichten sche Geschichte dieser »autonomen Zusammenhänge«. Die Gruppen und Institu-
drin, und die sind es, die uns bestimmte Fakten wahrnehmen und wichtig finden tionen sind aber im Lauf der Jahre sozusagen »Durchgangssituation« oder besser
lassen, und andere weniger. Diese erbitterte Verteidigung des Eigensinns, der zeitweiliges Stadium von eigener politischer Verortung von enorm vielen Leuten
eigenen politischen Subjektivität ist letztlich unser Ausgangspunkt, der gemeinsa- gewesen, die später wieder raus sind, die den informellen Zusammenhang »Auto-
me (aber individuelle) Nenner von all jenen, die sich »autonom« nennen ... aber nome« später wieder verlassen haben. Das weißt du selber, wie gering der Pro-
natürlich verschiedene Geschichten haben. Also ist es erstmal meine eigene zentsatz der Leute ist, die dabeigeblieben sind, wie häufig die Klagen über die
Geschichte, die aus meinen Anmerkungen spricht, unverleugbar. großen Fluktuation in Projekten, Zeitungen, Gruppen usw. Es reicht nicht aus,
Du machst es dir mit dem Begriff »Autonome« insofern ein bißchen einfach, wenn man alle diese Leute als »bloß anpolitisiert« abtut. Dazu sind’s zu viele. Ich
indem du einfach die Leute darunter subsumierst, die sich selber so bezeichnen denke also, die Geschichte der Autonomen ist weniger die von Institutionen als
und ihnen als Vorgeschichte die Spontis und Operaisten der 70er verpaßt, von die eines »Projekts Autonomie«, wie man’s nennen könnte: Eine von vielen Leu-
denen ja wirklich historische Linien zu den Autonomen hinführen. Das stimmt ten erlebte Phase, in der sie Autonome waren und sich autonomen Gruppen
schon, wenn auch nur zu ’nem sehr kleinen Teil als Kontinuität politischer Arbeit zugehörig gefühlt haben. Machen wir uns nichts vor: Die Autonomen sind zu
(wie bei Karl-Heinz Roth – aber bezeichnet der sich eigentlich als Autonomer?), einem grossen Teil eine unbeständige, personell fluktuierende politische Kraft.
aber die scheinbar unkomplizierte Etikettierung läßt ein paar Aspekte außer Sicht Dieses Projekt Autonomie hat ein paar gemeinsame Überzeugungen, und die
geraten. Erstens gab (und gibt, glaube ich) es undogmatische Militante, die sich wichtigste davon ist der Anspruch, die eigene politische Betätigung auf keinen
nicht als Autonome bezeichnet haben, aber zu deren politischer (Wirkungs-) Fall vom eigenen Lebensstil, von den eigenen Bedürfnissen und Projektionen,
Geschichte untrennbar dazugehören (z. B. während der von dir sehr schön als kurz, von der Art wie man sich’s auf der Welt einrichtet, zu trennen: Ein wüten-
Radikalisierungsschub quer zu den üblichen Politstrukturen beschriebene Wend- des und offensives Einklagen der eigenen Bedürfnisse, auf der Stelle, subito. In
landblockade Mai 1984; oder während des »süddeutschen Booms« an politischer der Hinsicht sind wir alle immer ziemlich romantisch gewesen. Außerdem
Militanz, der Frühjahr 85 einsetzt und Pfingsten 86 seinen Höhepunkt erreicht). schließt es eine bestimmte Art von Weltschmerz ein, seien wir ehrlich. Oder viel-
Also, könnte man sagen, ein immer wieder zur Militanz bereites Potential inner- leicht besser: Das Wissen – und trotzige Eingestehen – der eigenen Isolation.
halb der reformistischen Ökos u.ä., jedenfalls außerhalb der autonomen Scene. Und: Autonomer sein war und ist in sehr grossem Maß eine Frage von Stil,
Die haben immer mitgemacht und bestimmte Phänomene von erfolgreicher eines bestimmten Stils in Klamotten, Mucke, Sprache. Die Autonomen sind min-
32 Massenmilitanz sind ohne die nicht erklärbar. Zweitens wird deine Abgrenzung destens genauso eine Subkultur (»profane culture« oder »youth culture« im Sinn 33
der verdammten Reformisten Cohen & Taylor) wie eine politische Richtung (etwa in »De Zwarte« von 12/88 bzw. 1/89), auch bei militanten Demos auf
und haben das selber nie abgestritten, sondern sich genüßlich selber darin bespie- Kappen zu verzichten, ist nicht nur in die BRD nicht durchgedrungen, sie ist
gelt. Du spielst auf alles das in deinem Kapitel über die autonomen Mythen leider hier nicht mal denkbar. Ich würde mich freuen, wenn du gegenteiliges wüßtest.
bloß an. Und ich will das auch nicht als eine herablassende und arrogante Psy- Deine Ausführungen zur Gewalt als politisches Problem (wessen Problem?)
chologisierung verstanden wissen, nicht als Angriff oder Diffamierung. Ich denke, und zur »Gewaltdebatte« (und wie sie am Wesentlichen vorbeigeht) sind hervor-
es ist hilfreich sich selbst zu betrachten, wenn man bestimmte Entwicklungen ragend, aber ich muß trotzdem was dazufügen. Für mich ist, wie für viele, glaube
kapieren will. Selbstkritik ist ersteinmal eines: Genau hinsehen. ich, die Auseinandersetzung auf der Strasse, die eigene und kollektive Militanz
Du tust aber das ganze Buch über so, als wären die Autonomen so etwas wie eine befreiende Erfahrung gewesen. Natürlich mit Ängsten und Adrenalin
eine feste politische Bewegung, fast eine Art Partei: Dabei sind sie in Wirklichkeit besetzt, aber ich habe sie immer als eine solidarische, starke (pardon, aber isso)
mehr, nämlich ein gemeinsames Lebensgefühl, eine Subkultur eben. lustvolle Antwort auf die Arroganz der Macht erlebt, eine Explosion von Wut
Wir waren (und sind) einfach oft von unserem eigenen coolen Auftreten & und Zärtlichkeit und Solidarität gegen den Beton der Verhältnisse. Aber genau
Outfit allzusehr begeistert: Deshalb die von dir beschriebenen Mythen, deshalb deswegen muß man von einer verkürzten militaristischen Sichtweise politischer
das zu Recht registrierte Fehlen von Gelassenheit, pragmatisch mit reformisti- Auseinandersetzung á la »Hau drauf, is Tango« wegkommen zu einer pragmati-
schen Positionen umzugehen. Und deshalb vor allem die autonome Unfähigkeit, scheren Einschätzung. »Lupus«« und andere haben diese Kritik mehrfach formu-
die immer wieder aus den eigenen Reihen (»Lupus« und andere) geäußerte liert, ich muß das nicht wiederholen. Es gab und gibt in grossem Ausmaß sinnlo-
Selbstkritik wirklich anzunehmen, geschweige denn auch nur ansatzweise umzu- se und kontraproduktive Militanz von Genossen auf Demos (und anderswo). Du
setzen. gehst in dem Kapitel »Mythen«, wo es eigentlich hingehört, auf dieses Thema lei-
Halten wir fest, daß die Autonomen als politische Bewegung nach 1983 und der nur am Rand ein. Seien wir ehrlich: Unsere Militanz ist sehr häufig zur vor-
nach 1986 ordentlich in der Krise stecken: Du deutest das zwar in deinem histo- hersehbaren Randale ritualisiert, und nur zu häufig ist sie nicht mehr politisches
rischen Abriß an, formulierst es aber nicht ausdrücklich, weil du ja Kontinuitäten Kampfmittel, sondern zur verzweifelten Selbstvergewisserung verkommen. Wir
darstellen willst. Mit Krise meine ich: Ein weitverbreites Gefühl von Stillstand, Autonomen waren und sind über den großteils theatralischen Charakter unseres
Resignation, die Leute bleiben weg, die Debatten drehen sich im Kreis, keinem Auftretens nicht im Klaren, fürchte ich, und verwechseln für einen Nachmittag
fällt was neues ein, alle leiden vor sich hin. In beiden Krisen sind die ganz über- lustvoll umgedrehte Verhältnisse in ein paar Straßen allzuoft mit »revolutionärer
wiegenden Teile autonomer Zusammenhänge nicht nur nicht bereit, Selbstkritik Auseinandersetzung«. Unser Auftreten bei Demos hat häufig den Charakter einer
aus den eigenen Reihen wahrzunehmen und zu diskutieren, nein, sie betonen Inszenierung, eines Spiels – aber deswegen ist es nicht weniger wirksam und
eher noch verstärkt die Abgrenzung, die autonome Großmäuligkeit & Arroganz, nicht weniger politisch, verdammt!
die Mythen. Deine politische Geschichte der Autonomen beschreibt zwar die heftigen
Ich bin sehr froh, daß du die Haßkappe und die Kleiderordnung unter den Auseinandersetzung auf Demos und sonstwo, aber sie leistet keine »Kritik der
Mythen an die erste Stelle setzt und, na sagen wir mal, kritisch beleuchtest. Jede Waffen. Die Geschichte autonomer Strassenkämpfe und ihrer Niederlagen, die
Fotodokumentation über die Berliner Hausbesetzerjahre 79-83 führt einem vor für die Betroffenen existentielle Folgen hatten und haben, ist nicht nur eine der
Augen, daß diese Hochphase autonomer »Gegenmacht« (von dir zu Recht als Repression, sondern auch eine von autonomer Selbstüberschätzung und Blind-
Begriff problematisiert) von Leuten mit ziemlich heterogen Aussehen gelebt und heit. Wenn es ein Tabu der Autonomen gibt, dann liegt es hier: Auf der Strasse.
erkämpft worden ist; und daß die Entstehung von einzig korrekten »autonomen Oder, anders gesagt: Repression ist keine Entschuldigung für Großmäuligkeit
Outfit« in den Köpfen erst später erfolgt ist; daß die Haßkappe längst eine Art und Dummheit, und schon gar nicht für den Mangel an Phantasie und militanter
Dogma und autonomes Glaubensbekenntnis geworden und mittlerweile viel Innovation.
eher ein Hemmschuh und Hindernis für die Kämpfe ist, als deren zeitgemäße Innovation? Die ist im Moment nicht in Sicht, fürchte ich. Vielleicht gehe ich
Ausdrucksform. Aber es wird unerschütterlich an ihr festgehalten – Subkulturen zu sehr von Hamburger Verhältnissen aus, aber hier passiert auf Demos nicht nur
34 sind, seien wir ehrlich, ziemlich wertkonservativ. Die holländische Diskussion nichts neues, es wird vielmehr eine Art traditionelles Brauchtum abgespult, der 35
vom Outfit über die Musik aus dem Lautsprecherwagen bis zu den skandierten feindliche abstrakte Schreibe politischer und sozialwissenschaftlicher Theoretiker
Parolen reicht – als ob jedermann verzweifelt bemüht wäre, sich wie in einer & Korinthenkacker verkrüppeln lassen: Je schwerer lesbar, desto »relevanter«, das
großen nostalgischen Inszenierung metropolitaner Kämpfe ins Jahr 1981 zurück- war immer das unausgesprochene Motto. Ein Blick auf radikale englische und
zubeamen, notfalls mit Hilfe von ein paar Dosen Holsten-Pils. Ich wollte eigent- amerikanische Wissenschaftler zeigt, daß das nicht so sein muß, sondern daß man
lich nicht polemisch werden. Es ist so ... Du weißt das selbst, glaube ich, jeden- präzise, aber gleichzeitig amüsant und lesbar schreiben kann. Es ist einer von den
falls nach den Passagen in deinem Buch zu schließen, in denen du über die Paradoxen und Treppenwitzen autonomer Geschichte, daß die Texte aus dem
Zwänge, die Kälte und die Enttäuschungen des Szenealltags schreibst. Und du Umkreis des Projekts Autonomie, das doch lustvolle politische Subjektivität und
beschreibst ziemlich gut diese autonome Schizophrenie, dieses Feind-Bild: Der Radikalität auf seine Fahnen geschrieben hat, immer so unendlich vertrackt, ver-
Feind ist einerseits übermächtig – als »das Schweinesystem« bzw.. »das transnatio- klausuliert, theoretisch verbiestert geschrieben sind – ungeheuer deutsch.
nale Kapital« bzw.. vollends abstrakt: »die Herrschenden« – und überall er- Aber das ist nicht der einzige Treppenwitz. Die Autonomen haben immer ein
drückend präsent, aber andererseits muß er als möglichst angreifbares Haßobjekt Gespür für wirkungsvolle theatralische Posen und Inszenierungen gehabt, für
ständig in nächster Nähe lokalisiert werden – was häufig ins Groteske umschlägt. einen karnevalesken Umgang mit Politik: In einen andere Haut schlüpfen, für
Aus dieser psychischen Struktur heraus sind Spitzelparanoia und die ständige einen Moment eine verkehrte Welt, in der alles ganz anders und alles möglich ist,
Bereitschaft zur »Entlarvung« von Genossinnen als Verräter oder Bulleninforman- in Szene setzen, die Spielregeln umkehren (wobei diese gespielte Welt aber sehr
ten nur zu folgerichtig, wie du das für die quälende Berliner Spitzeldebatte wohl ihre eigenen Regeln hat) die Realitäten überdeutlich in schwarz und weiß
beschreibst, die sich seither in bedrückender Form immer wieder in kleinerem belichten, in einer Kette von situationistischen Revolten. Betrachten wir doch
Maßstab wiederholt hat. Schlimm ist eines: Sie wird sich wohl immer wieder einmal unsere Kleiderordnungen, unsere Liebe zu Masken, brennende Kulissen,
wiederholen, solange es die Szene in dieser Form und mit diesen Umgangsfor- Rauch und Nebel, FEUER UND FLAMME, und nur allzu deutlich können wir das
men gibt. aus unseren Ikonen, den Strassenkampf- und anderen Fotos, die an unseren Zim-
Und schließlich: was mir an deinem Buch fehlt, ist die Kritik an autonomer merwänden hängen und die sich immer wieder in unseren Büchern, Broschüren,
Sprache, an der abgehobenen und nur eingelesenen zugänglichen Terminologie, Flugis wiederfinden, ablesen. Das Projekt Autonomie ist wahrscheinlich die ein-
an den unsäglichen Plattheiten und Worthülsen. Ich finde dein Buch gut lesbar zige von den politischen Bewegungen der letzten 25 Jahre die – wenn auch
und vernünftig geschrieben, aber an einigen Stellen verfällst du auch in solche uneingestanden, implizit – kapiert hat, daß die Macht kein Zentrum, kein »Herz«
Worthülsen (»die Herrschenden« u.ä.), vor allem tust du eine Auseinandersetzung hat, das man angreifen kann, sondern, daß sie immer an ihren Rändern, an ihrer
über Text und Sprache im Vorwort mit der saloppen Formulierung ab: »Anstatt Peripherie wirkt: Und daß deswegen der Ort, an dem man ihr Kämpfe liefert, die
sich (...) von der Art und Weise des Textes einschüchtern zu lassen, sollten die Peripherie, die Randbereiche sind. Sicher – du merkst das -, das ist Focault, aber
LeserInnen lieber den Spieß umdrehen und den Autor für seine Unfähigkeit, ver- hinter dessen Analyse von Macht kann man nicht mehr zurück.
ständlich zu schreiben, auf’s heftigste beschimpfen und sich danach schöneren Für mich paßt das durchaus zusammen: Dieser eigentümliche Widerspruch,
Dingen des Lebens zuwenden.« Scheisse. Jeder revolutionäre Schreiber hat die der schmetternde und großmäulige Anspruch, das Zentrum des Schweinesystems
verdammte Pflicht, schlicht, klar und amüsant zu schreiben, damit es eine Lust ist, anzugreifen, aber eben dadurch, daß man an den Rändern der Kapitalverwertung
ihn zu lesen. Aber eine »Geschichte der Autonomen«, ist zwangsläufig ein teil- Kämpfe führt. Die wilden, erotischen und theatralischen Resurrektionsphantasi-
weise abstraktes und theoretisches Buch, darauf muß sich der Leser schon einstel- en der Autonomen haben nie aufs Herz gezielt, auch wenn das immer von uns
len. Aber es ist nicht »die Arbeit am Schreibtisch an sich, die Schachtelsätze und lauthals behauptet wurde, nicht auf Herrhausen, sondern auf die Vorortfilialen
langatmige Verhackstückungen« theoretischer Texte wie du entschuldigend vor- der deutschen Bank: Und gerade deswegen, weil sie die Peripherie der Macht
bringst: Es ist die mangelnde Arbeit des Schreibers am Text. Du merkst an diesem angegriffen haben, und ihrer hohen theatralischen, verfremdenden und symboli-
Brief, daß ich es auch nicht besser kann, aber es ist anders möglich, wenn auch schen Qualität wegen, sind die Autonomen politisch sosehr wirksam gewesen.
mühsam, und deshalb hat mich die Ausflucht geärgert. Eine ganze Generation Sind sie es immer noch? Ich entdecke in deinem Buch das Bemühen, die
36 von Linken hat sich an deutschen Universitäten durch die verkniffene und leser- autonome Bewegung der Jahre 86 -88, nachdem sie sich durch intensive Durch- 37
dringung mit antiimperialistischer Theorie stark verändert hat, in die 90er Jahre Andreas Fischer/Michael Wildenhain
hinein fortzuschreiben, ’ne Kontinuität herbeizuschreiben in gewisser Weise.
Dabei läßt du den Aspekt »autonome Subkultur«, Kleidung, Musik, Sprache, der
Autonome – Find ich gut!
sehr viel zusammengehalten hat, eher außer Acht. Ich glaube, daß das nicht geht. Eine nicht gedruckte Konkret-Rezension
Ich denke außerdem, daß du Unrecht hast, wenn du im Nachwort schreibst, die
Autonomen seien in den letzten Jahren der 80er »als politische Kraft zahlenmäßig
noch stärker geworden« (S. 235). Die Medien haben seit ein paar Jahren die
Autonomen entdeckt und zu einer eigenartig gestylten Politkuriosität zu machen
versucht – die Haßkappe als bedrohliches Abziehbild – aber mit ihrer tatsächli- In einer Zeit, in der das Substantiv Kapitalismus kaum mehr als kritische Katego-
chen Stärke hat das nichts zu tun. rie begriffen wird, sondern weiterhin als Offenbarung mißverstanden zu werden
Wenn die Autonomen ihre Fähigkeit zur Innovation, also zum Angriff, ver- scheint, ist es angenehm, von einem Buch zu erfahren, dessen Titel allein –
loren haben, dann sind sie bankrott. Dann helfen auch »Revivals« nichts mehr. FEUER UND FLAMME – von einer anderen Leseart der uns umgebenden Wirklich-
Die waren immer Selbstbetrug. keit zeugt. Angekündigt unter anderen als Geschichtsschreibung von unten und
Mal sehen, wie weit die Autonomen ihre »flüchtigen« Qualitäten behalten, empfohlen als erstes Buch über die Autonomen, von einem Autonomen, waren
die du mit Recht für ungeheuer wuchtig hältst, ihre Unberechenbarkeit, ihr wir nicht nur gespannt auf eine geschichtliche Darstellung dieser Bewegung, son-
Selbstbewußtsein, sich dem banalisierenden und unerträglich dummen bundes- dern erhofften darüber hinaus mehr als nur Bemerkungen zu ungelösten Fragen
deutschen Medienzirkus zu entziehen. der Organisierung und Perspektive. Die Erwartungen, die sehr wahrscheinlich
Du hast dich bemüht, eine sehr solidarische und konstruktive Geschichte und von einem Großteil der LeserInnen und Leser geteilt werden, erfüllt das Buch
Kritik des Projekts Autonomie zu schreiben. Ich bin skeptischer und pessimisti- nicht. Ebensowenig kann es als fundierte Geschichtsschreibung der letzten fünf-
scher als du, fürchte ich. Ich glaube nicht recht an Kontinuitäten militanter Poli- zehn bis zwanzig Jahre linker und linksradikaler Initiativen angesehen werden,
tik. Ich glaube, daß die Protagonisten jedes neuen Kampfzyklus, jeder neuen dazu orientiert sich das vom Autor – Pseudonym Geronimo – beschriebene
Bewegung sich aus dem Fundus der vorhergegangenen bedienen, daß sie sich augenscheinlich zu sehr an dessen eigener Biographie. Trotzdem erachten wir
daraus Versatzstücke (an Theorien und Kampfformen) hernehmen, um sie dann den Versuch, die sonst häufig nur als ausgesprochen fragmentarisch, mithin gänz-
in ihrem Sinn neu zu verwenden – so wie wir es mit den Spontis und Operaisten lich disparat wahrgenommenen Aktivitäten autonomer Politik in einen vorläufi-
gemacht haben. Dazwischen, zwischen den Kampfzyklen oder Bewegungen, lie- gen Zusammenhang zu stellen, als bemerkenswerte Diskussionsgrundlage.
gen aber notwendigerweise Brüche. Die sollte man nicht unterschlagen. Ich Konzipiert als Erwiderung auf zwei längere Papiere von Autonomen aus
denke manchmal, daß so ein Bruch eingetreten ist und daß das nächste Kapitel Frankfurt – »Lupus-Papier« und Hamburg – »Ich sag wie es ist!« hat der Autor
militanten Widerstands in der BRD/ »Großdeutschland« nur mehr am Rand von schließlich ein Buch von ungefähr zweihundertfünfzig Seiten vorgelegt, das er in
uns weißen Mittelschichtkindern (und den paar Prolos, die dabei waren) fünf Abschnitte gliedert. Neben einer Vorbemerkung und einen abschließenden
geschrieben werden wird, sondern eher von den türkischen Immigranten der 2. Ausblick ist das der besagte geschichtliche Abriß darin, weitverzweigt, die Wur-
Generation und wütenden und dequalifizierten Zonis. Was für Erfahrungen, zeln autonomer Praxis, weiterhin ein Kapitel zu Fragen der Organisierung ver-
Begriffe, Waffen können wir denen in die Hand geben? bunden mit einer Schilderung autonomer Realitäten, und schließlich ein
Grüsse – VAL, Hamburg Abschnitt, der konkret Themen für mögliche Auseinandersetzungen um inhaltli-
che Perspektiven vorschlägt. An den erwähnten Ausblick schließt sich ein vom
(aus: INTERIM Nr. 109/1990) Autor gewertetes Literaturverzeichnis sowie eine gute Übersicht über die aktuel-
len Zeitschriften der westdeutschen Linken an.
Trotz der augenfällig Gewichtung, der historische Abriß umfaßt mehr als die
38 Hälfte des Buches, scheint uns der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit in gerin- 39
gerem Umfang auf der Frage zu liegen, wer oder was die Autonomen sind bzw. schreibt Geronimo, »war das stärkste Argument der Nichtverhandlerfraktion die
woher sie kommen, als vielmehr in der Problematisierung der Diskontinuitäten staatliche Repression« (S. 96) Ohne klar herauszustellen, ob mit dem »stärksten
autonomer Politik Argument« auf die politische Schwäche der Nicht-Verhandlerfraktion hingewie-
Obgleich nun insbesondere der geschichtliche Abriß durch seine Lesbarkeit sen werden soll, oder ob, was nahegelegt ist, das Beharren auf einem moralischen
möglichen Adressaten des Buches entgegen zu kommen scheint, ergibt sich aus Standpunkt durch die bewirkte Mobilisierung in eine politische Stärke umge-
dem Gemenge von allgemeiner Darstellung, illustrierenden Einzelheiten und wandelt werden konnte, bleibt die Passage vage. Obwohl die Sympathien des
kommentierender Bewertung eine Schwierigkeit, die mit dem in der INTERIM, Autors, auf Seiten der Nichtverhandler zu finden sind, diskreditiert er sie wider
einem wöchentlich in Westberlin erscheinenden autonomen Info, erfolgten Hin- Willen, indem er anstelle ihrer Vorstellungen allein ihr bloßes Beharren erwähnt.
weis auf ein stellenweise zu großes Maß an Vorausgesetztem nur unzureichend Möglicherweise ist ein Grund für den eher nachlässigen und stark ans eigene
beschrieben ist. Zwar wechseln weitgehende Verständlichkeit des Textes auch für Erleben angelehnten Stil paradoxerweise im mehrfach in der INTERIM (Nr. 102 &
Außenstehende und der Charakter eines eher internen Diskussionspapieres einan- 109) thematisierten Umstand zu suchen, daß der Autor die Autonomen weniger
der fortlaufend ab, doch liegt die eigentliche Crux in den notwendigen Verfäl- als politische Tendenz innerhalb der Linken behandelt, bzw. deren Verwurzelung
schungen, die eine derartige Vermischung zur Folge haben muß. Wer wenig in einer bestimmten Subkultur als für sie entscheidend begreift, sondern vielmehr
vom jeweiligen Geschehen weiß, ist darauf angewiesen, zu glauben oder dem – trotz seiner Vorbehalte gegen ausgewiesene Organisationsstrukturen – als par-
Verfasser ein grundsätzliches Mißtrauen entgegen zu bringen. Beides ist gleicher- teiähnliches Konglomerat. Denn obgleich Geronimo weder Punkmusik noch
maßen unbefriedigend. andere Merkmale einer verbindenden Kultur auch nur erwähnt, weist ihn gerade
Am Abschnitt, der die Westberliner Häuserkampfbewegung 1980/81 behan- der Stil als jener zugehörig aus. Selbst wenn die Autonomen jedoch nur aufgrund
delt, läßt sich beispielhaft verdeutlichen, wie leicht die vereinfachende Beschrei- der auch durch sie herausgebildeten Alltags- und Demonstrationskultur sowie der
bung zur undifferenzierten Kolportage wird. dazugehörigen Rituale als politische Kraft haben überleben können, so wäre an
Zwar war der Konflikt zwischen sogenannten Verhandlern und Nichtver- ein Buch über die Autonomen trotzdem ein weitergehender Anspruch zu stellen,
handlern kennzeichnend für die Dynamik der Hausbesetzerbewegung und, als nur ein Stück im patchwork der eigenen Kultur zu sein
neben anderem, ursächlich für deren Niederlage, aber schon die fehlende Erwäh- Während die Beschreibung des Gegenstandes eine eher distanzierte Betrach-
nung der ausgiebigen Versuche, beide Positionen, die von den jeweiligen Prota- tungsweise verlangen würde, versucht ihn seine Identifikation mit dem Objekt,
gonisten – auch – taktisch gemeint waren, einander anzunähern, ist mehr als eine seine augenscheinliche Zugehörigkeit zu den Akteuren, jeder Kritik, sobald sie
bloße Unterlassung. Denn die fehlende Fähigkeit sich zu einigen, verweist eben ihm zu harsch erscheint, im Nachsatz die Spitze zu brechen. Damit spricht er den
nicht auf die Unzulänglichkeit einer Fraktion sondern auf die Ohnmacht der Autonomen vorauseilend nicht nur jene Relevanz ab, die ihnen – neben anderen
gesamten Bewegung. – erst durch ihre Kritikfähigkeit zuteil werden könnte, er erschwert auch das Ver-
Zudem haben nicht nur die »alternativen und lebensreformerischen Strömun- stehen des von ihm dargestellten, da die dadurch verursachten Unklarheiten,
gen« verstärkt die Gelegenheit zu Verhandlungen ergriffen, als nach dem Tod nicht selten Widersprüche ein Merkmal weiter Teile des Textes sind. Das ist
von Klaus-Jürgen Rattay die Militanz der Bewegung an eine Grenze gestoßen ärgerlich insofern, als, zum einen, fruchtbare Ansätze nicht zuende gedacht wer-
war, sondern, sofern überhaupt die Möglichkeit für eine Legalisierung bestand, den, und andererseits die autonome Mär, nur explizit wohlwollende Kritik sei
zunehmend auch Häuser, deren Position radikaler war. Überdies war es zwar auch solidarisch, eine weitere Stärkung erfährt.
praktikabel, sich dem Vertragsabschluß zu verweigern und die eigene Räumung Obgleich sowohl das Postulat einer Politik der ersten Person als auch das
damit zu provozieren, hingegen hatte Wohlverhalten, auch wenn der Abschnitt angeführte Dogma bloß wohlwollender Kritik, das aufgrund der gesellschaftli-
des Buches dies implizit unterstellt, nicht notwendig eine Legalisierung der ver- chen Isolation nicht nur der autonomen Linken nachvollziehbar ist, ein derartiges
handelnden Häuser zur Folge. Vorgehen nahelegen, werden die Schwierigkeiten, die ein solches Verfahren zur
Unabhängig von derartigen Ungenauigkeiten ist das grundlegende Manko Folge hat, an den entscheidenden Kapiteln über Organisation und Perspektive
40 nicht allein dieses Abschnittes jedoch fragliche Vermischung. »Lange Zeit«, klar. 41
Gleich zu Beginn grenzt Geronimo seine Position vehement gegenüber Umstand der gegenseitigen Sympathie reichte nicht dazu, sich regelmäßig ohne
Strukturen im Sinne einer marxistisch-leninistischen Organisation ab. Jede Form konkrete politische Initiative zu treffen. (S. 190/1)
von Hierarchie, Stellvertreterpolitik, gar ein politischer Avantgardeanspruch wer- Die angeführten Zitate benennen zutreffend den Charakter der in kaum vor-
den abgelehnt. Beschlüsse und Proklamationen, so der Verfasser würden eine hersehbaren Konjunkturen verlaufenden autonomen Anstrengung, vor einer
breite Übereinstimmung nur vortäuschen, während Normierung und Rationali- weiteren Schlußfolgerung schreckt der Autor indes zurück. Zwar konzentrieren
sierung von Kommunikation ein Informationsgefälle zur Folge hätten, das die sich zentrale Passagen im anschließenden Perspektivkapitel ebenso wie im ab-
Organisationen erstarren ließe. schließenden Ausblick auf die weitgehende Isolation der autonomen Gruppen
Daß ein große Apparat, wie vom Autor behauptet, anfällig gegenüber staatli- und ihrer Politik, doch wird die als möglicher Ausweg aus dem eigenen ‹Ghetto‹
cher Repression ist, mag häufig der Fall sein , nur trifft dieser Vorwurf gegebe- angesprochene Klassenanalyse, die weniger traditionell technisch als vielmehr als
nenfalls ebenso auf autonome Strukturen zu. Daß Befreiung nicht per Dekret ein Versuch gemeint zu sein scheint, eventuell Anzusprechende und potentielle
verordnet werden kann, bedarf hingegen kaum einer Erwähnung, dient dem Bündnispartner für die hoffentlich gemeinsamen Anliegen zu finden, wenige Sei-
Autor aber offensichtlich dazu, einen Popanz aufzubauen, den er anschließend ten später entscheidend relativiert: »Ein revolutionärer Prozeß, der zuvor in Klas-
mit eleganter Rhetorik zu Fall bringen kann. Während den verschiedenen Orga- senanalysen gedacht werden könnte, hätte bereits aufgehört, revolutionär zu sei.«
nisationsresten der Linken pauschal unterstellt wird, der erheblicher Teil ihrer (S. 201)
Kräfte sei durch die Arbeit für den bloßen Erhalt ihrer jeweiligen Organisation Konfrontiert mit der an anderer Stelle gemachten Aussage, die subjektivisti-
gebunden, scheint das von den Autonomen betonte Primat der direkten Aktion schen Politikformen würden nicht selten mit einer gewissen Arroganz, Massen-
diese in ihrem Vorgehen ausreichend zu legitimieren. verachtung, dem Rückfall in egoistische Verhaltensweisen einher gehen, legt die
Gliederung und Aufbau des Organisationskapitels deuten daraufhin, daß des- Frage nahe, ob der Autor die häufig herausgestrichene subjektive Komponente
sen letzter Abschnitt – »Organisierung am Beispiel autonomer Anti-AKW-Grup- des politischen Kampfes nicht entgegen eigener Einsicht und nur aufgrund eines
pen in der IWF-Kampagne« – verstanden als besonderes Beispiel, den möglichen ungefähren Gefühls feiert, weil er ahnt, daß die Autonomen trotz ihres nicht son-
Ausweg aus dem zuvor skizzierten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis derlich effektiven Agierens durch ihr Handeln sowohl als auch allein durch ihre
darstellen soll. Das darin vorgestellte Organisationsmodell besagt offenbar, daß Existenz das Wissen um die Möglichkeit einer radikal anderen politischen Alter-
eine bestehende Gruppe sich der jeweils anstehenden Kampagne integrieren und native wachhalten.
mit Bezug auf die eigene Arbeit einen politischen Schwerpunkt setzen soll, in Trotzdem stellt sich die Frage, ob gerade vor dem Hintergrund völlig verän-
diesem Fall in Form eines Aktionstages in Siemensstadt – »Keine Energie für die derter politischer Verhältnisse die vom Autor mehrfach hervorgehobene Mög-
Kongreß« – während der IWF/ Weltbank-Tagung 1988 in Westberlin. lichkeit der Autonomen, sich in ihren Altersstrukturen reproduzieren und, wenn
Obwohl er die Mängel deutlich benennt – politischer Ausnahmezustand der nötig, aus jenen alltäglichen Zusammenhängen neue politische Impulse ent-
›Kader‹, persönlicher Bruch mit dem sonstigen Alltag, vorhersehbar keine Konti- wickeln können, ausreicht, um weiterhin als eigenständige Kraft zu bestehen.
nuität -, und obgleich sich die Aktion für nicht wenige, die daran teilgenommen Gerade weil alles, was mit einer traditionellen Vorstellung von Sozialismus in
haben, auch im Nachhinein als grotesk darstellt – von der Betriebsleitung geän- Verbindung gebracht werden kann, vorerst nachhaltig desavouiert ist, wäre es
derte Schichtzeiten, ein menschenleerer Bezirk plus Bullen, kaum Verkehr, wichtig gewesen, einem Ansatz, der mit orthodox linken Vorstellungen wenig
geschlossene Kaufhäuser – , bewertet der Autor den Aktionstag weitgehend als gemein hat, solidarisch zu begleiten, genau indem dessen Mängel möglichst kri-
Erfolg. Dennoch müssen als Resümee folgende Feststellungen herhalten: tisch herausgearbeitet werden. Das hat das Buch leider versäumt.
»Diese Umstande führten für die West-Berliner AKW-Gruppen zu dem para-
doxen Zustand, sich im Rahmen einer im Prinzip erfolgreichen Aktion auf Oktober 1990
einem bestimmten Bewegungsterrain in die perspektivische Sackgasse entwickelt
zu haben. (...) Ohne große inhaltliche Kontroversen verschlechterten sich nach
42 dem Herbst die Möglichkeiten für weitere Diskussionstermine drastisch. Der 43
Wolf Raul wagen sollte, dann nichts mehr erschüttern; es macht schlichtweg keinen Sinn,
einem Autor aufzuzeigen, daß er Unsinn geschrieben hat, wenn er dies auf den
Rezension ersten Seiten seines Traktats schon selber eingesteht.
Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 11/91 Im Gegensatz zu solchen in der Linken zur Genüge bekannten politischen
Kompendien, die – wie z.B. der berüchtigte »Kurze Lehrgang der KPdSU(B)«
oder die »Worte des Vorsitzenden Mao« – den ideologischen Gehalt sowie die
»Das Pseudonym Geronimo ... wurde als Erinnerung an einen rebellischen, sich von grü- Regeln und Normen einer jeweils spezifischen Bewegung in einer gewisser-
nen Uniformhosen angezogenen, Hund eines autonomen Genossen gewählt.« maßen kodifizierten Form zum Ausdruck bringen, läßt Geronimo gleich zu
Einmal abgesehen davon, daß man nur hoffen kann, daß der hier gemeinte Beginn durchblicken, daß er auf der Höhe der Zeit ist und den Sinn des postmo-
autonome Genosse seinen Hund nicht so behandelt hat, wie der Autor die deut- dernen patchworks voll erfaßt hat: »Es war für mich manchesmal ein geradezu
sche Sprache traktiert, bringt das offensichtlich neurotische Zwangsverhältnis, das großartiges Gefühl, mit langen schwarz-roten Erkenntnisstiefeln durch die eigene
der Hund Geronimo gegenüber grünen Uniformhosen entwickelt hatte, auch Geschichte zu stiefeln und nach allen Seiten Lob und Tadel zu verteilen.« Ver-
jenes Verhältnis zum Ausdruck, das der Autor Geronimo – unterwegs »in einem blüfft steht der Leser vor der Erkenntnis, daß dieses Kompendium abgeschriebe-
riesigen unübersichtlichen Steinbruch auf der Suche nach den Fragmenten der ner und zusammenphantasierter Fragmente zwar wenig mit seriöser Geschichts-
eigenen Geschichte« – zur Geschichte der bundesrepublikanischen Neuen Lin- schreibung zu tun hat, immerhin aber dem Autor zur Steigerung seiner ganz indi-
ken einnimmt. viduellen Lüste und Launen gereicht hat. Ein Handbuch wollte Geronimo wohl
Wenn ein Verein oder Fanclub in die Jahre gekommen ist, verfällt der vorlegen, ein Buch der Sprüche, aus dem nicht nur die alten Kämpfer und Kämp-
geschäftsführende Vorstand gemeinhin eines Tages auf die glorreiche Idee, daß es ferinnen, sondern auch die Nachgeborenen und Zuspätgekommenen ihre hand-
nun an der Zeit sei, einen mehr oder weniger ausgewiesenen Kenner der Ver- lichen Weisheiten schöpfen können und wohl auch werden, ein Handbuch für
eins- oder Clubgeschichte damit zu beauftragen, den Staub der Vergangenheit Nachwuchs- und Möchtegernautonome, das auf die rechten, wenn auch
aufzuwirbeln und zur allgemeinen Erbauung des staunenden Publikums eine das zurechtgestutzten Traditionen aufmerksam machen will, ein Organon für die
nunmehr historisch gewordene Vereinsgeschehen würdigende Festschrift vorzu- heranwachsende mittelständische Intelligenz, die – ehe die »Verwertungsmecha-
legen. Ganz so förmlich wird es bei der hier anzuzeigenden Geschichte der bun- nismen der spätkapitalistischen BRD«, die »schon manchen Linksradikalen kor-
desdeutschen Autonomen nicht zugegangen sein; einen geschäftsführenden Vor- rumpiert (haben)«, wieder einmal die doch so kämpferisch gesinnten Reihen
stand haben die Autonomen trotz aller Versuche einiger weniger autonomer lichten – eine ihre triste Lebensperspektive bereichernde linksradikale Phase ein-
Intellektueller bzw. intellektueller Autonomer, dem hiesigen autonomen legen möchte, um später das Gefühl nicht missen zu müssen, auch dabei gewesen
Geschehen einen weltgeistgesättigten Platz im weltweiten Klassenkampf herbei- zu sein, als man sich noch mit den Unterdrückten aller Herren Länder rauschhaft
zuinterpretieren, nie gehabt. Es handelt sich also um einen Individualtäter, der zu vereint wähnte.
allem Überfluß nicht umhin konnte, »die Willkür (s)einer eigenen Wahrneh- In vier Kapiteln hat der Autor – getreu dem von ihm selbst formulierten
mung zum Maßstab der Ausführungen zu machen«. Verwunderlich ist es also Motto: »Es ist natürlich kein Problem, Kontinuitäten als eine Kette von politi-
nicht, wenn der Autor den Leser gleich im Anschluß an diese Bemerkung darauf schen Erfolgen zu konstruieren« – sein leicht handhabbares Kompendium fürs
hinweist, daß »an allen Passagen des Textes ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen- hiesige autonome Standardbewußtsein aufgeteilt. Das erste Kapitel (»Zur
über meinen Formulierungskünsten angebracht (ist). Manchesmal täuschen sie Geschichte der Autonomen – Ein Abriß«), das nahezu zwei Drittel des gesamten
nur darüber hinweg, daß die Weisheiten lediglich von anderen abgeschrieben Textes umfaßt, entpuppt sich als ein geradezu schamloser Raubzug durch die
wurden. Vielleicht war ja alles ganz anders, als es sich der Autor zusammenge- Geschichte des antiautoritär orientierten Spektrums der bundesrepublikanischen
dacht, am Schreibtisch konstruiert und aufgeschrieben hat.« Angesichts solcher Neuen Linken seit 1968, wobei der obligatorische Ausflug in italienische Gefilde
Vorwarnungen, die nicht bloß Attitüde, sondern durchaus ernst zu nehmen sind, nicht vergessen wird, während über den seinerzeit mißlungenen Liebeshändel
44 kann den Leser, der tatsächlich einen Ausflug in die folgenden Ausführungen autonomer Intellektueller mit den iranischen Pfaffen verschämt hinweggesehen 45
wird. Unterteilt in zwölf Abschnitte werden eine ganze Reihe jener Ereignisse,
Organisationen und Publikationen angesprochen, die sich in der einen oder
anderen Weise als Bezugspunkte für die an gegenwärtigen Verhältnissen verzwei-
felnde autonome Identitätslust zu eignen scheinen. Abgesehen von den zahlrei-
chen Fehlern und Ungenauigkeiten, die gewissermaßen eine notwendige Bedin-
gung der von Geronimo konstruierten Kontinuitätslinien sind, bringt der Autor
ein nicht unwesentliches Dilemma der Autonomen zum Abschluß des histori-
schen Teils seiner Arbeit auf folgenden Begriff: »Die Ich-bezogenen subjektivisti-
schen Politikformen sind bei der Gratwanderung zwischen einem revolutionären
Anspruch und den nicht revolutionären Zeiten in der Praxis oft mit einem Rück-
fall in arrogante, massenverachtende und egoistische Verhaltensweisen verbun-
den.« Dieser durchaus zutreffende Hinweis auf den spezifisch identitätsstiftenden
Aspekt autonomer Politikformen, der wiederum deutlich werden läßt, daß die
Phase autonomen Engagements für die meisten Individuen nicht mehr als eine
Durchgangsphase, eine Phase der Persönlichkeitsfindung ist, leitet über zu jenen
Kapitels, die sich mit gegenwärtigen Problemen der Autonomen befassen (»Orga-
nisierung – aber mit Vorsicht«/«Her mit den Abenteuern«/«Ein Blick über alle
Teller- und Ghettoränder hinweg...«). Es wäre müßig, den in diesen Kapiteln Geronimo
mehr schlagwortartig als systematisch dargestellten Verwicklungen und Proble-
men des autonomen Alltags zu folgen; gleich ob Militanzrituale und Verschwö- Feuer und Flamme
rermentalitäten immerhin hinterfragt werden, ob der Niedergang des Patriarchats Ein unendlicher Fortsetzungsroman
pflichtgemäß beschworen wird – ein Unternehmen, das mit jenen merkwürdi-
gen, hier und da ihr Unwesen treibenden autonomen Männergruppen, in denen
ein zeitgemäß autonomes männerbündisches Verhalten zu lächerlichen Ritualen
gerinnt, sicherlich nicht gelingen wird – oder ob Lust und Unlust zu einer rigide-
ren Organisierung diskutiert werden: Am Ende bleibt einem wohl nichts anderes
übrig, als eine Anmerkung des Autors zu konterkarieren: »Wenn erst einmal alle
Menschen ›autonom‹ geworden sind, ist die Zeit gekommen, wo die Autonomen
von heute lieber verschwinden sollten«, heißt es irgendwo auf den letzten Seiten
von Geronimos Traktat. Zu fragen bliebe dann nur noch, ob nicht heute bereits
die Autonomen ein museale Dimensionen annehmendes Relikt der Geschichte
sind, das nicht einmal mehr, wie Geronimo befürchtet, »als entleerte Hülse von
der Werbe- und Konsumindustrie als subkulturelle, politisch harmlose Folklore-
gruppe in einem postmodernen Rechtsstaat gehandelt wird«. Tatsächlich sind die
Autonomen mit ihrem hochgradigen Autismus längst zur Karikatur ihrer selbst
geworden und zeigen sich somit immerhin dem geistigen Niveau des derzeitigen
Kanzlers aller Deutschen gewachsen – die »Werbe- und Konsumindustrie« aller-
46 dings hält sich dabei in Anerkennung dieses Tatbestandes lieber im Hintergrund.
Geronimo ...was ist aber mit den »klaren Positionen« und »neuen Ansätzen«?
Feuer und Flamme Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus wird deutlicher als je zuvor,
wie sehr man im Denken in der uns umgebenden Zeit befangen war. Es stellt sich
Ein unendlicher Fortsetzungsroman nun heraus, daß das, was man lange Jahre als vermeintlich »klare Positionen« for-
muliert hatte, sich nicht nur als anachronistisch sondern geradezu als schräg,
schief, und zum Teil falsch herausgestellt hat. Demgegenüber beansprucht der
nachfolgende Text nicht »klare Positionen« oder gar einen »neuen Ansatz« dar-
stellen zu wollen. Das sich Zurechtfinden in der gegenwärtigen Zeit setzt heute
»Das europäische Denken ist auf Lösungen fixiert und das ist die Krankheit, denn die eine große Anstrengung der Distanz zu sich selbst, den Gegenständen und den
Lösung bedeutet das Ende der Anwesenheit. Abgesehen davon, daß Lösungen immer lang- Verhältnissen voraus, die manchmal nur schwer auszuhalten sein werden. Es setzt
weilig sind.« auch die Bereitschaft voraus, auf die Scheinsicherheit von schal gewordenen »kla-
(Heiner Müller, Dramatiker)1 ren Positionen« zu verzichten. Das gilt besonders dann, wenn man den Anspruch
Viele Fragen... auf Radikalität erhebt und sich gerade nicht fundamentalistischen Reflexen
unterwerfen will. In den heutigen Verhältnissen, in denen vielen das Wasser bis
Der nachfolgende Text versteht sich als eine Art Fortschreibung von FEUER UND zum Hals steht, wird es zur Überlebensnotwendigkeit wieder das Schwimmen zu
FLAMME. Doch kann etwas »fortgeschrieben« werden, was möglicherweise lernen. In diesem Sinnne ist festzuhalten, daß der Versuch sich immer wieder neu
gemeinsam mit dem Ende der alten Bundesrepublik untergegangen ist? Der Takt gegen die Verhältnisse als rebellisches Subjekt zu konstituieren, anstatt sich
der politischen Auseinandersetzungen, Kampagnen und Themen hat sich seit irgendwann einmal, davon ohnmächtig geworden, überwältigen zu lassen, keine
dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 noch einmal beschleunigt. Wie ist Selbstverständlichkeit ist.
es aber gerade in »historisch« genannten Zeiten um den eigenen so normalen wie
banalen und irgendwie doch »autonom« gewünschten Alltag bestellt? Scheint Worum es geht ...
nicht gerade jetzt das eigene politische Handeln gegenüber den so bezeichneten Im ersten Teil wird versucht eine Chronologie von wichtigen politischen Ereig-
»historischen Umwälzungen« unangemessen als auch bedeutungslos zu sein? Was nissen aus den letzten zwei Jahren zu schreiben. Sie ist unter dem Blickwinkel
bleibt beispielsweise von den Anti-Golf-Kriegs-Aktivitäten Anfang des Jahres gewaltsam zusammengebogen worden, sich in diesen als »historisch« bezeichne-
1991 am Ende des gleichen Jahres noch im Gedächtnis der damals protestieren- ten Zeiten in einer alltäglich provisorischen Lebenspraxis lernend zurechtzufin-
den Menschen zurück? War da mehr als nur eine strohfeuerartige Empörung, die den. Im zweiten Teil zielt der Text in der beliebten Organisierungsdiskussion auf
in eine Straßen-Praxis stolperte, um hinterher in ein politisches Vakuum abzu- eine nachträgliche Selbstverständigung mit denjenigen ab, die sich an einer orga-
stürzen? War der Golf-Krieg nur ein mehrwöchiger Spuk von gestern, um den nisierten gesellschaftlichen Praxis orientieren, wie es sich auch in regionalen Info-
sich heute niemand mehr kümmert? Was ist der durchdringende und alles ver- Blättern und diversen Diskussionszirkeln ausdrückt. In dem Bemühen um einen
bindende Gedanke, der scheinbar so unterschiedliche Ereignisse wie den Golf- Blick für das Wirkliche und der Phantasie für das Mögliche, gehen diese Überle-
Krieg, den Zusammenbruch der DDR und die Pogrome von Hoyerswerda gungen in Bezug auf die Autonomen immer davon aus, daß das Glas Wasser nur
zusammenbringt, wie es im nachfolgenden Text eher additiv als systematisch halbvoll ist. Und das selbst dann, wenn sich darin wenig mehr als nur ein Trop-
geschieht? Genügt es einfach von der Tatsache auszugehen, daß es zur Zeit offen- fen befinden sollte. Die Geschichte wird erweisen ob sich dieser »Ansatz« als
sichtlich immer wieder dieselben Menschen sind, die sich für kurze Zeit an die- lächerlich oder gar falsch erweisen wird.
sen oder jenen Brennpunkten aktvieren lassen? Ist es das »Projekt Autonomie«
(VAL), das als die »Kontinuität der Wanderdüne« des gesellschaftlichen Konflikts ... ein paar Einschränkungen
zu begreifen ist, an dem sich von Zeit zu Zeit Autonome anlagern, von der Es ist selbstverständlich, daß der Text aufgrund der geringen zeitlichen Distanz zu
48 Severine Lansac sprach? den diskutierten Themen nur eine begrenzte Reichweite seiner in ihm enthalte- 49
nen Kritiken und Reflexionen einer schnellebig erscheinenden Zeit beanspru- überhaupt einen Sinn haben können, dann den, daß sie nur dazu dienen sollen, in
chen kann. der Zukunft durch eine bessere soziale und politische Lebenspraxis von autono-
Im Unterschied zu FEUER UND FLAMME besitzt dieser Text nicht das Privileg men Menschen überholt zu werden.
abgeschlossene Ereignisse historisch würdigen zu können, weil das, um was es
geht, zugleich immer auch umkämpft und umstritten ist. Trotz dieser Schwierig-
keiten bin ich davon überzeugt, das in allem, was von Autonomen an banalen
Dingen in den letzten Zeiträumen getan – und auch nicht getan – wurde, eine
über sie hinausweisende politische Dimension steckt. Sowohl die große als auch
die kleine Politik tangiert Probleme, denen auch Autonome, trotz aller formu-
lierten Ansprüche, unterworfen sind, die es wie ein Geheimnis für das was in
Zukunft noch zu tun ist, zu entdecken gilt. Vor einem Mißverständnis sei vorab
noch gewarnt: Wer in diesem Text schnelle Handreichungen für aktuelle Fra-
gestellungen sucht, wird enttäuscht werden. Was heute mit großer Aufregung
diskutiert wird, scheint morgen schon bedeutungslos und vergessen zu sein. War
da noch was?
Es scheint zunächst immer wieder so zu sein, als müßte ganz von vorne dis-
kutiert werden. Das geht jedoch nicht, da niemand aus seiner jeweiligen
Geschichte aussteigen kann. An der Verknüpfung der Alltagsgeschichte mit den
ganz großen Geschichten, wäre in dem was wir tun und denken, zu arbeiten, mit
allen Widersprüchen und Fragen die dabei notwendigerweise auftauchen. Der
nachfolgende Text versucht sich nicht immer dem Diktat der Aktualität zu beu-
gen und sollte deshalb auch gegen den Rhytmus der politischen Konjunkturen
gelesen werden. Aber vielleicht können sich ja gerade aus eigentümlichen Ana-
chronismen hin und wieder ein paar Einsichten eröffnen.
Rassistische Vorgeschichten
In den 80er Jahren gab es in der BRD mit zunehmender Intensität, zum Teil
gesteuert oder ausgenutzt durch Bundes- und Landesregierungen und reak-
tionären Pressekonzernen, fremden- und ausländerfeindliche Kampagnen gegen
96 ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge, mit zum Teil tödlichen Folgen für die 97
davon Betroffenen: 1983 wußte Kemal Altun keinen anderen Ausweg mehr, als aus dem Grundgesetz entfernt werden. Dabei besitzt die Debatte um die Entfer-
sich vor seiner drohenden Auslieferung durch die deutschen Behörden an die nung des Asylrechtsparagraphen aus der Verfassung eine Probelauffunktion, nach
türkische Militärjunta in den Tod zu stürzen; im gleichen Jahr verbrannten sechs dessen Erfolg an dem als schwächsten erscheinenden Punkt, noch ganz andere
Libanesen in einem West-Berliner Abschiebegefängnis; im Herbst 1985 wurde Verfassungsartikel aus dem Grundgesetz zur Disposition stehen. Insofern steht die
Ramazan Avci in Hamburg auf offener Straße von Skinheads erschlagen, im BRD-Debatte im Zusammenhang mit aktuell in einer Reihe von westeuropäi-
Frühjahr 1989 wurde Ufuk Sahin im Märkischen Viertel von einem Neonazi schen Staaten laufenden Verfassungsdiskussionen, die allesamt auf einen auto-
erstochen. ritären Verfassungsumbau abzielen.47
Kontinuierlich verlieren?
Der Versuch, die heutigen Autonomen in einer sogenannten »politischen Konti-
nuität seit 1968« zu begreifen, ist genaugenommen wenig mehr als eine beliebig
einsetzbare Hilfskrücke, da in der Regel jeder den Begriff »politisch« anders ver-
124 stehen kann. Aber auch wenn dieser Begriff der politischen Kontinuität vielleicht 125
für einen Moment so verstanden werden würde, wie es sich der Buchautor von blem Rechnung getragen wird, wie instabil eigentlich die Handlungsgrundlagen
Feuer & Flamme wünschte, was sagt er dann eigentlich aus? von autonomen Gruppen ist. Wie soll eigentlich Kontinuität anders denkbar sein
Wenn man sich dabei auf eine sogenannte »politische Kontinuität der Auto- als in eine wie auch immer geartete Form der »Institutionalisierung« einzumün-
nomen« seit 68 bezieht, dann kommt man eigentlich nicht um die Feststellung den, die jedoch wiederum aus guten Gründen abgelehnt wird?
herum, daß sie zumindest von ›objektiver Seite‹ durch mehr Niederlagen als Immerhin ist es mit Hilfe des Kontinuitätsanspruches möglich, die bei den
Erfolgen gekennzeichnet ist. Die SPRINGER-Schmierblätter werfen nach wie verbleibenden AktivistInnen notwendig empfundene Enttäuschung über das fak-
vor in schwindelerregenden Auflagenhöhen »Bomben in das Bewußtsein der tische ›Allein-gelassen-werden‹ zu rationalisieren: Das eigene politische Handeln
Massen«; die Vorstellungen, daß sich die jungen Staaten des Trikonts sowohl ist eben nicht umsonst oder vergeblich gewesen, wie hätte Mann und Frau Links-
national vom Imperialismus befreien, als sich auch von den stummen ökonomi- radikal sonst überhaupt weiter machen können ? Trotzdem bleibt die Frage, ob
schen Zwängen des kapitalistischen Weltmarktes lösen könnten, sind spätestens der Kontinuitätsanspruch – gerade wenn er für andere zur Eintrittskarte für poli-
nach der Niederlage der Sandinisten in Nicaragua und dem Zusammenbruch des tisches Engagement gemacht werden soll – nicht letztlich doch ein sowohl ver-
RGW ausgeträumt; der IWF diktiert mit seiner mörderischen Auflagenpolitik in messener als auch verdeckter Parteianspruch ist? Es ist besser über jeden froh zu
den aussichtslos verschuldeten Trikont-Staaten ungehinderter denn je die sein, der bereit ist sich zu bewegen, auch wenn zu vermuten ist, daß es vielleicht
Lebensbedingungen von Millionen Menschen. Die aktuelle Mietensituation in nur für kurze Zeit sein wird. Die linksradikale Geschichte in der BRD in den
Frankfurt am Main -der Hochburg der Häuserkämpfe in den 70er Jahren- drängt letzten 25 Jahren hat gezeigt, daß sich die Masse der darin tätigen Individuen in
nicht nur die ärmeren Bevölkerungsschichten aus der City, sondern zerschlägt der Regel ca. zwei bis drei Jahre politisch bewegt haben.72 Wer danach noch
auch alle hochfliegenden Träume von kollektiven Lebensformen in Wohnge- weitergemacht hat bzw. überhaupt weitermachen konnte, mußte notwendiger-
meinschaften; die Stationierung von US-amerikanischen Atomraketen als weise auch seinen Alltag danach aus- und einrichten, was auf eine bestimmte Art
Angriffswaffen gegen die Sowjetunion und den nordafrikanischen Raum ging im wiederum sehr voraussetzungsvoll ist. Und was ändert das Wissen um relativ
Herbst 1983 in der BRD und Westeuropa reibungslos vonstatten; von der Start- geringe Kontinuitäten bei anderen, an der Notwendigkeit sich selbst trotzdem,
bahn-West starten mittlerweile ungestört die Bomber der US-Air-Force zum gegen als unerträglich erkannte Verhältnisse zu bewegen? Daß was die Menschen
Krieg gegen die arabische Armutsbevölkerung; die zivile Seite des bundesdeut- tun und denken, tun sie zwar nicht vorausetzungslos, aber sie tun es nicht wegen
schen Atomprogramms ist -Tschernobyl zum Trotz- weitgehend fertiggestellt der Geschichte, sondern mit, aus der historischen Aktualität gewonnenen, guten
und die Atomanlagen werden – bis zum nächsten Gau – relativ ungestört betrie- Gründen. Und das Wichtige daran ist, daß ihnen das was sie tun, niemand
ben; usw. und so fort. Die vorhin proklamierte »politische Kontinuität« bekommt abnehmen kann. Und diejenigen, die immer noch oder trotzdem länger dabei
da schnell einen schalen Unterton von den ewigen Verlierern... geblieben sind, sollten sich in dem was sie sich zu sagen haben nicht gegenseitig
mit dem gruseligen Begriff der Kontinuität quälen, sondern öfter mal wieder
Unbefangen Neuanfangen! einen radikalen Neuanfang wagen.
Auch angesichts dieses Hintergrunds wäre darüber nachzudenken, ob es nicht
vielleicht besser wäre, den undeutlichen Begriff der Kontinuität ganz aus dem
Vokabular zu streichen. Die diesbezüglichen Diskussionen scheinen damit mehr
in Form einer abstrakt bleibenden Moralität behindert, als befördert zu werden.
Unwillkürlich verfängt man sich dabei immer wieder in Versatzstücken einer
›Partei-Organisations-Kontinuitäts-Ideologie‹, die auf der Ebene der Sozialität
der MitgliederInnenbasis schon immer ein Mythos gewesen ist. Das Aufstellen
eines Kontinuitätsanspruchs muß vielleicht auch als Reaktion auf die ewig unver-
bindlich bleibenden Verbindlichkeitsdiskussionen interpretiert werden. Dabei
126 mutet es wundersam an, wie wenig bei der »Unverbindlichkeitsklage« dem Pro- 127
4. Vom autonomen Denken zur Autonomen rungsschwierigkeiten abfinden mag, sondern auch gleich noch einen Lösungsvor-
schlag in die Diskussion wirft: Nach ihren Vorstellungen soll wenigstens diesmal
Partei? die »legale Organisation« aber wirklich »verbindlich« sein und als eine Art Servi-
ceunternehmen eine Unzahl von »Funktionen«, angefangen von »politischen
Konzerten, Demos, Agit-Prop-Aktionen usw.«, bis hin zu »politischer Bildungs-
arbeit, Seminare und Veranstaltungen«, erfüllen. Und umsonst gibt’s für die ein-
fache »Mitgliedschaft« ein »Statut« mit »wesentlichen Inhalten« dazu, damit diese
nicht nur eine »klare Entscheidung für die Organisation«, sondern auch noch
Das einzig interessante an den Autonomen ist doch, daß sie versuchen gerade nicht so zu
»eine klare Zuordnung zu deren Inhalten« treffen kann. Ob die autonomen Göt-
funktionieren, wie der Rest der Gesellschaft.
tinger Antifa-GenossInnen in ihren Bemühungen davon ausgehen, daß es nicht
(Ein Kritiker)
genug linke Parteien im Warenangebot der reichen bürgerlichen BRD-Gesell-
Daß Autonome in der BRD in dem Sinne parteiisch denken, als daß sie sich schaft gibt, weshalb das Sortiment um eine Autonomen Partei bereichert werden
selber gegenüber den schwer erträglichen Verhältnissen als »nicht neutral, nicht soll?
objektiv« verstehen, sondern natürlich außerordentlich »voreingenommen« Wechseln wir die ideologische Ebene der Diskussion und versuchen uns der
danach trachten, sich davon zu befreien, scheint außer Frage zu stehen.73 Da die- Frage zu stellen wie der auf dem Parkett der politischen Meinungsbörse vertrete-
ses ehrenwerte Unterfangen unmöglich alleine zu bewerkstelligen ist, liegt es ne Selbstorganisierungs-Anspruch tatsächlich von den so leichtfertig der Organi-
nahe, sich nach Gleichgesinnten umzusehen, womit sich wieder einmal die sierungsschwäche bezichtigten Autonomen gelebt wird. Und wo die einen der
Organisierungsfrage stellt. Und daß für viele heute noch politisch tätige Autono- Meinung sind, daß es daß Problem der Autonomen sei keine Partei zu sein, wird
me biographisch in den 80er Jahren durchlebte Bewegungsformen kaum für ein von anderen mit einem viel genaueren Blick die Existenz bereits existierender
längeres politisches Engagement hinreichend erscheinen, scheint dabei verbal parteiähnlicher Strukturen zum Gegenstand der radikalen Kritik gemacht; ein
genauso außer Frage zu stehen, wie es selbstverständlich ist, eine Organisierung überaus notwendiges Unterfangen bevor überhaupt die ›Organisationsfrage‹
im Sinne einer festen förmlich strukturierten Organisation abzulehnen. Niemand gestellt werden kann. Folgen wir deshalb in diesem Zusammenhang einer guten
kann den Autonomen per Unterschrift auf einem computerlesbaren Beitrittsfor- Beschreibung der Frankfurter Gruppe Xanthippa, die mit einem sehr angeneh-
mular mit monatlichem Kontoeinzug und regelmäßiger Zusendung des Mitglie- men Verzicht auf eine oberflächliche Denunzierung auf die zu erklärende Not
derrundbriefes beitreten, im Gegenteil: Während öffentlicher Autonomen-Mani- und problematischen Konsequenzen dieser Strukturen verweist:
festationen wird umso energischer die Notwendigkeit der parteifernen »Selbstor- »Nur vor dem Hintergrund der Niederlagen und der anderen Kämpfe in den
ganisierung im Alltag« vertreten. Nur manchmal, wenn mit Hilfe der elendigen 80er Jahren läßt sich die nachfolgende Kritik an autonomer Organisierung verste-
›Kontinuitäts- und Verbindlichkeitsdebatten‹ wieder einmal Klage darüber hen. In den letzten 5-10 Jahren hat sich eine Form autonomer Organisierung
geführt wird, wie schlecht man doch organisiert sei, beschleicht einen die Frage, durchgesetzt, die dem Anti-Parteien-Partei-Modell der Urgrünen ähnelt. Eine
ob die sich aus diesen Klagen notwendigerweise ergebenden Konsequenzen von einigermaßen funktionierende Rotation, imperatives Mandat, Kontrolle durch
den klugen Kritikern mitbedacht worden sind. Ob sie wohl meinen, daß alles Basis. Diese »nicht institutionalisierte«, sich immer neu schaffende Partei, die eine
dann besser funktionieren würde, wenn es nur richtig von allen gewollt wird? Ob möglichst hierachielose Arbeitsteilung versucht – pragmatisch-praktisch: Sanität,
man vielleicht im gesamten Bundesgebiet 150 bis 200 Hauptamtliche dafür Infoläden, Zentren, Volksküchen; oder pragmatisch-politisch: Anti-AKW,
bezahlen sollte auf bundesweiten Treffen ›autonome Politik‹ nicht nur zu Knast, AntiFa usw. – ist eben die Folge des Zerfalls und des Scheiterns der Kämp-
beschließen, sondern auch danach gegenüber der vermutlich immer etwas schlaf- fe auf den sozialen Terrains und gleichzeitig der Versuch den Erfahrungszusam-
mützigen Basis durchzusetzen? menhang zwischen den Kämpfen nicht abreißen zu lassen. Die These von einer
Zwischenzeitlich existiert ein Papier der »Autonomen Antifa (M)« aus Göt- Autonomen-Partei und dementsprechenden Kadern geht aber nicht vom präch-
128 tingen, welches sich nicht mehr nur mit den normalen autonomen Organisie- tigen Funktionieren dieser Organisierung aus, sondern von dessen Krise: »da 129
Erfolge ausbleiben, häufen sich Kündigungen. Arbeitsverweigerung, Urlaubsan- ren nicht stehen bleiben, sondern diesen Raum so lange benutzen sollen, bis sie
träge und Blaumachen oder es wird pragmatisch Kurzarbeit gemacht (d.h. der für sich etwas besseres gefunden haben. Und da dieser Zusammenhang keine Par-
Schein gewahrt). Die Katze beißt sich in den Schwanz und die autonomen tei ist, ist dabei noch nicht einmal beim Verlassen eine Austrittserklärung zu
ArbeiterInnen im selbstverwalteten Betrieb Autonomia Doria GmbH beschleicht unterschreiben.
das Gefühl, daß da von Anfang an der Wurm drin war. Keinem noch so verbisse- Auch wenn es kompliziert ist, kann die Perspektive einer klassenlosen Gesell-
nen Vorarbeiter oder resoluter Abteilungsleiterin gelingt es dann, Arbeitsmoral schaft für Autonome nicht in der auch soziologisch zu erfassenden Organisations-
und Lust aufrecht zu erhalten; beim Betrieb bleibt mensch aus Gewohnheit oder form der Partei liegen, sondern nur in der permanent betriebenen Abschaffung
weil es immer noch netter als überall anders ist. (...)(Der gegenwärtige Zustand ihrer Notwendigkeit. Alles andere wird nur auf das gerade in Doitschland zwar
der autonomen Scene stellt sich noch dem Anspruch) ein Versuch sozialer normale, jedoch auch erbärmliche Schauspiel eines ›Du-gehörst-dazu-und-du-
Lebensformen, selbstverändernder Praxis und politischer Organisierung (zu sein), nicht‹-Vereins-Rituals zurückfallen.
der es (noch?) nicht zuläßt, daß eine/r nur Politik macht, nur FunktionärIn ist.
Dieses Selbstverständnis ist Klammer der auseinanderstrebenden Richtungen
innerhalb der Autonomen: die Organisierung in verbindlichen, institutionalisier-
ten Strukturen auf der einen, die Individualisierung in Basisprojekten, Studium,
Arbeit auf der anderen Seite. Die von vielen aus dieser verzweifelten Situation
der Autonomen gestellte Organisierungsfrage würde die noch bestehende Klam-
mer zerbrechen und die Autonomen zur institutionalisierten Partei degradieren,
die ein »außen« nur als Agitations-, Propaganda-, Rekrutierungs-, und Mobilisie-
rungsobjekt wahrnimmt. Sie würde die übriggebliebenen KaderInnen organisie-
ren, die immer in Gefahr ständen, wegen entfremdeter Politik in traditionellen
Formen nur sich selbst zu mobilisieren. Sie würde gleichzeitig den staatfindenden
Rückzug von AktivistInnen beschleunigen, weil für sie die Autonomen eben
»mehr waren als Politik«.74
Das was sich uns heute unter dem Begriff ›autonome Scene‹ präsentiert, ist
zwar nicht im Sinne einer Partei zu begreifen, weil das nur dazu führen würde,
etwas mit einem Maßstab zu erschlagen, das sich vom Anspruch bewußt gegen
formale Organisationsstrukturen sperrt – und es trotzdem auch ist. Nur ist dieser
unter den derzeitigen herrschende gesellschaftlichen Bedingungen existierende
und im Alltag oftmals für Mobilisierte und AktivistInnen zu erleidende Wider-
spruch kein Grund dafür, aus der Organisierungs-Not eine Partei-(Un-)Tugend
zu machen. Was wäre dadurch verloren, den auch über ein Konglomerat poli-
tisch arbeitender Gruppen zusammengehaltenen relativen Freiraum der autono-
men Scene, als eine Art Provisorium oder Durchgangsstation zu größeren politi-
schen Tagesaufgaben zu begreifen? An diejenigen, die die auf den ersten Blick
erscheinende Flüchtigkeit dieser faktisch zum Teil parteiähnlich, jedoch vom
Anspruch her bewegungsartig angelegten Strukturen mit »Schwäche« verwech-
seln, wäre der Anspruch zu stellen, daß sie in ihrer (zumeist) mit vielen langwei-
130 lig-richtigen Argumenten vorgebrachten Kritik an den Grenzen dieser Struktu- 131
5. Über den Absturz der phantastischen Es ist kein Geheimnis, daß sich auch in autonomen Zusammenhängen
manchmal die in dieser Gesellschaft herrschende Destruktion, in Form von Intel-
Kritik zum ungreifbaren Phantom des lektuellenhaß, Manipulationskünsten, Faustrecht, Frauenverachtung, Intoleranz
Zynismus usw. zeigen. Daß diese Erscheinungen der radikalen Kritik unterliegen müssen,
ist eine Selbstverständlichkeit, die jedoch bequem werden kann, wenn sie mit der
Illusion verbunden ist zu meinen, sich damit aus diesen Verhältnissen davonsteh-
len zu können. Besonders gruselig wird es dann, wenn viele Kritiker einerseits an
der autonomen Praxis »Probleme« beschreiben, die sie selber nicht zu haben
scheinen, die aber anderseits in der politischen Praxis stets von Neuem auftreten.
»Allemal ist uns die subjektiv aufrichtige Parteinahme für einen hoffnungslos zum Scheitern Ein Beispiel: Die Autonomen Studis (Bolschewiki) aus Freiburg haben im Som-
verurteilten Emanzipationsversuch symphatischer als der gleichgültige Zynismus und die mer 1989 ein längeres Kritikpapier unter dem verheißungsvollen Titel: »Mit den
kalte Indifferenz, mit der Mensch sich in allen Verhältnissen einrichten kann.« überlieferten Vorstellungen radikal brechen« vorgelegt. Sie meinen sich mit ihren
(Ex-Anti-Nato-Gruppe aus Freiburg) Analysen auf »die bekannte Erscheinung des bzw. der Durchschnittsautonomen«
FEUER UND FLAMME wurde vorgeworfen eine zwar »ganz gelungene, jedoch stützen zu können. Dabei sind sie zwar großzügigerweise bereit einzuräumen,
letztlich opportunistisch bleibende Selbstbespiegelung« der Autonomen zu sein. daß es sich dabei um eine »Überspitzung« handeln könnte; dies ändere jedoch
Das sei zwar »gut und nett« gemeint, allein nur das Medium der Kritik könne nichts daran, daß sich darin »eine Wahrheit aus(-drücke), die nicht durch endlo-
eine Perspektive weisen. Unterstellt man, daß diese Kritik richtig ist, so löst sie ses Anekdotenerzählen zugekleistert werden kann.« In dem Kapitel, daß das Ver-
jedoch nicht das Problem, mit welcher Haltung notwendige Kritiken formuliert hältnis der Autonomen zu dem Staat charakterisieren soll, wird diesen vor allem
werden können. Die offene Frage besteht darin, ob eine radikale Kritik an den eine mangelnde Differenzierung vorgeworfen, die in die Feststellung mündet,
Autonomen immer den gleichzeitigen Abschied von ihnen zur Voraussetzung daß für die Autonomen der »Staat oder das System zum Feindbild« schlechthin
haben muß. Oder ist es nicht vielleicht doch möglich, quasi von »innen«, scharf werde. Da sich jedoch in den »rar gewordenen sozialen Auseinandersetzungen
und radikal an ihnen Kritik zu üben? Eine Kritik, der sich auch der Kritisierende kein so eindeutiges Feindbild abzeichnen (wolle), (werde) der mieseste, kleinste
selbst unterwirft und die gerade nicht den sozialen Zusammenhang kappt, aus Scherge jeder bürgerlichen Herrschaftsform für alles verantwortlich gemacht: der
dem sie formuliert werden konnte. Bulle« (S.8) Zwar klingt diese These ganz originell, vielleicht sogar auch ein
Eine Reihe einiger, von »außen« formulierten, Kritiken gelingt es auf den wenig tabubrecherisch, wenn man sie jedoch zu durchdenken versucht, besteht
ersten Blick scheinbar mühelos, alle Tellerränder zu überwinden und fulminante sie aus nichts als heißer Luft. Abgesehen davon, daß es in einer linksradikalen
Beschreibungen an den Unzulänglichkeiten autonomer Politik zu leisten. Daraus politischen Praxis notwendig bleibt, militaristische Fixierungen in dem eigenen
wäre manchesmal für eine weitere Praxis nur zu lernen. Doch bei vielen dieser Handeln und Denken kritisierend zu überwinden, bleibt an dieser These völlig
von »außen« formulierten Kritiken stellt sich allerdings die Frage, auf welchen unklar, wen die Freiburger damit eigentlich meinen, wenn sie von den »Autono-
perspektivischen Fluchtpunkt eine andere gewünschte Praxis orientiert. Was stre- men« sprechen. Offensichtlich scheinen sie sich selber nicht zu meinen – was
ben die klugen Kritiker im Gegensatz zu den heftig kritisierten bornierten Tätig- nebenbei bemerkt, ein einfaches Gegenbeispiel für die von ihnen aufgestellte
keiten der Autonomen an? Und darüber hinaus wäre an sie die Frage zu richten, These wäre. Für mich und mein unmittelbares Umfeld -um nur ein weiteres
ob sie sich diese andere Praxis im Medium ihrer Kritik noch als gemeinsame vor- begrenztes Beispiel zu nennen-, ist diese These sogar blödsinnig. Es entsteht an
stellen können? der Kritik der Freiburger eher der Eindruck, als würden sie sich »Karikaturauto-
Die Kritik an dem Erscheinungsbild und der politischen Praxis der Autono- nome« ausdenken, die sie dann nach Herzenslust mit fulminanten Kritiken vor-
men zählt Bände. Ihren Gehalt einzig und allein danach beurteilen zu wollen, ob führen und erledigen können. Das Aufbauen von sogenannten ›Pappkameraden‹,
die Kritiker in die eigene politische Richtung passen, wäre nicht nur bequem die dann argumentativ abgeschossen werden können, ist die gängige Form akade-
132 sondern auch schlicht dumm. mischer Diskurse. Denklogisch sind damit die Freiburger Genossen mit diesem 133
Verfahren immer auf der richtigen Seite eines bürgerlichen Denkens, das natür- 6. Zwischen Distanz und Distanzierungen:
lich keine Notwendigkeit besitzt, sich auf die Probleme einer selbsttätigen wider-
sprüchlichen politischen Praxis, z.B. im Rahmen einer Demonstration mit einem RAF
Bullenspalier einzulassen. Und da die Freiburger Studis sich nicht selbst in ihre
gekonnte Denklogik einbeziehen, ihre eigentlich nicht falsche Kritik (z.B. an
militaristischen Verhaltensweisen von Autonomen) wird damit so langweilig
richtig, wie zugleich bedeutungslos. Summa summarum: Es gibt weder »Durch-
schnittsautonome« noch »eine Wahrheit« über sie, die verallgemeinert werden
könnte. Der Versuch der Radikalisierung von »eine Wahrheit«-Beschreibungen
zu »die einzige Wahrheit« – Standpunkten muß daher auch scheitern. Nicht von ungefähr unterliegen die nachfolgenden Äußerungen zum Thema
Darüber hinaus wäre an die Freiburger Studis die Frage zu stellen, ob es das RAF, Guerilla und bewaffneter Kampf, dem Vorbehalt und dem Druck der staat-
Anliegen ihrer Kritik ist, die Autonomen – oder das, was sie dafür halten - verän- lichen Repression. In einem im Frühjahr 1991 erschienenen Papier aus Hamburg
dern zu wollen, oder ob es ihnen nicht eher darum geht, sich von diesen – in unter dem Titel »Auf ins Offene!« heißt es in Bezug auf eine Auseinandersetzung
natürlich sehr reflektierter Art und Weise – zu verabschieden. Das sollte vorher um die Strategie der RAF, daß diese Diskussion nicht nur »längst überfällig« sei,
klar gestellt werden, um Mißverständnisse zu vermeiden. Diese unterschiedlichen sondern »wie jede Diskussion um politische Strategie – so öffentlich wie möglich
Ausgangspositionen markieren zwei völlig verschiedene Umgehensweisen mit geführt werden« müsse. Allerdings schien es den VerfasserInnen dieses Papieres
einer Kritik: Während die eine Form zu Recht an die Adresse des Kritisierten trotz ihres Wunsches nach »Öffentlichkeit« am Schluß ratsamer zu sein, es mit
einen Anspruch auf Auseinandersetzung geltend machen kann, wäre die zweite dem Pseudonym »Hanna Cash« zu unterzeichnen.75 Sie werden gute Gründe
Form allenfalls bei viel Zeit und Muße als zwar bedeutungsloser, vielleicht jedoch dafür gehabt haben, anonym bleiben zu wollen, was allerdings nichts an dem Pro-
amüsanter intellektueller Spaß zu konsumieren. Und so ist denn auch die gesam- blem ändert, daß sich in Richtung einer unbekannten Adresse nur schwer irgend-
te Broschüre der Freiburger Genossen von einem gegenüber den kritisierten eine Form von »Öffentlichkeit« herstellen läßt. Ein Teufelskreislauf?
Autonomen, äußerlich bleibenden Standpunkt durchzogen. Es ist zu vermuten, Eine öffentliche Reflexion über bewaffnete Politik und Guerilla kann unter
daß diese Form der Darstellung auch auf ein hohes Maß an erlittener Frustration den im wahrsten Sinne herrschenden Bedingungen in der Öffentlichkeit im Prin-
in den dortigen autonomen Zusammenhängen hinweist. Insofern ließe sich auch zip eigentlich immer nur die mit schlauen Argumenten begründete Absage daran
vermuten, daß der in ihrer Kritik an den Autonomen festzustellende Unterton zum Ergebnis haben. Und so haben es denn beispielsweise die, mit ausgewählten
des Zynismus, nur die nach außen gewendete Verzweiflung dafür ist, vorher mit Informationshäppchen aus dem Geheimdienstbereich gefütterten, und an der lan-
ihren Vorstellungen innerhalb dieses Zusammenhanges kein Gehör mehr gefun- gen Leine des (zwischenzeitlich toten) Herrn Lochte geführten, ›Terrorismusex-
den zu haben. Es ist schade, daß die Freiburger Studis mit ihrem -auf einer perten‹ einer Tageszeitung namens »Tageszeitung« leicht, in immer neuen Vari-
bestimmten Art und Weise durchaus lesenswerten- Text den Bereich ihrer inve- anten, ihre klugen Absagen an jede Form eines bewaffneten Kampfes zu verkün-
stierten Hoffnungen, persönlichen Erfahrungen und auch Enttäuschungen, die sie den. Merkwürdig an diesen mit Eifer in der TAZ produzierten ellenlangen Trak-
innerhalb der dortigen autonomen Scene haben machen können/müssen, nicht taten bleibt dabei nur, daß es doch niemanden gibt, der sozialdemokratischen
zur Sprache gebracht haben; es wäre dann mehr von ihnen zu lernen gewesen. Journalisten jemals unterstellt hätte, sie würden auch nur eine Zwille zu bedienen
Stattdessen haben sich die Freiburger Studis, indem sie gerade ÜBER die Auto- wissen.
nomen sprechen und schreiben wollten, sich selbst verraten. Man stelle sich demgegenüber zum Beispiel nur einmal vor, der mit ein paar
relativ einfachen kriminalistischen Bemühungen namentlich zu ermittelnde Ver-
fasser dieser Zeilen, würde nicht nur einer ›klammheimlichen‹ sondern sogar
einer großen Freude über den gezielten und erfolgreichen Bombenanschlag der
134 RAF auf den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, Ausdruck verleihen. 135
Die gelungene Durchführung einer Aktion gegen eine der am besten geschützten offenen Aufruhr, das demonstrative Aufkündigen von öffentlichen Herrschafts-
Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in der BRD manifestierte immerhin den verhältnissen, was in einem bestimmten historischen Moment gleichzeitig von
offenkundigen Bankrott aller vermeintlich allmächtigen staatlichen Präventiv-, vielen vollzogen werden muß, um als politisches Zeichen wirksam zu sein. Die
Überwachungs-, und Schutzmaßnahmen. Zudem galt der Angriff auf Alfred Spannung über eine sich durch die spontane Teilnahme von vorher Unbekann-
Herrhausen einer Person, die als Personifikation ökonomischer Verhältnisse eini- ten verändernden sozialen Zusammensetzung, und die dadurch bewirkte Unge-
ge ›Mißstände‹ verkörperte, gegen die man auch als autonomer Linker schon wißheit über die politische Dimension einer Randale, steht die Situation eines
lange unter zum Teil großen Opfern vergeblich angerannt ist. Derartige krimi- Bürgerkriegs gegenüber, die durch die Wahl militärischer Mittel notwendiger-
nalpolizeilich zuordenbare Äußerungen könnten den Staatschutz auch aufgrund weise den kalt und nüchtern kalkulierenden Soldaten als Spezialisten und Tech-
seiner notorischen Erfolglosigkeit in den letzten Jahren, dazu veranlaßen, den niker des Kampfes erfordert.
Verfasser dieser Zeilen zu einem großen »Freund« und »Unterstützer« der RAF, Militärische Formen der Konfliktaustragung markieren durch die Errichtung
mit den bekannten strafrechtlichen Konsequenzen, zu ernennen. Die Vorstel- mehr oder weniger sichtbarer ›Fronten‹ immer auch das Ende der bislang im poli-
lung, einem Sonderstrafrecht und Sonderhaftbedingungen unterliegend, sich tischen Kampf benutzten Mittel der Agitation und Aufklärung. Das Benutzen
mühselig gegenüber einer distanzierten Öffentlichkeit gegen die Stigmatisierung dieser Mittel hat den Raum einer öffentlich zugänglichen Politik zur Vorausset-
als »Freund« der RAF vor einem Staatsschutzgericht – quer zur eigenen politi- zung. Zwischen den Fronten auf offenen Terrain läßt sich deshalb so schlecht
schen Geschichte, und das auch noch nach Möglichkeit ohne Distanzierung von demonstrieren, weil man dabei – wie es ja der Begriff ›Front‹ ausdrückt, realisti-
den bewaffnet kämpfenden GenossInnen – abstrampeln zu müssen, erscheint scherweise Gefahr läuft, das eigene Leben zu verlieren. Wenn beispielsweise
nicht sonderlich attraktiv zu sein. Ist es da nicht in der Tat an dieser Stelle klüger, davon auszugehen wäre, daß der oftmals auf Demonstrationen skandierte Ruf
sich in diesem Fall irgendeiner von der herrschenden Klasse artikulierten Auffas- »Polizei-SA-SS« anfängt in dem Sinne mit der Realität übereinzustimmen, indem
sung anzuschließen? Eine besagte beispielsweise, daß mit Alfred Herrhausen ein sich die Bullen auf den Demos darum bemühen, eine möglichst große Anzahl
Mensch wie du und ich, quasi einem Sozialhilfeempfänger gleich, auf besonders von Demonstranten gezielt totzuschießen, würden viele potentielle Demonstrati-
tragische Weise sterben mußte, der sich bekanntlich in seiner Rolle als Chef der onsteilnehmerInnen entweder zu Hause bleiben oder müßten sich sehr genau
Deutschen Bank in besonderer Weise den Sorgen der kleinen Leute, dem Schutz überlegen, wie sie sich gleichfalls bewaffnen und schützen können. Denn nie-
der Umwelt und den Nöten der Dritten Welt verpflichtet gefühlt hat.76 »So war mand kann längere Zeit an einer ›Front‹ überleben, wenn er dort ahnungslos und
es wohl« denke ich mir da, in realistischer Anerkenntnis meiner prekären Situati- ungeschützt als Zielscheibe herumläuft.
on in diesem Kapitel, wenn ich diese Zeile für die neugierigen LeserInnen Die Entscheidung, keine militärischen Waffen im politischen Kampf zu
schreibe. benutzen, läßt sich darauf zurückzuführen, daß die gesellschaftliche Situation
nicht so eingeschätzt wird, das es unabdingbar notwendig erscheint, diese Mittel
Über den Unterschied zwischen Militanz und militärischer Politik anzuwenden. Vielleicht hat diese Einschätzung – mit der man sich bezogen auf
Daß es nicht einfach ist, über das »Verhältnis zur RAF« zu sprechen, hat auch mit die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse natürlich irren kann, – auch etwas
unterschiedlichen Formen des Kampfes zu tun. Das Verwenden von Bomben mit einer Angst zu tun, mit Mitteln auf einem Terrain zu kämpfen, wo davon
und Schußwaffen ist kennzeichnend für Formen militärischer Auseinanderset- auszugehen ist, daß der Gegner in seiner Macht und d.h. immer auch in seiner
zungen. Demgegenüber werden das Werfen von Steinen, Errichten von Barrika- Bewaffnung ungleich stärker ist.
den, das Verprügeln von Bullen -was sich ja in der autonomen Realität derzeit
eher umgekehrt darstellt- und das Anzünden von Gegenständen, gemeinhin als Über aktuelle Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Zukunft
militante Form des Kampfes charakterisiert. Eine Ausstrahlung erhalten diese vor Die Existenz einer Guerilla oder sich explizit politisch verstehender, bewaffnet
allem dann, wenn sie öffentlich bei Massenzusammenkünften praktiziert werden. kämpfender Gruppen in einer Gesellschaft, ist ein außergewöhnlicher Umstand,
Sie markieren über die Kundgabe der eigenen Meinung, z.B. durch die Teilnah- der vielleicht analog zu den sozialrevolutionären Terroristen-Organisationen im
136 me an polizeilich erlaubten Demonstrationen hinaus, für einen Moment den zaristischen Rußland des vergangenen Jahrhunderts große Erschütterungen in 137
den Tiefen des gesellschaftlichen Gefüges andeutet. Möglicherweise wird man in bei der RAF handele es sich lediglich um eine individualisierte Ansammlung
ein paar Jahrzehnten, das was heute aus Gründen der aktuellen Herrschaftslegiti- gewissensloser unpolitischer Krimineller. Auf die Zerstörung des politischen
mierung als ein vorübergehender und politisch unbedeutsamer Spuk denunziert Anspruchs der RAF zielt auch die Anwendung der »Kronzeugenregelung« ab,
werden muß, in einer ganz anderen Dimension zu bewerten haben. Nicht nur deren Gebrauch aber nur möglich ist, wenn den Staatschutzbehörden bei einzel-
aus diesem Grunde enthält die Diskussion über die Frage des bewaffneten Kamp- nen GruppenmitgliederInnen ein massiver Einbruch gelingt.77 Die Frage, ob
fes auch für diejenigen, die diese Form politischen Handelns für sich ablehnen, dieses perfide, jedoch für den Staat unter legitimatorischen Gesichtspunkten
eine solche Brisanz. Gleiches gilt auch auf eine andere, ungleich dramatischere außerordentlich wichtige Unterfangen gelingen kann, hängt unter anderem
Weise für diejenigen GenossInnen, die sich heutzutage dazu entschließen, zu den davon ab, ob sich die im Rahmen eines in der Illegalität bewegenden Gruppen-
bewaffneten Kommandos zu gehen. Sie müssen diesen Schritt in dem Bewußt- zusammenhangs gelebten Erfahrungen, auch im Falle der Festnahme für ein ein-
sein bestimmen, daß im Falle ihrer Identifikation oder Festnahme, ein Leben in zelnes Gruppenmitglied im nachhinhein noch als so anziehend erweisen, daß
der Metropole anders als im Knast oder unabsehbarer Illegalität irgendwo auf der jedem Gedanken an Verrat der nächsten GenossInnen die Grundlage genommen
Welt, nicht mehr denkbar erscheint. Darüber hinaus stellt die RAF, insbesonde- ist.
re in ihrer Praxis der letzten Jahre immerhin auch unter Beweis, daß Grenzen der Im Falle der im Frühjahr 1990 erfolgten Verhaftungen von acht ehemaligen
Überwachung und des Schutzes selbst für solche exponierten Funktionsträger wie RAF-MitgliederInnen aus den 70er Jahren, die bereits seit Beginn der 80er Jahre
z.B. Herrhausen und Neusel unter Bedingungen eines bürgerlichen Rechtsstaats in der DDR lebten, ist bei den meisten fast nichts von einmal formulierten poli-
existieren. Durch ihre bloße Existenz markieren sie einen Raum, in der die eige- tischen Ansprüchen, weder gegenüber der Gesellschaft, den eigenen GenossIn-
nen politischen Vorstellungen an der Existenz dieser Gruppen – wie auch immer nen noch gegenüber sich selbst, übrig geblieben: Die ehemaligen RAF-Grup-
ob ›konstruktiv‹ oder gegeneinander abgearbeitet werden müssen. Diese Diskus- penmitglieder aus der DDR erzählten der Bundesanwaltschaft (BAW) was immer
sion soll nachfolgend anhand eines Sprungs zurück zu den zwischenzeitlich wie- diese zu hören wünschte; eine unendliche Zahl von schmierigen Eigenbezichti-
der höchst aktuell gewordenen Organisationsfragen der RAF der 70er Jahre und gungen und widerlichen Denunziationen gegenüber anderen ehemaligen Genos-
der Attentatspolitik der jüngsten Zeit erfolgen. sInnen wurden von ihnen in die Welt hinaus schwadroniert; Pressemagazinen
wurden billige Mickey-Mouse-Karikaturen der eigenen politischen Geschichte
Kronzeugenjuwelen und Glasperlenpolitik aus den 70er Jahren verkauft und ein in TV-Interviews herumstammelnder Ex-
»wir reden von dem was wir in den letzten jahren erfahren haben ...« RAF-Kader konnte auf einmal in A. Haig, der Ende der 70er Jahre einer der
(Der erste Satz aus dem im Mai 1982 veröffentlichten RAF-Grundsatzpapier wichtigsten imperialistischen Kriegsführungsstrategen war, plötzlich auch nur
»Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front« ) noch einen »Menschen« erkennen, von dem er zehn Jahre später meinte, ihn im
Die staatliche Repression ist nur die banale und oftmals brutale Antwort der Fernsehgroßformat beweinen zu müssen.78
herrschenden Macht auf für sie gefährliche soziale Prozesse, die sich politisch Und trotz allen Ekels ist die Frage zu stellen, warum die ehemaligen RAF-
organisieren. Deshalb ist es für eine aktuelle linksradikale Praxis interessanter, d.h. MitgliederInnen aus den 70er Jahren nicht zunächst einmal geschwiegen haben,
lehrreicher, einen anderen Zusammenhang zu den bewaffenten Kommandos zu um sich so den Raum für den Aufbau einer gemeinsamen – durchaus auf Juriste-
diskutieren, der in der Frage der staatlichen Repression nur kurz aufscheint, um rei begrenzten – Verteidungslinie zu erhalten? Auch wenn es in den vergangenen
zugleich von ihr verdeckt zu werden. Die 20jährige Geschichte der RAF ist auch zehn Jahren unter besonderen Lebensbedingungen nachvollziehbare Prozesse der
als Versuch zu lesen, unter extremsten Repressionsbedingungen eine kollektive Entpolitisierung gegeben haben mag, die außerhalb der Verantwortung des
Gruppenpraxis zu praktizieren, die zugleich als Teil einer linksradikalen Gegen- begrenzten RAF-Zusammenhanges zu diskutieren wären, so ist doch die Frage
kultur verstanden worden ist. Dieser formulierte Anspruch auf ein politisch han- aufzunehmen, welche möglicherweise in der Gruppenstruktur der RAF der 70er
delndes Kollektiv durchzieht die Geschichte der RAF von ihrem Beginn an bis Jahre liegenden Verhaltens- und Umgangsweisen zu dem erbärmlichen Verhalten
hin zu der Zusammenlegungsforderung. Genau dieser Anspruch wurde von den jener ›Kronzeugen‹ beigetragen haben mögen? Kann man es sich so einfach
138 Staatschutzbehörden immer wieder von neuem mit der Konstruktion bekämpft, machen wie Helmut Pohl, der die Ex-RAF- Mitglieder aus der DDR zwar 139
zutreffend als »Soft-Porno-Darsteller« zu bezeichnen wußte, die Erklärung dafür in der BRD. Und genau darin besteht dann auch eine nicht zu individualisieren-
jedoch individualisierte und auf eine oberflächliche Politisierung dieser Ex- de Verbindungslinie aus der gemeinsamen RAF-Gruppenpraxis der 70er Jahre
GenossInnen in »Anti-Folter-Komitees« Mitte der 70er Jahre schob; immerhin zwischen den heutigen Gefangenen und dem Trauerspiel der Kronzeugenjuwe-
eine Politisierung, die für viele Grund genug dafür war, sich radikal gegen die len, bei der der komplette Zusammenbruch der einen nur die spiegelverkehrte
Verhältnisse zu stellen? 79 Seite der Bornierung der anderen ist.80
Wenn man sich noch einmal nachträglich das »Guerilla, Widerstand und
Antiimperialistische Front«-Papier der RAF aus dem Jahre 1982 durchliest, Was will die RAF der 90er Jahre?
gewinnt man fast zehn Jahre später den Eindruck, daß dort gerade nicht über alles In den Erklärungen der RAF seit dem Attentat auf Herrhausen wurde auch an
»geredet« wurde, was das RAF-Kollektiv als Gruppenzusammenhang in den Jah- die Adresse der Autonomen ein deutliches Interesse nach einem politischen
ren zuvor an kontroversen Auseinandersetzungen erlebt haben muß. Obwohl Zusammenhang formuliert. Zu nennen wären dabei das Herausstreichen der
nach 1977 bis zu Beginn der 80er Jahre ein großer Teil des Kommandos, aus wel- Bedeutung von Hausbesetzungen für autonome Politisierungsprozesse, die
chen Gründen auch immer, ausgestiegen ist, wurde einfach, ohne geringsten Erklärung zur Hafenstraße, der offenkundige Bezug des Angriffs auf die US-ame-
Bezug auf die internen Gruppenprozesse, die nächste Grundsatzproklamation in rikanische Botschaft in Bonn zu den Anti-Golf-Kriegs-Aktivitäten und schließ-
die »weltweiten Kräfteverhältnisse« geschleudert. Der in diesem Zusammenhang lich der in der Rohweddererklärung ganz ausdrücklich enthaltene Hinweis, »daß
möglicherweise geltend gemachte Hinweise auf die, durch den staatlichen wir in Zukunft auch auf Angriffe des Staates, die darauf zielen, die gesamte Ent-
Repressionsdruck gesetzten, Grenzen ist natürlich immer richtig, wie er eben wicklung revolutionärer Gegenmacht zurückzudrehen, wie z.B. die brutale Räu-
auch genausogut falsch sein kann. Wer es also auch heute noch vertritt, daß es mung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Ost-Berlin (...) antworten
damals vor 10 Jahren richtig war, die gruppeninternen RAF-Entwicklungspro- wollen.« So wenig es bei der Auseinandersetzung um ein wie auch immer gearte-
zesse aus dem herauszuhalten, was man meinte der Öffentlicheit mitteilen zu tes Verhältnis zwischen RAF und Autonomen darum gehen kann, der anderen
müssen, der sollte sich auch heutzutage nicht darüber beklagen, durch die aus Seite vorschreiben zu wollen, was sie zu tun oder zu lassen hat, so ist es – gerade
durchsichtigen Interessen als Schmierenkomödie präsentierten eigenen Geschich- wenn ein Wunsch oder Anspruch auf einen politischen Zusammenhang erhoben
te wieder eingeholt zu werden. Wenn es noch richtig ist davon auszugehen, daß wird – unumgänglich, sich gegenseitig sehr genau über die Orientierungen,
jede politische Gruppe nur so stark ist, wie ihr schwächstes Glied, dann bleibt Theorien und Praxis der jeweiligen Politik zu befragen.
bezüglich des Verhaltens der Kronzeugen eben auch der Eindruck zurück, daß
die Intensität des Versuchs einer solidarischen Gruppenpraxis der RAF in den Detlev C. Rohwedder wurde von seinem Arbeitsplatz abgewickelt
70er Jahren dem einer Glasperle geglichen haben muß, die nun mühelos zer- Rohwedder war in seiner Funktion als Chef der Teuhandanstalt zum Zeitpunkt
schlagen werden kann. des Attentats gerade dabei, seitens der DDR-Bevölkerung zu einem der bestge-
Allerdings finden alle diese kritischen Anmerkungen ihre Grenze dort, wo das haßtesten Männer zwischen Zwickau und Rostock zu werden. Bis zu dem Zeit-
Selbstverständnis der RAF schon immer auf eine straff geführte, geheime militäri- punkt seines Todes war er für das, was er tat noch nicht von ehemaligen DDR-
sche Kampforganisation hinauslief. In diesem Zusammenhang existieren dann Bürgern verprügelt worden, was unter Umständen im Bereich von politischen
natürlich auch keine individuellen, geschweige denn öffentlich zu vermittelnden, Lern-, Kampf- und Entwicklungsprozessen gelegen hätte, die durch seinen Tod
persönlichen »Erfahrungen« einzelner Gruppenmitglieder mehr; sie sind allenfalls abgeschnitten wurden.
ein blinder Fleck, was zugleich auch ihre Kollektivierung im Gruppenprozeß Unter welchen Bedingungen kann ein politischer Mord, der in der bürgerli-
ausschließt. Insofern illustriert das Schicksal einiger RAF-DDR-Aussteiger, die chen Diskussion als »Tyrannenmord« bezeichnet wird, als Mittel der Politik bei
öffentlich als Menschen ohne jeglichen Anschein von Integrität vorgeführt wer- anderen Menschen ein Gefühl der Befreiung wecken? Ein Gefühl von Befreiung,
den können, im Grunde genommen nicht nur ein ganz allgemeines objektives frei jedoch von zwischenzeitlich in dieser Gesellschaft grassierenden bewußtlosen
Scheitern der RAF der 70er Jahre, sondern auch einen vollständigen subjektiven Ressentiments. Aus den Erklärungen der RAF zu diesem Attentat geht hervor,
140 Bankrott eines Versuchs des Aufbaus einer linken militärischen Kampforganistion daß Rohwedder in seiner ökonomischen Funktion angegriffen wurde; d.h. sein 141
Tod wird mit seiner Funktion erklärt, er wird als Mensch darauf reduziert und für beschreiben, die womöglich in naher Zukunft mit Hilfe der Wehrmacht in Ost-
eine politische Absicht funktionalisiert. Worin unterscheidet sich dieses Vorge- europa nach ’45 ein zweites Völkermordmassaker plant? Wie läßt sich der von
hen von den destruktiven Mechanismen der herrschenden kapitalistischen Ver- der RAF benutzte Begriff »2/3 Gesellschaft« damit in Zusammenhang bringen,
hältnisse, dessen fortwährendes Funktionalisierungskalkül doch in dem, was eine der von dem Sozialdemokraten Glotz kreiert wurde? Ist ein System auch nur
revolutionäre Linke zu tun hätte, durchbrochen werden müßte? In der Erklärung annähernd dadurch zu bekämpfen, indem man einen hohen Verwaltungsange-
zu seinem Tod wird seitens der RAF von einem Kampf »für ein menschliches stellten nach dem anderen tötet, die ohnehin mittlerweile von sich erklären, daß
Leben in Würde und frei von Herrschaft« gesprochen, und daß eine »revolu- sie Charaktermasken, und damit jederzeit ersetzbar sind?
tionäre Bewegung (...) eine reale und greifbare menschliche Perspektive ent- Daß auf diese durch die RAF-Erklärungen aufgeworfenen Fragen keine
wickeln« müsse, um dadurch »zur Anziehung für alle, die dieses System als Unter- besonders klugen Antworten greifbar sind, spricht nicht gegen eine autonome
drückung erfahren, (zu) werden.« Diese Formulierungen und das, was mit ihnen politische Praxis, die auch deshalb eine andere ist, als die der RAF.
zum Ausdruck gebracht wird, stehen unverbunden zu dem immer untrennbar
mit einen politischen Mord aufscheinenen Grauen durch den Tod eines Men-
schen. Hat sich nicht jeder politische Mord, -sofern er von Linken verübt wird,
da nur Faschisten damit keine prinzipiellen Probleme haben- in seiner Begrün-
dung dem Problem zu stellen, daß die Auslöschung von Menschenleben eher das
Ende jeglicher Hoffnung auf Veränderung, anstatt von Emanzipation, signalisiert?
Gilt nicht auch gerade im Blick auf die unendliche Personen-Attentatsgeschichte
der RAF in den 80er Jahren noch immer das, was die Revolutionären Zellen in
ihrer Erklärung zu dem Anschlag auf den furchtbaren Juristen Korbmacher im
Sommer 1987 geschrieben haben, daß einzig und allein die Wirkung des
»Gefühls der Befreiung und Ermutigung« (...) etwas dermaßen Schwerwiegendes
wie die politische Tötung eines Menschen, dieses äußerste und extremste Mittel
im Klassenkampf, das sich durch seinen inflationären Gebrauch selbst entwertet«
rechtfertigen könne? Man findet auf diese Fragen in der Erklärung der RAF zu
der Tötung von Rohwedder kein Nachdenken, geschweige denn eine Antwort.
Vielleicht lege ich auch deshalb (zu-?)viel Gewicht auf diese Fragen, weil die
in der Rohwedder-Erklärung (aber auch die Erklärungen zu Herrhausen und
Neusel) als Analysen und Begriffe gemeinten Begründungen, eher wie oberfläch-
liche journalistische Beschreibungen anmuten, als daß sie die Wirklichkeit mit
einem antizpatorischen Begriff durchdringen könnten. Auch wenn man bereit ist,
auf einen Vergleich mit den Qualitäten der ersten programmatischen Erklärun-
gen der RAF aus den frühen 70er Jahren zu verzichten, so werfen die Erklärun-
gen der jüngsten Zeit d.h. seit dem Herrhausen-Anschlag im November 1989,
einige Fragen auf: Ist der »reale Sozialismus« einzig und allein durch den »Impe-
rialismus« hinweggefegt worden? Sind alle DDR-BürgerInnen nur Opfer und
Objekt dieser Entwicklungen? Kann man sich vor dem Hintergrund der Theorie
und Praxis der neuen BRD-Linken einfach auf sie und ihr Alltagsverständnis
142 beziehen? Läßt sich die BRD-Ökonomie als eine »faschistische Ökonomie« 143
7. Die Licht- und Schattenwelt der den durch, aus dem ganzen Bundesgebiet herbeitelefonierten Spezialbullen, in
einer Prügelorgie mit teilweise Schußwaffen- und Blendschockgranateneinsatz
staatlichen Repression geräumt. Der damals regierende Bürgermeister Momper sprach danach Hausbe-
setzerInnen jegliches soziales Anliegen ab und unterstellte den BesetzerInnen der
Mainzer Straße »blanke Mordlust« und »Tötungsabsicht«, was in Kommentaren
der bürgerlichen Presse mit teilweise faschistischem Sprachgebrauch beifällig
kommentiert wurde.
»Es ist ein sehr gefährliches Spiel bei dem die Regeln nicht feststehen. Aber ohne Gefahr In allen drei Fällen wurde mit etwa sechsmonatiger Verzögerung die Vorga-
gibt es keine Entwicklung. Die Katastrophe muß riskiert werden, sonst geht gar nichts ben der TAZ-Berlin-Berichterstattung gegen den revolutionären 1. Mai in Kreuz-
mehr.« berg von den Staatschutzinstanzen aufgegriffen. Die TAZ hatte zum damaligen
(Heiner Müller) Zeitpunkt Autonomen mit ihren Vorbereitungen unterstellt, Tötungsabsichten
realisieren zu wollen.81 Ein größeres Maß an moralischer Ächtung politischer
Alte Hüte oder: Wen interessiert noch die Repression von vor zwei Aktivitäten von Autonomen erscheint kaum denkbar. Die unweigerlich mit der
Jahren ? Häufigkeit einher gehende Selbstverständlichkeit einer öffentlichen Assozierung
Das Problem der staatlichen Repression gegen erklärte Gegner der herrschenden von Autonomen mit Mord- oder Tötungsabsichten ist eine außerordentlich
Macht, ist zum einen nicht neu und muß doch immer wieder von neuem aufge- große Bedrohung für existierende politische Spielräume. In dieser angedeuteten
worfen werden. Der zwischenzeitlich erfolgte Aufstieg der BRD zu einer auch Tendenz verbinden sich der Selbsthaß von sich perspektivlos an die Verhältnisse
diplomatisch anerkannten Weltmacht hat Vermutungen genährt, daß die Schrau- anpassenden Charaktermasken aus dem 68er Milieu mit administrativen Ausgren-
be der Repression spürbar angezogen werden könnte. Eine Reihe von Ereignis- zungsstrategien und einem staatlichen Repressionsinteresse.
sen aus dem Zeitraum des letzten Jahres können unter Umständen diese Tendenz
illustrieren.: Hundertneunundzwanzig und mehr Kriminalsierungsplanspielchen
– Im Mai 1990 führte das BKA im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft In diese Situation fügen sich auch Bemerkungen des BKA-Oberbullen Zachert
mit 2000 Bullen einen Überfall auf die Hamburger Hafenstraße durch. Im Herbst bei der Herbsttagung seiner kriminellen Vereinigung in Wiesbaden, in denen er
wurde dieser Angriff durch Presseartikel mit dem Tenor »Hafenstraße = Mord- »Hausbesetzer in Hamburg und Kreuzberg pauschal als eine im kriminologischen
und Terrorzentrale der RAF« propagandistisch nachbereitet. Sinne »Höchstform der organisierten Kriminalität‹ bezeichnet und unter großem
– Nach der erfolgreich in Berlin am 3. Oktober 1990 mit 15000 Menschen Beifall der Zuhörer meist juristische »Generalklauseln« für die Bekämpfung der
durchgeführten Demonstration autonomer Gruppen unter dem provokanten organisierten Kriminalität (forderte.) Er ließ dabei an der Interpretation solcher
Motto »Halt’s Maul, Deutschland« wurde im Zusammenhang mit einer an- weit gefaßten rechtlichen Vorschriften auch keinerlei Zweifel. Diese sollten für
schließenden Randale auf dem Alexanderplatz nachträglich ein ›Mordversuch‹ die Polizei weit gefaßt sein, da die allgemeine »Verrechtlichung« wie auch die
eines Demonstranten an einer Polizistin konstruiert und eine bundesweite Fahn- »Perfektionierung« des Rechts bei den Polizisten vor Ort »eine Aversion gegen
dung eingeleitet. Dabei wissen selbst Justiz und Bullen, daß an der mit vier Kopf- das Recht« provozierten.« 82
schmerztabletten sofort aus dem Krankenhaus entlassenen Polizistin kein Mord- Die Geschichte der Staatschutzpolitik aus den letzten 20 Jahren hat mehr als
versuch begangen worden ist. einmal bewiesen, daß aktuell unrealistisch erscheinende Überlegungen und die
– Unter Umgehung aller politischen Vermittlungsversuche von Prominenten illegale Praxis der Repressionsapparate noch immer – je nach Bedarf und Oppor-
aus dem DDR-Bürgerrechtsmilieu, Spitzen der Evangelischen Kirche und kom- tunität – in Strategien nachträglicher Legalisierung durch entsprechende Geset-
munalen Parlaments- und BezirksvertreterInnen wurden Mitte November ›90 zesvorhaben der Exekutive transformiert wurden. Die Geschichte zur Ein-
die besetzten Häuser in der Mainzer Straße im ehemaligen Ost-Berlin, Opfer führung der ›Kronzeugenregelung‹ als Musterbeispiel eines Willkür-, Notstands-
144 einer militärähnlichen Eskalation des SPD/AL-Senats. 13 besetzte Häuser wur- und Ausnahmerechts liefert genügend Anschauungsmaterial für diese These. Die 145
Reihe von Prozessen die in die DDR emigrierten RAF-Mitglieder gleichen fortsetzen wird, kann mit den oben genannten Bemerkungen nicht geklärt wer-
makaberen Justizfarcen, in denen zwischen Generalbundesanwaltschaft, Gerich- den. Gegenteilige Spekulationen sind gerade in gesellschaftlichen Situationen, in
ten, Verteidigung und Angeklagten eine weitgehende Interessensidentität herr- denen alles im Fluß ist, immer -mindestens genauso gut begründet- möglich.
scht, die dazu dient die ›Kronzeugenregelung‹ zu einer ganz gewöhnlichen und Manchmal reicht es der herrschenden Klasse aus, dem zum innenpolitischen
›normalisierten‹ Anwendung zu bringen.83 Dabei ist nicht der erneute Versuch Feind Nr. 1 erklärten Gegner nur die Werkzeuge zu zeigen, ohne sie anzuwen-
des Staatschutzes interessant, die politische Geschichte der RAF mit Hilfe von den.86
willenlos gewordenen und gebrochenen Individuen zu einem Schmierenstück
gewöhnlicher Kriminalität umzufälschen. Die vermeintliche Humanität der Aber wer wird denn Angst haben, so allein im dunklen Wald?
Anwendung der ›Kronzeugenregelung‹ soll den Erpressungscharakter dieses Bedeutsamer aber für weitere Diskussionen ist die Frage danach, was das Wech-
Instruments vor allem gegen diejenigen Gefangenen verdecken, die nicht bereit selspiel der Drohung einer staatlichen Repression und den Möglichkeiten einer
sind, von ihrer grundsätzlichen Gegnerschaft zu den Verhältnissen in der BRD Integration mit uns subjektiv macht. Dabei bleibt der Knast zunächst einmal das
abzuschwören – wobei sogar zu befürchten ist, daß der Geiselstatus einer Reihe Terrain der Niederlage, welches die radikale Linke als Opfer staatlicher Repressi-
von RAF-Gefangenen mit Hilfe der sogenannten ›Kronzeugenregelung‹, als on auf sich selbst zurückwirft. Die Folge davon ist, daß sie einerseits für Außen-
einer anderen Form der Folter auf Ewigkeit festgeschrieben werden soll. stehende nicht besonders attraktiv ist und andererseits auch dadurch die Diskus-
Ist dieses noch nicht vollständig realisierte Vorhaben ersteinmal geglückt, sionen und Mobilisierungen so schwierig sind. Ich glaube, daß auch viele Auto-
kann die bereits so ›normal wie erfolgreich‹ praktizierte Kronzeugenregelung nome die Bedeutung dessen, daß nichts so schwer auszuhalten sei, als sich im
danach umso wirksamer für einen gezielten politischen Einsatz auch gegen beste- Widerspruch zu seiner Zeit zu befinden und laut ›Nein‹ zu sagen, völlig unter-
hende linksradikale Zusammenhänge benutzt werden. Und in diesem Zusam- schätzen.
menhang kann sich das von liberalen Rechtsstaatskritikern gegen die Praxis des Wir leben in einem System, daß zumindest in den letzten 25 Jahren dazu in
politischen Gesinnungsparagrahen 129a aktuell vorgebrachte Argument einer im der Lage war, ein fein dosiertes Maß an Repression mit ungezählten Integrations-
Vergleich zu anderen Pragraphen – lächerlich gering erscheinenden Verurtei- und anderen Bestechungsangeboten im sozialen Alltag zu verbinden. Das was als
lungsquote von gerade mal 4% noch als Bummerang erweisen.84 Eine auf das Angst vor der staatlichen Repression psychisch zu verarbeiten ist, wendet sich nur
Argument der geringen Verurteilungsquote gestützte Forderung nach ersatzloser all zu oft in Formen stiller Resignation. Dadurch, daß manchmal von Autono-
Streichung dieses Paragraphen kann auch genauso gut für die gegenteilige Forde- men mit der imperialistischen Weltmacht BRD ein verflucht mächtiger Gegner
rung nach einer drastischen Erhöhung dieser Verurteilungsquote herangezogen in das Zentrum der Analysen und Aktivitäten gerückt wird, wird man zugleich
werden, z.B. in naher Zukunft, in dem vom derzeitigen BKA-Oberbullen pro- nicht unbedingt mutiger. Die staatliche Repression gegen autonome Zusammen-
klamierten Kampf gegen »Höchstformen politisch organisierter Kriminalität«. Die hänge bedeutet zugleich auch immer, daß einzelne daraus für geraume Zeit der
ab Ende 1987 auf diesen Paragraphen gestützen Verhaftungen und nachfolgenden Bedrohung durch die staatliche Verfügungsgewalt ausgeliefert sind, was zumeist –
Verurteilungen einer ganzen Reihe von GenossInnen aus dem antiimperialisti- aller notwendigen gegenteiligen politischen Proklamationen zum Trotz – für die
schen Widerstand aus Duisburg und der Düsseldorfer Kiefernstraße, unter dem Betroffenen individualisiert im Alltag oder im Knast ausgehalten werden muß.
Konstrukt der »kämpfenden Einheiten« sind nicht nur für die Betroffenen eine Der Zusammenbruch oder das Verschwinden einer Reihe von anderen linksradi-
Tragödie. Die bar jeglichen Anscheins von Rechtsstaatlichkeit vollzogenen Ver- kalen Strömungen und Tendenzen der 68er Revolte macht Autonome zugleich
urteilungen sind eine bereits erfolgreich vollzogene Tendenz in der Politik der auch für die Bullen identifizierbarer und damit angreifbarer. Wie wird man der
Repressionsapparate, ihren Aktionsradius beständig in einem Sinne auszuweiten, Zwickmühle entkommen können, sich durch politische und soziale Bewegungen
wie sie der Oberbulle Zachert in seinen Bemerkungen angedeutet hat.85 reproduzieren zu müssen, ohne dabei in das Messer der staatlichen Repression zu
Die eingangs gestellte Frage, ob die angedeutete Tendenz einer zunehmenden laufen? Eine Bewegung muß sich bewegen, sonst ist sie keine, d.h. ohne leere
politisch-juristischen Repression gegen linksradikale Zusammenhänge einer Ritualisierung, Legalismus und Gesetzesgehorsam und überhaupt: Wer sich nicht
146 genau abgestimmten staatlichen Strategie folgt bzw. sich schon in naher Zukunft bewegt, spürt seine Fesseln nicht. Aber durch welchen sozialen und politischen 147
Zusammenhang ist es auszuhalten, auf möglicherweise unabsehbare Zeit bestän- Teil III. Schlußbetrachtung
dig seine Fesseln zu spüren?
Welche Folgen wird es für autonome Zusammenhänge haben, wenn der
staatliche Repressionsdruck dafür sorgt, weitgehend ein Hort der Legalität sein zu
müssen – was nebenbei bemerkt, autonome Zusammenhänge im Vergleich zu
der von Geheimdiensten, Parteizentralen, Staats- und Regierungskanzleien, und
Drogenkartellen ausgehenden ›normalen‹ Kriminalität ohnehin sind. Während der Abschlußkundgebung der internationalistischen Demonstration
Die latent drohenden Knüppel der Repression verdecken aber schnell das autonomer Gruppen am 3. Oktober 1990 in Berlin, gegen die Feierlichkeiten zur
Moment der Integration als anderer Seite des Problems staatlicher Machterhal- deutschen Vereinigung, wurde von GenossInnen aus einem Handkarrenwagen
tung. Dieses System hat sich nicht zufällig viele 68er und auch die Grüne Partei das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels verteilt. Es
kaufen können, warum sollten nicht auch genauso viele, gerade akademisch qua- war mit einem Stempel mit der Aufschrift: »Bitte sorgfältig aufbewahren! Ach-
lifizierte Autonome, durch die Repression demoralisiert und durch den Sozial- tung! Vor weiterem Gebrauch unbedingt überarbeiten und ergänzen!« versehen.
prozeß individualisiert ihren Schnitt machen können? Gerade vor dem Hinter- In den letzten 80 Jahren hat es auf dem Boden dessen, was Deutschland
grund des Anspruches auf eine Vermittlung von Politik in den eigenen Alltag genannt wird, viermal einen Umsturz oder Zusammenbruch der staatlichen Ord-
leben sie in einer hochgradig prekären Situation: Wer die bestehende Gesell- nung gegeben. Wenn es auch mit Ausnahme des Beginns der Novemberrevolu-
schaftsordnung radikal ablehnt, ist nicht nur durch die staatliche Repression tion 1918 und einiger Momente aus der Vorgeschichte der DDR nicht viel gege-
gefährdet, sondern unterliegt nicht nur vielfältigsten Formen von sozialen ben hat, was sich positiv aneignen ließe, so ist doch in diesem Fall aus der
Restriktionen, von denen z.B. Berufsverbote nur einmal die zugespitzteste Form Geschichte zu lernen, daß selbst die neue und mächtige BRD nicht so bleiben
waren, sondern auch der radikalen Linken-Tradition des Ver-Schweigens von wird, wie sie ist. Auf jeden Fall wird sich die Zukunft von Autonomen im Kampf
Teilen der eigenen Lebenspraxis. Der Druck einer auf längere Sicht kaum verän- gegen hunderte von im Alltag erlebten Niederlagen entscheiden. Und dabei ist
derbar erscheinenden sozial unsicheren Situation macht aber wiederum anfälliger mit dem Begriff des Alltags schlicht der Ort gemeint, an dem wir leben und der
für schleichende Korruptionsprozesse und Bestechungsangebote. Und Autonome von vielen unsichtbaren Kommunikationsnetzen durchzogen wird. Und in die-
wären nicht die ersten, die diesen Teufelskreislauf nicht mehr ausgehalten haben. sem Sinne wäre daran festzuhalten, anstatt im Plural immer in der ersten Person
Es fällt schwer, in diesem Zusammenhang Antworten zu formulieren, wobei Singular zu sprechen. Denn daß sich Autonome - den Bekundungen ihrer Flug-
allerdings bereits die Fragestellung, als ein Moment der Aufklärung über unsere blätter zur Folge – als ganz entschiedene GegnerInnen aller Formen von Fasch-
Verhältnisse dienen kann. Vielleicht lernen es Autonome dabei, sich nicht nur Rass-Imp-Nat-Kap-Sex- jeweils Ismus auf der ganzen Welt verstehen, ist keine
ausschließlich als in aberwitzig hohen und mit vermeintlich sauberer Moral exe- automatische Gewähr dafür, daß mit diesen oftmals sehr abstrakten Sprachhülsen
kutierten politischen Ansprüchen eingerichtete TäterInnen zu begreifen, sondern die eigene Sozialität zur Sprache gebracht werden kann. In einem anderen Fall
sich auch als Opfer gesellschaftlicher Zwangs- und Unterdrückungszusammen- wird es vielleicht nur noch für kurze Zeit gelingen, sozial völlig entleerte politi-
hänge – die im übrigen ja noch weit mehr Menschen betreffen – zum Sprechen sche Manifestationen zu reproduzieren.87 Jede Form eines verbissenen, sich
zu bringen. Darin könnte auch ein wichtiges Moment liegen, der propagandi- immer wieder selbst proklamierenden revolutionären Duchhaltewillens wird an
stisch betriebenen innerstaatlichen Feinderklärung von Autonomen auszuwei- der Flexibilität der Metropolenverhältnisse zur Karikatur seiner selbst und damit
chen. in sich zerfallen. Und manchen, mit (zu) großen Ernst geführten autonomen
Organisierungs- (oder zwischenzeitlich gar) Organisationsdebatten wäre zu wün-
schen, daß sie niemals außer acht lassen, daß sie gerade in Deutschland, in einem
Land mit einer ›Kultur‹, stattfinden, welches sich diesem Jahrhundert mit erbar-
mungsloser Effizienz bis nach Verdun, Auschwitz und zur Exportweltmeisterna-
148 tion zu organisieren wußte. 149
Bringen wir die Kraft dafür auf, uns dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck Anmerkungen
zu einer standardisierten Zwangs- und Massenindividualität wenigstens teilweise
zu entziehen, und das gerade in einer Situation wo Vorstellungen von Formen 1 In langweiligen akademischen Texten dienen Fußnoten den Autoren zumeist nur dazu, sich
der ›Kollektivität‹ auch durch die Entwicklungen im ›realen Sozialismus‹ auf lange immer selbst zitieren zu können. Damit können sie sich bestätigen, wie klug sie doch eigentlich
sind. Da ich jedoch hoffe, daß mein Text weder akademisch noch langweilig ist, möchte ich dar-
Zeit mehr als blamiert zu sein scheinen. auf verzichten. Deshalb muß auch der Leser, der an dieser Stelle eine minutiös genaue Angabe
Dieses Unterfangen wird vermutlich in den nächsten Jahren voraussetzen, daß der Fundstelle jenes Heiner Müller Zitats erhofft hat, enttäuscht werden. Soviel sei jedoch verra-
sich als autonom verstehende politische und soziale Zusammenhänge Zeit- und ten: Es wurde aus dem Buch: »Zur Lage der Nation« entnommen. Ansonsten würde ich mich
glücklich schätzen, wenn die Fußnoten wahlweise als Straßenaufstände in der Geschichte oder als
d.h. auch Ruheräume gegen einen atemlosen, d.h. toten Aktivismus in katastro- kleine Wegelagerer am Rande des Textes verstanden werden können.
phisch erscheinenden Zeiten erkämpfen müssen. Nur so wird überhaupt gegen 2 Eine anregende Kritik gegenüber den Vorstellungen und der Politik jener ›Radikalen Linken‹
die herrschenden Verhältnisse ein Anspruch auf ›Kontinuität‹ gelebt werden kön- findet sich in dem aus dem Umkreis der Erlangener Zeitschrift ›Krisis‹ herausgegebenen Heft:
nen, der gerade nicht als Zwang auf diejenigen zurückschlägt, die ihn versuchen »Die Radikale Linke« - Ein Schlesiertreffen? - Beiträge zur Kritik des hilflosen Antikapitalismus«,
1990.
alltäglich zu praktizieren. Und daß es schwer ist, für die Zukunft zu prognostizie-
3 Der LUPUS-Text »Doitsch-Stunde« befindet sich in dem Buch »Metropolen(gedanken) und
ren, welche Rolle die neue BRD sowohl in einer neuen Weltordnung, als auch Revolution?«. Bei dem Beitrag des Berliner Genossen handelt es sich um ein Referat, das auf
im Konkurrenzkampf zwischen den imperialistischen Zentren auf dem Welt- einem Autonomen-Kongreß im Sommer 1991 in Venedig gehalten wurde. Es findet sich in der
markt spielen wird, bedeutet auch in diesem Fall nur, daß wir die Energie nur INTERIM vom 15. 8. Nr. 158/1991 unter dem Titel: »Die Krise der autonomen Bewegung nach
der Wiedervereinigung«. Beide Beiträge sind außerordentlich anregend.
durch den Strom bekommen, gegen den wir schwimmen.88 Deshalb geht es
4 Jochen Cerny in »Brüche / Krisen / Wendepunkte - Neubefragung von DDR-Geschichte«, Lei-
immer wieder darum, die Macht der Gewohnheit, die gegenseitige Skepsis, die pzig 1990
Resignation und den eigenen Zynismus in neuen politischen und sozialen Bewe- 5 Berija traf seine Aussage nach seiner Rückkehr aus der DDR auf einer kurzfristig einberufenen
gungen zu vertreiben und aufzuheben. Und wenn Lupus meint, daß es bei den Tagung des Zentralkomitees der KPDSU. Zitiert nach »Neues Deutschland 30.11. / 1.12. 1991.
Autonomen vorne und hinten nicht reiche und ein Berliner Genosse sagt, daß die 6 Die von mir gewählte Interpretation kann sich auf die Darstellung im Buch von Heinrich Jae-
nicke: »Das deutsche Trauma - Die Geschichte der Teilung - Legende und Wirklichkeit«,
Autonomen mal wieder am Anfang stehen, dann haben sie beide mehr als recht. Gütersloh, 1989, stützen. Zur Frage der Bedeutung der Stalin-Note, siehe auch die Darstellung
Es war tatsächlich in ihrer Geschichte noch niemals anders: Betrachten wir die von Rolf Steiniger: »Die vertane Chance - Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wie-
Autonomen niemals als ein halbleeres, sondern immer als ein halbvolles Glas derveinigung«, Berlin-Bonn 1985.
Wasser. In diesem Sinne spricht alles dafür, außerordentlich neugierig darauf zu 7 Die programmatische Wende in der sowjetischen Deutschland-Politik läßt sich auch aus einer
bereits 1987 für Gorbatschow erarbeiteten Denkschrift durch Wjatscheslaw Daschitschwew (Pro-
sein, was in Zukunft noch passieren wird, wenn das Glas Wasser durch unser fessor am Moskauer »Institut für Wirtschaft und internationale Studien«) ablesen. Seine vernich-
Zutun anfängt überzulaufen. tende Analyse der DDR verknüpft er dabei mit einer nur schwer erträglichen Lobpreisung des
gesellschaftlichen Systems der BRD. Zitiert nach SPIEGEL Nr. 6 /1990.
8 Siehe hierzu auch die entsprechenden Darstellungen im Buch von Dietrich Staritz: »Die Grün-
dung der DDR«, München 1984. Dieser Text behandelt die Transformation der sowjetischen
Besatzungsherrschaft zur DDR in den Jahren 1945-52.
9 Es ist bezeichnend für die Geschichte der DDR-Rezeption in der BRD, daß die erste marxisti-
sche Analyse des 17.Juni 1953 erst fünf Jahre später, von dem Franzosen Benno Sarel mit: »Arbei-
ter gegen den Kommunismus« vorgelegt worden ist. Der Text erfuhr erst im Jahre 1965 eine
Übersetzung und ist 1991 im Verlag Schwarze Risse, Berlin, wieder neu aufgelegt worden.
10 Nachdem in den Jahren 1949-52 bereits 700 000 Menschen die DDR verlassen hatten, betrug
die Zahl der Flüchtlinge in den Jahren 1953-61 noch einmal über zwei Millionen.
11 Um die Dimension des Repressionsapparates im Vergleich zur BRD zu verdeutlichen: Gemessen
an der Einwohnerzahl waren in der DDR zweieinhalb mal soviel Bullen wie in der BRD
beschäftigt. Allein für den gesamten Repressionsapparat ohne die NVA wurde in der DDR
(gemessen am Volkseinkommen) genausoviel Geld ausgegeben wie in der BRD für die Bundes-
150 wehr. 151
12 Aus der TAZ vom 26.3.90. Nichtsdestotrotz bleibt es in gewisser Weise ein geradezu bewunde- empfangen, und noch im Dezember ’89 sprach Kohl im Bundestag von einer mehrjährigen Kon-
rungswürdiger Umstand, wie es dem Schalck-Golodkowski-Imperium gelungen zu sein scheint, förderation zweier deutscher Staaten. Erst als sich das bundesdeutsche Finanzkapital um die Jah-
die seit dem Ende der 70er Jahre ökonomisch fast bankrotte DDR mit illegalen Methoden über reswende 1989/90 auf die Zerstörung der DDR festlegte, wurde von Bonn aus ein politischer
den kapitalistischen Weltmarkt zu manipulieren. Kehrtschwenk vorgenommen. Siehe hierzu auch einen Beitrag von Karl-Heinz Roth in der
13 Immerhin ist das Scheitern der Stasi auch ein Moment der Hoffnung: Selbst ein so allumfassen- KONKRET 3/1990
der, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringender Geheimdienst wie die Stasi, ertrank letztlich 23 Siehe hierzu auch die von der Frankfurter Diskus-Redaktion im Band »Texte der Neuen Lin-
in Aktenbergen voller Detailwissen, weil er ohne politische Theorie über die Gesellschaft blind ken«, Berlin 1992, versammelten Aufsätze.
dafür war, wichtiges von unwichtigem unterscheiden zu können. 24 An der offiziellen SED-Kundgebung am 17. Januar anläßlich des 69. Jahrestages der Ermordung
14 Zitiert aus Hermann Weber: »Geschichte der DDR«, Nördlingen 1985 von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wollten auch Oppositionelle mit eigenen Transpa-
15 Es ist interessant zu sehen, welch ein positiver Anklang die DDR-Kultur im dem Buch des west- renten u.a. mit dem Luxemburg-Zitat: »Freiheit ist auch immer die Freiheit des Andersdenken-
deutschen, kleinbürgerlichen Reaktionärs Wolfgang Venohr: »Die roten Preussen - Vom wun- den« teilnehmen. In Folge der Verhaftungswelle der STASI kam es im kirchlichen Rahmen zu
dersamen Aufstieg der DDR in Deutschland«, Erlangen-Bonn-Wien 1989, gefunden hat. Ihm einer für DDR-Verhältnisse ungewöhlich breiten Solidarisierungswelle mit mehreren tausend
erschien diser Staat mit seinem von der SED in den 80er Jahren inszenierten Preußentingeltangel, Menschen. Das »Problem« der Verhafteten wurde danach seitens der SED mit willkürlichen Ver-
reaktionärer Bismarck-Verehrung und NVA-Stechschritt im Unterschied zur ›amerikanisierten urteilungen wegen Demonstrationsteilnahme sowie in Kooperation mit der BRD durch erpreß-
BRD schon immer als der deutschere Staat, der lediglich deshalb entstanden sei, weil die »west- te Ausweisungen einer Reihe von Oppositionellen »gelöst«.
deutsche Bourgeoisie« unter Adenauer die »nationale Frage verraten« habe. 25 Wer sich näher mit der Frage auseinandersetzen möchte, was den BRD-linken Blick gen Osten
16 Zitiert aus: »Revoltierten die Produktivkräfte gegen den real existierenden Sozialismus« in: 1999, trübte, sei auf die diesbezüglichen Kapitel im Buch von Michael Schneider: »Die abgetriebene
Heft 4/1990 Revolution«, Berlin 1990 verwiesen. Die in diesem Zusammenhang diskutierten Stichworte vom
17 Wer sich mit der Geschichte und Praxis der kleinen, jedoch rührigen antiautoritären DDR- »Bann der NS-Vergangenheit, der Aura des Antifaschismus, negativer Patriotismus und einäugi-
Oppositionsbewegung vor dem Entstehen der Bürgerrechtsbewegung auseinandersetzen möchte, ger Antikapitalismus« vermögen in dem ansonsten zahnlos-selbstzufriedenen Buchtext des kri-
sei auf das wichtige Buch von Wolfgang Rüddenklau: »Störenfried«, Berlin 1992, hingewiesen. tisch-liberal gewordenen Alt-68ers durchaus einige Erklärungskraft zu beanspruchen.
18 »Sie wissen es nicht, aber sie tun es!« Ein Satz von Karl Marx über die Paradoxien einer bürgerli- 26 Dies geschah auf einem Fugblattext der Gruppierung ›Radikale Linke‹ zu einer Demonstration
chen Subjektivität, die auch in der DDR wirkte. gegen die Wiedervereinigung im Mai 1990 in Frankfurt
19 So wurde denn der Ende November 1989 u.a. von Stefan Heym verfaßte Appell: »Für unser 27 Eine polemische Streitschrift gegenüber einer den tasächlichen Weltmarkt-Verhältnissen unange-
Land« mit dem Tenor der Errichtung einer »sozialistischen Alternative zur BRD«, der innerhalb messenen, ja geradezu blinden Politik einer bundesdeutschen Linken in Sachen DDR und Ver-
kürzester Zeit von 1,2 Millionen DDR-Bürgern unterzeichnet wurde, zu einer Art vorwegge- einigung findet sich in dem Buch von Robert Kurz: »Honeckers Rache«. Wenn man bereit ist in
nommenen Abschiedserklärung jener »fortschrittlichen« Kräfte aus SED-PDS und Bürgerbeweg- dem Text über einige Zynismen hinwegzulesen, handelt es sich um einen außerordentlich anre-
ten, die bis zur Volkskammerwahl Mitte März 1990 den »Runden Tisch« stellten. genden, d.h. im besten Sinne provozierenden Text. Es bleibt allerdings rätselhaft was uns Kurz
20 Für eine vertiefende Diskussion sowohl des ganzen Komplexes des »neuen« oder genauer: eher mit der von ihm drohend an die Wand gemalten »Verkreuzbergerung« und das auch noch als
des alten Menschen im Sozialismus, sei auf eine von der Ex-Anti-Nato-Gruppe aus Freiburg im »Krisenperspektive« der BRD sagen möchte. Robert Kurz sollte nicht immer soviel Fernsehen
Frühjahr 1991 publizierte Broschüre unter dem Titel: »Auferstanden aus Ruinen ruht der Sozia- gucken.
lismus .... aus?« verwiesen, aus der ich wesentliche Anregungen erhalten habe. Darüber hinaus 28 Zitiert aus TAZ vom 8. und 9. 2. 1991
habe ich noch eine Reihe von Informationen aus einem Aufsatz von Hans-Jürgen Schulz: 29 Diese Äußerung fiel auf der Weltenergiekonferenz in Montreal. Zitiert aus TAZ vom 13.8.91
»DDR-Nachruf« aus dem Magazin der Sozialistischen Zeitung vom April 1990 erhalten.
30 Diese Überlegungen wurden weitgehend aus einem Aufsatz von Mohssen Massarat: »Über die
21 Zu diesem ganzen Problem wurde 1990 in der »INTERIM« eine Stalinismus-Diskussion ab Nr. 108 politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergründe des Golfkrieges« aus der Frankfurter
ff. bis Nr. 117 geführt. Im Sommer 1991 ist von der Hamburger »Schwarze Katze EG-Gruppe« Rundschau vom 9./10.10. 1990 entnommen. Das von den Petro-Oligarchien zwischenzeitlich
eine interessante Broschüre unter dem Titel: »Neuordnung in Europa - Materialien zur europäi- im Westen angelegte Kapital wird auf mindestens 270 Mrd US-Dollar geschätzt.
schen Großraumkonzeption« herausgegeben worden, die sich mit dem Leninismus als »Moderni-
31 In Diskus Nr. 1/1992
sierungspolitik- und Angriff der Bolschewiki« auseinandersetzt.
32 Zitiert aus TAZ vom 24.4.91
22 Das von Bonn aus in den 80er Jahren kein Vereinigungskurs betrieben wurde, läßt sich an einer
Unzahl von Beispielen nachweisen: Strauß dealte mit Schalck-Golodkowski 1983 einen Milliar- 33 Diese Feststellung beinhaltet keineswegs einen beschönigenden Unterton, dessen was die
denkredit für die finanziell ins Schlingern geratene DDR aus; der BRD-Giftmüllexport in die militärische Führung der USA natürlich unter anderen Vorzeichen und ohne Skrupel bereit wäre
DDR florierte genauso wie die DDR-Billigproduktion von Haushaltswaren in die BRD-Kon- zu tun. So konnte beispielsweise im Herbst 1989 während der Invasion in Panama, zwecks
sumpaläste, das Schlupfloch des Flughafens Schönefeld wurde im Sommer 1986 für Flüchtlinge in Ergreifung des jahrzehntelang vom CIA protegierten Drogenhändlers Noriega, infolge der
trauter deutsch-deutscher SED-SPD-Bundesregierungs-Dreisamkeit dichtgemacht; die SPD ver- gleichzeitigen Ereignisse in Osteuropa von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet, eine
faßte mit der SED gemeinsame Papiere und diskutierte ab Mitte der 80er Jahre die Anerkennung massive Bomardierung der Armutsviertel mit mehreren tausend Toten in Panama durchgeführt
einer DDR-Staatsbürgerschaft, die Ministerpräsidenten der Länder rangelten sich um einen werden.
152 Besuchstermin bei Honecker, dieser wurde wiederum 1987 festlich von Kohl zum ›Staatsbesuch‹ 34 Zitiert aus TAZ vom 21.1.91 153
35 Joachim Hirsch in ›links‹ 3/91 rungen, die wie überall in diesen falschen gesellschaftlichen Verhältnissen auch bei Linksradikalen
36 Siehe hierzu das Editorial in der Frankfurter Studentenzeitschrift »Diskus« Nr. 1/ Februar 1991 möglich sind, selbstverständlich der Kritik unterliegen müssen. Leider wurde das Problem des
37 Siehe hierzu besonders die Sondernummer der INTERIM vom Oktober ’90 unter dem Titel: Antisemitismus von der ISF in den Golf-Kriegs-Debatten dafür benutzt, linksradikale Zusam-
»Krieg am Golf« menhänge in der BRD als »antisemitisch« im Sinne einer bequemen Festschreibung zu denunzie-
ren, so daß sich die banale Frage aufdrängt, was eine Kritik nutzen soll, die nicht mehr auf die
38 So wurde beispielsweise in Berlin im Rahmen der vor Kriegsbeginn geplanten »Bündnisdemon-
Einsicht des Kritisierten setzt. Um die Jahreswende 1991/92 wurde die Debatte über eine Ver-
stration« von den Organisatorinnen nach »realistischen Schätzungen« eine Teilnahme von bis zu
knüpfung des Antizionismus mit Elementen von Antisemitismus durch eine beeindruckende
10 000 Menschen erhofft; es kamen rund 100 000.
Stellungnahme einer Revolutionären Zelle aktualisiert. Die RZ setzten sich anläßlich der Hin-
39 Zitiert aus TAZ vom 16.2.91 richtung des Genossen Gerd Albartus durch eine Gruppe, die sich zum palästinensischen Wider-
40 Diese Worte können im Rahmen einer kalten Analyse dessen gesagt werden, was zu der Zeit des stand zählt, selbstkritisch mit ihrer eigenen Geschichte und Rolle im Verhältnis zu Israel und dem
Golf-Krieges tatsächlich passiert ist. Sie werden nicht im Lichte dessen geprochen, was in der palästinensischen Befreiungskampf auseinander. Darin wird eingeräumt, daß während einer Ent-
damaligen Situation mit ihren ganzen Unklarheiten von den ihr unmittelbar ausgesetzten Men- führung einer israelischen Passagiermaschine im Jahre 1976 von deutschen RZ-Mitgliedern eine
schen erhofft oder befürchtet werden mußte. Wie würde man wohl selber als Mensch jüdischen »Selektion entlang völkischer Linien« stattfand, bei der ausschließlich Juden als Geiseln festgehal-
Glaubens reagieren, wenn man knapp 50 Jahre nach den deutschen Vernichtungslagern durch die ten worden waren. Siehe hierzu auch KONKRET Nr.2/1992.
nach Halabja außerordentlich realistische Drohung des Faschisten Saddam Hussein ausgrechnet 45 Zitiert aus KONKRET Nr. 4/1991
durch Giftgas ermordet zu werden von der eigenen traumatischen Geschichte eingeholt wird ?
46 Die Beschreibung des Zionismus als eine geschichtspessimistische Katastrophentheorie wurde
41 Siehe hierzu wiederum das Editorial des »Diskus«, Nr.1. Februar 91. Man könnte noch sehr viel einem Aufsatz von Dan Diner: »Israel und das Trauma der Massenvernichtung« aus dem Buch:
mehr Worte zu den Gründen des Kehrtschwenks dieser deutsch gewordenen Intelligenzia verlie- »Die Verlängerung von Geschichte - Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt«, Hg. Dietrich
ren, die sich in den Stichworten Individualisierung, Perspektivlosigkeit und geschäftstüchtiger Wetzel, Frankfurt 1983, entnommen.
Korruption andeuten. Aber diese Bemerkungen könnten nur den Ärger eines - in diesem Fall
47 In Italien erinnerte ein hoher FIAT-Manager, angesichts der noch zu erwartenden Krisen an das
manchmal - zu viel Müll lesenden Schreibtisch-Autonomen illustrieren, anstatt die letztlich nur
ihm relativ erfolgreich erscheinende Verfassungsmodell eines faschistischen Sozialpaktes aus dem
relative Bedeutung dieser intellektuellen Blödmänner auf den tatsächlichenn sozialen Prozeß zu
Italien zu Beginn der 30er Jahre. In diesem Zusammenhang ist auch die jüngste Sozialenzyklika
erfassen. Und darüber sollte nicht vergessen werden, daß eine Bewegung niemals an ›Sünden-
des Papstes zu interpretieren, die weitgehend als Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus
böcken‹ scheitert.
mißverstanden worden ist, und gleichfalls auf einen faschistischen Sozialpakt abzielt.
42 Im Jahre 1986 wurde von Henryk Broder das Buch: »Der ewige Antisemit« publiziert. Dort las-
48 Aus TAZ vom 2.1.1992
sen sich alle wesentlichen - teilweise geschickt entfalteten - Argumentationsfiguren von Antise-
mitismusvorwürfen finden, die fünf Jahre später auch gegen die Anti-Golf-Kriegs-Bewegung 49 Zitiert aus »Wildcat Nr. 57 Oktober/November 1991
eine Rolle gespielt haben. Dabei fällt Broders Zynismus, als militanter Vertreter der israelischen 50 Allerdings besitzen die Bilder von Hoyerswerda auch eine nicht zu unterschätzende Ablenkungs-
Staatsräson, auf die Affirmation zynischer Verhältnisse selbst zurück. und Entlastungsfunktion insbesondere für die vermeintlich aufgeklärtere westdeutsche Öffent-
43 In dem von Wolfgang Schneider herausgegebenen Buch: »Vernichtungspolitik«, Hamburg 1991 lichkeit. Während große soziale Protestdemonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und die Verö-
findet sich, angelehnt an die in mehreren Beiträgen von Susanne Heim und Götz Aly entwickel- dung ganzer Regionen (wie z.B. mehrstündige Autobahnblockaden durch Betriebsbelegschaf-
te These einer mutmaßlichen Rationalität der Konzentrationslager im Rahmen einer kalkulierten ten), so gut wie kein überregionales Medienecho finden, ja geradezu gezielt in einem Medien-
rassistischen NS-Bevölkerungspolitik, eine kontroverse Debatte über den Zusammenhang von Vakuum versenkt werden, bedeutet der mit Hilfe der Bilder von Hoyerswerda ausgestreckte
Sozialpolitik und Genozid im faschistischen Deutschland. Abgesehen davon, daß Heim/Aly das westliche Zeigefinger auf die vermeintlich »rassistischen Ostdeutschen« nichts anderes als vier
Verdienst gebührt, den Blick auf die bislang unbeachtete, jedoch bedeutende Rolle der planen- Finger auf die alte BRD zurückzuzeigen, wo sich die bei weitem größere Zahl von rassistischen
den Intelligenz bei der Massenvernichtung in Polen und Osteuropa gelenkt zu haben, erscheint Anschlägen und Attacken gegen ausländische Menschen ereignet hat.
es mir trotzdem fraglich zu sein,ob sich Auschwitz tätsächlich in einem Konzept der »Ökonomie 51 Kohl steht mit dieser Einschätzung nicht alleine. Das zeigt eine Bemerkung eines für die Organi-
der Endlösung« rechnen, d.h. verstehen läßt. Leider haben es Heim/Aly in einer erwidernden sation der Großdemonstration gegen Ausländerfeindlichkeit am 9. November verantwortlichen
Stellungnahme an ihre Kritiker versäumt, sich mit den Auffassungen Reemtsmas auseinanderzu- Polittechnologen der Grünen Partei. Dieser wußte die bundesweit eher kümmerliche Mobilisie-
setzen, der in Anlehnung an Hannah Arendt letztlich von einer »vollendeten Sinnlosigkeit« d.h. rung von gerade mal etwas über 100 000 Menschen als Beweis dafür zu nehmen, daß es in
von einer prinzipiellen Unverstehbarkeit und Irrationalität der nazistischen Vernichtungslager Deutschland einen »gesellschaftlichen Konsens gegen die Ausländerfeindlichkeit« gäbe. Zitiert aus
ausgeht. TAZ vom 11.11.91
44 Von der Freiburger Gruppe ›Initiative Sozialistisches Forum‹ (ISF) wird in dem 1990 erschiene- 52 In diesem Sinne kann eine von Autonomen vertretene Antifa-Analyse meines Erachtens nicht
nen Buch »Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution« eine große Akribie darauf mehr hinter die »Doitschstunde«-Bemerkungen der Frankfurter LUPUS-Gruppe zurückfallen.
verwendet, der Neuen Linken in der BRD Antisemitismus als konstitutive Haltung zu unterstel- Ihrer Kritik an den Schwächen des bisherigen autonomen Antifa-Verständnisses im Kampf gegen
len. Dabei ist die Fülle der von ihnen aus den letzten 25 Jahren ausgegrabenen, zum Teil gruseli- ein »4. Reich« ist vorbehaltlos zuzustimmen.
gen Bemerkungen, angefangen von »Judenknacks« bis hin zu ultimativ an die Adresse jüdischer 53 Wie sehr sich der Linksradikalismus in seinen auf den Faschismus bezogenen ›Analysen‹ zu ver-
Menschen in Israel aufgestellter Forderungen, sich an die arabische Bevölkerungsmehrheit »assi- schätzen wußte, zeigt auch das Negativ-Beispiel der KPD in der Weimarer Republik, die Ende
154 milieren« zu sollen, außerordentlich umfangreich. Es ist keine Frage, daß antisemitische Äuße- der 20er Jahre - d.h. lange vor dem Machtantritt Hitlers - diverse ›Faschismen‹ in ihrer Politik 155
auszumachen wußte - mit dem verheerenden Ergebnis, daß sie schlußendlich den SPD-Sozialfa- 64 Aus dem »Konzept Stadtguerilla«, April 1971
schismus und den Brüning-Faschismus nicht mehr von dem Hitler-Faschismus zu unterscheiden 65 Dies gilt für Autonome genauso, wie es schon immer für die Grüne-Staatsbürger- und Mittel-
wußte. schichts-Partei galt, die mit Hilfe eines ökologischen Katastrophendiskurses zunächst nicht von so
54 Eine ansprechende Kritik an einem derartig in autonomen Kreisen verwendeten unzulänglichen antiquiert erscheinenden »Klassenfragen« oder gar einem »revolutionären Subjekt« sprechen woll-
Faschismusbegriff, findet sich in der Zeitschrift ›Kritik und Krise‹ aus Freiburg, Heft 2/3 1990. te. Etwas mehr als zehn Jahre nach ihrer Gründungsphase ist diese Partei ein politisches Artikula-
55 Dabei ist in dieser Debatte zu berücksichtigen, daß im Verlauf der 80er Jahre ein traditioneller tionsinstrument, bestehend aus einem sozialen Kern von Mitgliedern eines technokratischen
Antifaschismus auch deshalb von der herrschenden politischen Klasse in der BRD integriert wer- Ökologiemangements, von reaktionären Umweltschützern und von genuß- und bereicherungs-
den konnte, weil die Nazis immerhin den Zweiten Weltkrieg verloren haben und es seitdem in süchtigen Kleinbürgern und ›Citoyens‹ geworden. In höchste Regierungsposten aufgerückte
den das System der BRD repräsentierenden Schichten als Grundkonsens angesehen wird, daß grüne Parteipolitiker erklären sich zwischenzeitlich selbst mit Hilfe des staatlichen Gewaltmono-
von deutschem Boden nie wieder ein verlorener Krieg ausgehen soll. pols und Expertenstäben aus Adminstration und Kapital, zum Subjekt politischer Veränderungen.
56 Dieses Zitat sowie die zuvor im Text erfolgten Bemerkungen verdanke ich einem Aufsatz von 66 Der Text »DREI ZU EINS - KLASSENWIDERSPRUCH, RASSISMUS UND SEXISMUS«
Birgit Rommelspacher: »Rechtsextreme als Opfer der Risikogesellschaft - Zur Täterentlastung in wurde in dem Buch »Metropolen(gedanken) & Revolution?« abgedruckt. Dieser Text bemüht
den Sozialwissenschaften« abgedruckt in: 1999 Heft 2/91 sich um eine Verknüpfung von theoretischen Überlegungen und Beschreibungen gesellschaftli-
57 Zitiert aus Konkret Nr. 11 / 1990 cher Praxis anhand einer Diskussion zu einem mit den Fragen des Patriarchats und Rassismus
58 Der Aufsatz von Alex Demirovic: »Vom Vorurteil zum Neo-Rassismus - Das Objekt ›Rassimus‹ durchdrungenen Klassenbegriffs. Er hat mittlerweile eine weite Verbreitung innerhalb der auto-
in Ideologiekritik und Ideologietheorie« findet sich in: »Die Freundliche Zivilgesellschaft«, Berlin nomen Scene erfahren. In der Wildcat-Ausgabe Nr 57/1991 wurde eine sowohl kritische als
– Amsterdam 1992. Es erscheint den theoretischen Problemen des Themas fast angemessen zu auch anregende Entgegnung zu diesem Text unter dem Titel: »Drei zu Eins - Für wen?« verfaßt.
sein, daß dieser Aufsatz schwierig zu lesen ist; gleichwohl ist er zugleich auch sehr anregend. In 67 Diese Fesstellung wurde in der Wildcat-Ausgabe Nr. 44 vom April 1988 mit Blick auf die Stahl-
ihm werden verschiedene Interpretationsvarianten und Erklärungsansätze von »Rassimus« vorge- arebeiter-Auseinandersetzungen in Rheinhausen getroffen.
stellt und zugleich deren Grenzen beleuchtet. 68 In einem Interview im Arbeiterkampf vom 26.6.1989
59 Demirovic a.a.O. 69 Diesen markanten Begriff habe ich aus einem Buch von Georg Füllbert über die Geschichte der
60 Der von Klaus Viehmannn und GenossInnen verfaßte Text: »Drei zu eins - Klassenwiderspruch, KPD und DKP in der BRD geklaut.
Rassismus und Sexismus« findet sich in dem Buch: »Metropolen(gedanken) & Revolution?«, 70 Man lese sich noch einmal daraufhin die entsprechenden Passagen des im Frühjahr ’87 von Lupus
Berlin – Amsterdam 1991 aus Frankfurt verfaßten Papieres: »Autonome Bewegung: Langlauf oder Absturz?« durch.
61 Ein Teil der Probleme ist dem banalen Umstand geschuldet, daß an der Demonstration in Hoy- 71 Es wäre borniert anzunehmen, daß die Frage der ›Jugendlichkeit‹ und Fluktuation in der
erswerda nicht 40 000 Menschen - was immer noch zuwenig gewesen wäre - sondern gerade Geschichte des deutschen Linksradikalismus einzig und allein die heutigen Autonomen betreffen
einmal der zehnte Teil davon teilnahm. Das was sonst für autonome Zusammenhänge an Aus- würde. Bereits die KPD in der Weimarer Republik war hinsichtlich ihrer Zusammensetzung
einandersetzungen mit reformistischen Organisationen zu führen gewesen wäre, erübrigte sich sowohl der ›Basis‹ bis hinauf in ihre mittlere Leitungsebene in einem erheblichen Ausmaß von
mangels deren Anwesenheit an diesem Ort, so daß man ganz auf sich selbst zurückfiel. Gerade ähnlichen Problemen betroffen. Auch wenn die Sozial- und Gesellschaftsstruktur des Deutsch-
Momente einer relativen Isolation bergen jedoch immer auch die Gefahr, sich gegenseitig zu zer- lands Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre unwiderruflich untergegangen ist, und von daher
fleischen. Und das vor allem dann, wenn nicht mehr die Möglichkeit existiert, die eigenen Vergleiche nur mit vielen Einschränkungen und mit großer Vorsicht gemacht werden können,
Widersprüchlichkeiten über das Verhalten von anderen, d.h. fremden Gruppen zu integrieren. so ist es doch in einer historischen Betrachtung des Linksradikalismus immer wieder spannend
So ist es denn auch kein Wunder, wenn in den ab INTERIM Nr. 163 ff. geführten Auseinander- sich die Geschichte der KPD in der Weimarer Republik zu vergegenwärtigen. Die Information
setzungen über den Demoablauf, die in vieler Hinsicht für alle Beteiligten zu erlebenden sehr über die große Fluktuation innerhalb der KPD-Mitgliedschaft wurde aus einem Aufsatz von Her-
bewegenden Momente dieser Demo, wie beispielsweise das demonstrieren auf einem völlig mann Weber: »Zur Politik der KPD 1929-33« aus dem Buch von Manfred Scharrer (Hg.):
unbekannten und zuvor als vollständig als feindselig vermuteten Terrain, so gut wie keine Rolle »Kampflose Kapitulation - Arbeiterbewegung 1933«, Reinbek 1984 entnommen. Darüber hinaus
spielten. Die Begegnung mit der widersprüchlichen Realität in Hoyerswerda u.a. auch durch die ist das Buch von Ossip Flechtheim: »Die KPD in der Weimarer Republik von 1918-33«, Frank-
zuvor nicht vermutete Demoteilnahme und Unterstützung von dort lebenden Menschen, waren furt a. Main, 1969, zu empfehlen.
kaum einer Erwähnung geschweige denn weiterer Überlegungen wert. Die Kritiken entzünde-
72 Deshalb ist auch VAL zuzustimmen, wenn der die autonome Scene als eine Art »Durchgangssta-
ten sich im wesentlichen an den Schwächen innerhalb des Mikrokosmos der Demostrukturen aus
tion« für viele Leute beschreibt.
Kreuzberg und waren in der Regel von einseitigen Schuldzuweisungen an die ein oder andere
Adresse geprägt. 73 Diesmal wird sogar aus dem DUDEN, S. 514 zitiert
62 Vgl. hierzu die beiden Aufsätze aus dem Jahre 1988 in der DKP-Theoriezeitschrift »Marxistische 74 Für die ›Partei›-Diskussion wurde aus dem »Diskussionspapier zur Autonomen-Organisierung«
Blätter«, Ausgabe Nr. 1 unter dem Titel: »Die Autonomen«, sowie der Aufsatz in der außenpoli- von der Autonomen Antifa (M) Göttingen, nachzulesen in der INTERIM Nr. 161 vom 19.9. 1991,
tischen Zeitschrift der DDR ›Horizonte‹ unter dem Titel: »Chaoten, Gewalttäter und Straßen- sowie dem Papier »Soziale Revolution gegen Großdeutschland« aus Rhein-Main zitiert, welches
mob?«. sich in der INTERIM Nr 167 vom 31. 10. 1991 nachlesen läßt.
63 Diese Bemerkungen wurden einem spannenden Aufsatz in der ›Wildcat‹ Nr. 42, Herbst 1987: 75 Das »Hanna Cash«- Papier findet sich in der INTERIM Nr. 138 vom 14. März 1991 abgedruckt.
156 »Thesen zum Häuserkampfzyklus 85/86 und zur ›Stadtteilpolitik‹« entnommen. 76 In diesem Sinne äußerte sich beispielsweise der damalige SPD-Parteivorsitzende Jochen Vogel. 157
77 Siehe hierzu auch das Plädoyer der BAW in dem Prozeß gegen Henning Beer: »Ausführlich lobte 86 In der empfehlenswerten, Frankfurter Studentenzeitung ›Diskus‹ Nr.4 Dezember ›90 findet sich
die Anklage ihren Kronzeugen, der »tiefe Einblicke in die Struktur, Logistik und Willensbildung ein sehr spannender Artikel über eine Ringvorlesung an der Hamburger Universität über die
der RAF« gewährt habe. Befriedigt bezeichnete Kurth (der Vertreter der BAW) die während des Theorie und Praxis des Paragraphen 129a. Er stellt u.a. mehrere Interpretationsvarianten vor und
Prozesses beschriebene »hierachische« Entscheidungsstruktur der RAF als Beweis dafür, daß der beleuchtet dabei zugleich deren Grenzen. Darüber hinaus versucht er diese Überlegungen in die
Anspruch der RAF »selbstbestimmte Lebensform« zu sein, als »verlogen demaskiert« worden sei.« aktuell laufenden Auseinandersetzungen um die Fragen der Solidaritätsarbeit zu bestimmten Pro-
Zitiert nach einem TAZ-Artikel vom 27.6.91 zessen einzubinden. Leider hat dieser Artikel keinen Eingang in das 1991 aus dem gleichen
78 Die Beispiele beziehen sich u.a. auf die Aussagen Henning Beers aus der Zeit der frühen 80er Zusammenhang von einer Redaktionsgruppe unter dem Namen »wüster haufen« veröffentlichte
Jahre, die gegenüber Sieglinde Hoffman und Ingrid Jakobsmeyer, die aktuell »nur« Zeitstrafen Buch »Aufruhr« gefunden, welches sich unter verschiedenen Aspekten um eine umfassende Dar-
abzusitzen haben zu neuen Haftbefehlen führten, sowie auf die von Sigrid Sternebeck im SPIE- stellung der gesamten Problematik bemüht.
GEL Nr 33/1990 verfaßte »Lebensbeichte« und das Fernsehporträt von Werner Lotze 87 Noch 1977 brachten die ML-Gruppen gemeinsam bis zu 20 000 Menschen »unter ihren Parolen«
79 Die Erklärung Helmut Pohls wurde zitiert aus dem ›Arbeiterkampf‹ vom 17. 9. 1990 auf die Straße. Schon 3-5 Jahre später hatten sie sich zum größten Teil aufgelöst, und sich in alle
Winde verstreut. Die noch übriggebliebenen Reste führen seitdem ein, im Vergleich zu den 70er
80 Vielleicht steht die Geschichte des Peter J. Boock beispielhaft für die Praxis der RAF in der zwei- Jahren, kümmerliches, sektiererisches Schattendasein. Wenn man sich manche Autonomen-Flug-
ten Hälfte der 70er Jahre. Während er noch zu dieser Zeit im Gruppenprozeß eine außerordent- blätter Ende der 80er Jahre so durchliest, kommen einem manchmal Assoziationen, daß ihnen
lich aktive und zum Teil dominierende Rolle spielte, stellte er nach seiner Verhaftung 1980 seine eine ähnliche Entwicklung drohen könnte. Da jedoch derartige Flugis glücklicherweise zumeist
Verteidigungslinie ganz auf eine passive Mitläufer- und Opferrolle ab. In diesem Zusammenhang noch nicht einmal von den eigenen Genossen gelesen, geschweige denn diskutiert werden,
konnte er nicht ohne Erfolg die Unterstützung von liberalen Linken im Rahmen einer scheint sich der Schaden bislang noch in Grenzen zu halten ...
»Unschuldskampagne« funktionalisieren. Mittlerweile ist nach einer Reihe von Aussagen von Ex-
88 Für eine Diskussion über zu erwartende, weltweite Entwicklungstendenzen der kapitalistischen
RAF-MitgliederInnen aus der DDR mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß er
»One World« sei auf die beiden Bücher von Georg Füllberth: »Sieben Anstrengungen den vor-
über zehn Jahre lang diejenigen UnterstützerInnen angeschmiert und belogen hat, denen er
läufigen Endsieg des Kapitalismus zu begreifen«, Hamburg 1991 und Robert Kurz: »Der Kollaps
zuvor seine »Unschuld« versichert hat. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall wäre die selbstkritische
der Modernisierung - Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökono-
Aufarbeitung dessen, was in den 70er Jahren die kollektive Gruppenpraxis der RAF unter
mie«, Frankfurt 1991, hingewiesen. Während ersterer zu mechanistisch argumentiert, schlägt
bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen gewesen ist, durch diejenigen GenossInnen die wei-
letzterer mit der Big-Bum Krisenprognose gleich das Faß mit dem Boden aus. Daß sie also beide
ter auf einer Sytemgegnerschaft beharren, für diejenigen in Zukunft wichtig, die auch aus diesen
nicht Recht haben, ändert aber nichts daran, daß sie einen spannenden weiten Blick über die
Erfahrungen lernen müssen um sich weiter gegen die Verhältnisse bewegen zu können.
Gründe des Scheiterns des realen Sozialismus und daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen gewagt
81 Siehe hierzu auch den Beitrag : »Die TAZ lügt und wir müssen dran glauben« im ›Schwarzen haben.
Faden‹ Nr.3/1990
82 Zitiert aus einem Bericht des Tagesspiegel vom 18.11.90
83 In den zwischenzeitlich erfolgten RAF-Kronzeugenverfahren wurde schon mal der Vorwurf der
Beteiligung an den im Jahre 1977 auf die BAW versuchten Raketenwerferanschlag beteiligt
gewesen zu sein, als »unwesentliche Nebenstrafttat« eingestellt. Der Strafrahmen in den Verurtei-
lungen bewegte sich zwischen 6 bis 12 Jahren, von denen die Kronzeugen allenfalls die Hälfte im
Knast zu freundlichen Bedingungen abzusitzen haben. Und da sag‹ noch einer, daß sich juristisch
als Mord verurteilte Taten bei einer Kronzeugenregelung nicht rechnen würden...
84 Vgl. hierzu den entsprechenden Bericht der TAZ vom 20.11.90 über eine Veranstaltung der Ver-
einigung Berliner Rechtsanwälte mit Generalbundesanwalt Stahl. Dort ist auch die Information
zu entnehmen, daß seit der diesbezüglichen Anderung des § 129 a im Jahre 1976 damit bislang
4380 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sind.
85 So wurden im Jahre 1988 in Stammheim drei GenossInnen aus der Düsseldorfer Kiefernstraße
hauptsächlich auf Grundlage eines sogenannten Schriftgutachtens des Hamburger ›Sachverständi-
gen‹ Ockelmann rechtskräftig verurteilt, der zwischenzeitlich selbst von seinen eigenen Stan-
deskollegen und auch von BKA-Gutachtern als wissenschaftlich unfähig qualifiziert wird. Ein
Grund für diese hanebüchenen Verurteilungen könnte auch in der von den Angeklagten zum
Zeitpunkt ihres Strafprozesses verfolgten Prozeßstrategie gelegen haben, die es ihnen verunmög-
licht hat sich auch als Opfer perfider und juristisch völlig unhaltbarer Konstruktionen öffentlich
zum Ausdruck zu bringen. Die politischen Manifestationen der Angeklagten wurden jedenfalls
von der Staatsschutzjustiz dankbar als ›weitere Indizien‹ zur Begründung einer Verurteilung auf-
158 gegriffen. 159
Die Autonomen machen keine
Fehler – sie sind der Fehler!
160 161
Heinz Schenk IV.
So bleibt immer wieder das Warten auf äußere Ereignisse – auf Großprojekte,
Wir sind doch kein Kampagnenheinz! Treffen von politischen Gegnern, angreifenden Faschos, Häuserräumungen.
Eigentlich müßten wir unseren jeweiligen Gegner doch mal zum Essen einladen
oder ihm zu Ehren eine Kiezdisco geben: wie langweilig wäre der Herbst 88
ohne IWF gewesen, wie langweilig München ohne WWG 92 und wie langwei-
lig ist das Leben in manchen besetzten Häusern ohne den Überfall der Bullen.
I. Wo im Grunde alle erleichtert sind über den Anlaß zum Demonstrieren,
Die Geschichte der autonomen Bewegung ist die von Kampagnen. Auch wir obwohl sie sich nach außen darüber beschweren, wird es schizophren. Beschäfti-
haben dabei gehofft, aus Ein-Punkt-Bewegungen zur kontinuierlichen Politik gungstherapie ist aber keine politische Perspektive.
kommen zu können. Trotzdem wir dieses Konzept seit der Anti-AKW-Bewe-
gung 86 für gescheitert erachteten, haben wir uns dann zähneknirschend mangels V.
Alternative z.B. an IWF- und Shell-Kampagne beteiligt, obwohl wir deren baldi- Wo sowohl Anlaß als auch Form (möglichst militant auf allen Ebenen) der Poli-
gen Absturz vorausahnten. Wir hielten eine ungenügende Praxis für besser als gar tik feststehen, entsteht notwendigerweise ein instrumentelles Verhältnis zur
keine. Theorie. Theorie dient nur noch der Absegnung der zuvor schon beschlossenen
Mit diesem Beitrag nehmen wir erstmals gegen die neuesten Kampagnen Praxis. Dies führt zu einem reduzierten Theorieverständnis: Theorie ist nicht
Stellung. Wenn wir Beispiele anführen, dann vor allem die Anti-Olympia-Kam- mehr das Beschreiben gesellschaftlicher Verhältnisse und daraus folgender Inter-
pagne, sinngemäß trifft unsere Kritik aber auch z.B. auf die WWG- und Flücht- ventionsmöglichkeiten, sondern bloße Beschreibung der Machenschaften des
lingskampagne zu. Feindes. Sogar bloßes Faktenaufzählen wird noch als Theorie bezeichnet. Konse-
Dabei haben wir nichts Grundsätzliches gegen eine Olympia-, Flüchtlings- quenterweise setzt sich denn auch der selbstentlarvende begriff »Inhalt« durch: das
oder WWG-Kampagne einzuwenden, sie müßten aber Resultat strategischer Gefäß ist bereits gegeben, es muß nur noch mit Inhalten gefüllt werden. Worin
Diskussionen sein und nicht deren Ersatz. diese bestehen ist letztlich beliebig, nur die Form nicht.
Wir glauben, daß auch genau mit diesem falschen Verhältnis von Theorie und
II. Praxis unsere berühmt-berüchtigten Schweige-VVs zusammenhängen. Wer die
Eine politische Bewegung muß sich eine gesamtgesellschaftliche Analytik erar- Praxis schon beschlossen hat, also nicht mehr strategisch diskutieren kann, dem
beiten – und dazu in permanentem öffentlichen Austausch (soweit es die Repres- bleiben nur noch die technischen Details: die beliebten Diskussionen Spalier ja-
sion erlaubt) sowohl untereinander als auch mit anderen gesellschaftlichen Grup- nein, Vermummung ja-nein etc.
pen stehen. Aus dieser Analyse heraus muß sie den jeweiligen Bedingungen
gemäß die Mittel bestimmen und Schwerpunkte festlegen. VI.
Wir lehnen die Kampagnen aus mehreren Gründen ab: aus politischen und per-
III. sönlichen. Unsere persönlichen Gründe sind aber verallgemeinerbar und damit
Die autonome Praxis sieht bekanntermaßen anders aus. Eine gesamtgesellschaftli- ebenso politisch.
che Analyse findet im großen und ganzen weder untereinander noch im Aus- Aus gemachten Erfahrungen nicht lernen zu können, gemachte Fehler immer
tausch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, weder öffentlich noch unter der wieder machen zu müssen, weil schlicht kein Forum besteht, um Erfahrungen
Hand statt – allenfalls noch im eigenen Kleingrüppchen, die für sich genommen jenseits von Manöverkritik diskutieren zu können, nicht mehr über das Ob, son-
aber kaum politisch handlungsfähig sind geschweige denn gesellschaftliche Rele- dern nur noch das Wie einer Kampagne diskutieren zu können: das ist ein- oder
vanz erlangen können. zweimal persönlich zumutbar. Danach helfen auch die Schilderungen des Feindes
162 in den wildesten Farben nicht mehr. 163
Zudem ist diese Politik vollkommen ungeeignet, das gesellschaftliche Objekt- Punkt übergegangen. (Registriert werden lediglich militärische Erfolge wie 1.
verhältnis der einzelnen aufzuheben; im Gegenteil, sie verstärkt sie noch: da die Mai 87, 89; diese werden zu Mythen). Eine solche Politik, die nie Fortschritte
Politik nicht aus selbstbestimmten Ansatzpunkten entwickelt wird, sondern sich verzeichnen kann, muß zur Demoralisierung oder schlimmeren psychischen
lediglich der Strategie des Feindes entgegengestemmt wird, werden wir selbst in Störungen führen. Das Bild von der Allmacht des Feindes wird so bestärkt. Eine
unserer Politik noch Opfer ihrer Pläne und zeitlichen Vorgaben. Auch ein Fisch, politische Theorie, die den Feind nur im Moment dessen Angriffs wahrnimmt,
der an der Angel zappelt und sich wehrt, ist Objekt des Anglers. kann nur ein unvollständiges Bild der Gesellschaft liefern. Da die militante Linke
Auch sind wir nicht mehr bereit, politische Fehler durch subjektiv erhöhten dieses Bild aber für vollständig hält, wird es falsch. Die These der Faschisierung
Einsatz auszugleichen. Wenn es politisch nicht erwünscht wird, wie jetzt vom hat hier ihren Ursprung, und diese wiederum legitimiert im Nachhinein die stän-
autonomen Teil der Anti-Olympia-Kampagne, intensive Öffentlichkeitsarbeit zu dige Konspirativität und führt damit zur weiteren Abschottung von der Realität.
betreiben, so daß wirklich Zehntausende auf den Beinen sind, gehen wir nicht Ebenso legitimiert sie die Unterschätzung jeder anderen Aktionsform als der des
trotz Bauchschmerzen zur Demo, nur damit es nicht so kläglich aussieht. Das direkten Angriffs. So werden ganze Themenbereiche, in denen erstmal kaum die
führt nur zur Bestätigung der These, daß es ausreiche, in der Szene zu mobilisie- Aussicht auf direkte Aktionen besteht, den ReformistInnen überlassen (z.B.
ren. Gesundheit, Arbeits-, Schul- und Unikämpfe). Folge davon wiederum ist eine
Politisch scheint uns die Praxis mittlerweile nicht mehr nur unzureichend, Politik an den eigenen Bedürfnissen vorbei, da nicht dort angesetzt wird, sondern
sondern falsch bis kontraproduktiv. Als unzureichend würden wir beispielsweise an den Punkten, an denen gerade ein militanter Angriff möglich erscheint. Unter
eine radikale Praxis bezeichnen, die sich lediglich auf einen Teilbereich (Interna- anderem damit ist auch das geringe Interesse an Erfolgen in den laufenden Kam-
tionalismus, Knast etc.) erstreckt, aber nicht oder kaum an einem gesamtrevolu- pagnen zu erklären.
tionären Projekt arbeitet. Hier sagen auch wir: lieber eine solche Praxis als gar
keine. VIII.
Eine Politik aber mit gesamtrevolutionärem Anspruch, die statt strategischer Zudem ist die autonome Kampagnenpolitik eine des faktischen Reformismus.
Diskussionen krampfhafte Suche nach Anlässen betreibt, die im Wunschdenken Seit dem letzten Höhepunkt der Anti-AKW-Bewegung war es nicht zu über-
befangen ist und damit Illusionen produziert (»vielleicht klappt bei dieser Kampa- sehen: das autonome Konzept, in Teilbereichsbewegungen durch militantes Ein-
gne ja doch der Sprung zur Kontinuität«), die nicht zur Aneignung politischer greifen zu intervenieren, sie vom riot zur Revolution und vom Ein-Punkt-Auf-
Begrifflichkeiten, sondern zur politischen Unfähigkeit führt, kann langfristig nur stand zum Aufstand gegen das ganze »System« zu führen, war gescheitert. Statt-
nach hinten losgehen, selbst wenn z.B. Olympia gekippt werden kann. Wir stel- dessen waren die Autonomen zum bewaffneten Arm der Grünen geworden.
len denn auch eine schädliche Dauerwirkung von Kampagnenpolitik fest: Es Während die Autonomen trotz oder gerade wegen (denn dann fiel der Anlaß
bleibt zwar eine Ahnung von der eigenen Hilflosigkeit, aber es fehlt jegliches weg, das Bewegungloch trat ein) der auch durch ihren Einsatz erkämpften Tei-
Instrumentarium, diese zu erklären oder sich Politik überhaupt anders vorstellen lerfolge aus den Kämpfen desolater hervorkamen als sie in diese hineingegangen
zu können. »Wir machen jetzt mal eine Kampagne; wir wissen zwar, daß dies waren, kletterten die Grünen in den Prozentpunkten nach oben und wurden von
nicht das optimale ist, aber uns fällt nichts anderes ein« ist eine politische Bank- der Ein-Punkt-Partei zur gesamtgesellschaftlich handelnden Kraft. Die Autono-
rotterklärung. men sorgten für Schlagzeilen, für politischen Druck, während die Grünen poli-
tisch konkrete Konzepte vorzuweisen hatten und es verstanden, die an den
VII. Kämpfen Beteiligten in längerfristige politische Arbeit einzubinden.
Wer den Feind nur in dessen Offensiven beachtet und angreift, programmiert die Historisch betrachtet ist dies ja keine neue Konstellation: Immer wieder hat es
Niederlage vor. Das Ansetzen am stärksten Punkt führt nur höchst selten zu Massenbewegungen gegeben, die von Führern/anderen gesellschaftlichen Kräf-
Erfolgen. Selbst wo diese erzielt wurden, stellen wir ein merkwürdiges Desinter- ten für deren Ziele benutzt wurden. Dies war Folge davon, daß die Massenbewe-
esse an ihnen fest. Da der Feind ja immer irgendwo in der Offensive ist, wird der gungen aufgrund ihrer Klassenlage keine eigenen politischen Konzepte ent-
164 Erfolg kaum registriert geschweige denn genutzt, sondern sofort zum nächsten wickeln konnten. Neu ist bloß, daß die Autonomen diese immer wieder aus der 165
Not geborene Situation als politisches Rezept zu verkaufen versuchen und somit sive Bündnispolitik bis 86, existiert jetzt überhaupt keine Linie mehr: jede Grup-
freiwillig die Masse stellen, auf deren Rücken Geschichte gemacht wird. Und pe betreibt Bündnispolitik nach ihrem eigenen Gutdünken und mit einer gewis-
dies, obwohl sie aufgrund ihrer materiellen Situation durchaus in der Lage gewe- sen Beliebigkeit. Das Ergebnis der Olympia-Kampagne wird sein: Die AL wird
sen wären, eigene Konzepte zu entwerfen. gestärkt aus der Konfrontation hervorgehen, die sie braucht, um ihren zwangs-
Was sind in den Jahren nach 86 nicht für Verrenkungen unternommen wor- läufigen Image- und Profilverlust durch die Koalition wieder wettzumachen. Die
den, um den Ruf des de-facto-Reformismus-trotz-revolutionärer-Verpackung Autonomen werden am Ende wieder ratlos auf den nächsten Anlaß zu militan-
zu entfliehen: tem Vorgehen warten, allenfalls werden sie die personellen Verluste ausgeglichen
– der Themenbereich »Ökologie« wurde aufgegeben, da die ReformistInnen haben, die sie ihre Politik immer wieder kostet. D.h. die AL geht auf jeden Fall
hier am durchorganisiertesten waren; politisch gestärkt aus der Kampagne hervor, die Autonomen nicht einmal dann,
– andere Themenbereiche wurden verstärkt aufgegriffen: Flüchtlinge, wenn sie ihr unmittelbares politisches Ziel, die Olympia-Verhinderung, durch-
Umstrukturierung etc., da man/frau hoffte, daß die ReformistInnen hier nicht setzen sollten.
das Feld besetzen könnten;
– Abgrenzungswut gegenüber einzelnen Analysen der ReformistInnen und IX.
Entgegenhalten vermeintlich radikalerer, weil den Feind für schlimmer erklären- Die kurzatmige Kampagnenpolitik ist Folge der Weigerung, die Organisationsde-
der Thesen. So halten wir die ökonomistisch-machtstrategisch analysierende batte zu führen. »In ihrer Plan- und deswegen Perspektivlosigkeit verstellt uns die
Golfkriegsparole »Kein Blut für Öl« für realistischer als den Versuch, den Golf- ›Szene‹ als Organisationsform das Gefühl des Vorankommens (es sei denn, die
krieg als »Vernichtungskrieg gegen die arabische Bevölkerung« zu interpretieren. Bewegungsdynamik verschafft uns dieses Gefühl auch ohne unser Zutun). Meine
Der Versuch, sich von den ReformistInnen statt in der gesellschaftlichen Per- These ist deswegen, daß es gerade in Bewegungstiefs gerade für uns Revolutionä-
spektive in der Analyse einzelner Planungen des Feindes abzugrenzen, führte zur rInnen notwendig ist, über so ein abstraktes Thema wie die Organisationsfrage zu
Verschwörungstheorie, die sich durch nichts belegen ließ: reden, weil wir anders kaum mehr als nur uns selbst wahrnehmen können und
– die Ablehnung, überhaupt noch konkrete Forderungen zu stellen (»Wir keine gesellschaftliche Relevanz erlangen werden« (Thesen zum Kulturbegriff«,
sind einfach nur da«) INTERIM 155/1).
– das Ablehnen jeglicher Bündnisse mit ReformistInnen bzw. mit allen, die Auch dem Reformismus-Problem ist nicht anders beizukommen. Eine revo-
nicht zur militanten Linken gehören. lutionäre Bewegung kann sich nicht in der Form von Bürgerinitiativen (zumal
Das Ergebnis ist gleich null. meist klandestinen) organisieren, oder sie wird deren Ergebnisse erzielen: einzel-
Entweder man übte sich in praktischem Existenzialismus und konnte jenseits ne Projekte zu verhindern, um damit den gesellschaftlichen Normalzustand zu
des unmittelbaren Angriffsziels einer Randale kein politisches Ziel mehr benen- sichern und zu festigen.
nen (s. 1. Mai), was letzten Endes den Verlust der politischen Ebene überhaupt Die politische Seismographenfunktion, die die Protestbewegungen für das
bedeutet. Oder man/frau mußte die Erfahrung machen, daß Reformismus keine System der BRD mittlerweile haben, haben auch die Autonomen. Ebenso wie
Frage des Themas ist und jedes Thema letzten Endes reformistisch zu besetzen ist. diese zeigen sie gesellschaftliche Konflikte frühzeitig an, erlauben somit eine
Folge war dann doch wieder die alte Arbeitsteilung, wie sie schon jetzt in der rechtzeitige Korrektur der herrschenden Linie, ohne den Konflikt bzw. das ent-
Olympia-Kampagne präsent ist: die Autonomen machen den Putz auf der Straße standene Konfliktpotential organisatorisch weiter anbinden zu können. Wenn
und allenfalls noch eine Veranstaltung im »Ex« für die, die eh schon Bescheid sich reformistische Konzepte durchsetzen ist dies meistens auch eine Folge politi-
wissen, die AL/Bund Naturschutz etc. machen öffentliche Diskussionen, Presse- scher Schwäche und Unfähigkeit der revolutionären Linken. Es ist keine Lösung,
arbeit usw. und interpretieren damit auch die Aktionen der Autonomen gegenü- keine konkreten Forderungen mehr aufzustellen. Das ist Luxus für diejenigen, die
ber der Presse (»Polizei wollte Ausschreitungen herbeireden«). Erfolge wie das Erkämpfen von weniger Miete, kein Olympia, Bleiberecht für
Nachdem die ausdrückliche Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit Flüchtlinge nicht notwendig haben. Entscheidend ist, wer aus konkreten Kämp-
166 ReformistInnen in der IWF-Kampagne 88 ebenso gescheitert war wie die inten- fen gestärkt hervorgeht. Dies kann jegliche politische Formation nur, wenn sie 167
gesamtgesellschaftliche Konzepte vorlegen kann, wenn sie in den Kämpfen betei- Heinz Schenk
ligte Menschen für längerfristige Arbeit gewinnen kann.
Die Kampagne wird trotz unserer Kritik stattfinden. Das ist der Konservatis-
Die Autonomen machen keine Fehler, sie
mus der Linken: in schlechten Zeiten, in denen sich um uns herum alles verän- sind der Fehler!!!
dert, sich umso verzweifelter an das Alte zu klammern. Mindestens langfristig
wird dies zum Scheitern verurteilt sein. Eine Gruppe, die sich den historischen
Veränderungen nicht stellt, wird, wenn überhaupt, nur als Sekte ohne politische
Relevanz weiterexistieren.
»Mit dieser Reihe von Phänomenen ist eine der wichtigsten, die politische Partei betref- »Denn für die, sagt er, die keine Kraft mehr haben, gibt es bei uns keinen Platz und das
fenden Fragen verknüpft; nämlich, ob die Partei fähig ist, gegen die Macht der Gewohnheit weiß auch jeder. Denn die, sagt er leise, ... die neu zu uns hinzukommen, meinen, sie
und gegen die Tendenz zu reagieren, zu mumifizieren und anachronistisch zu werden. Die seien die Größten. Und die, die keine Kraft mehr haben, verschwinden still und heimlich
Parteien entstehen und konstituieren sich zu Organisationen, um die Situation in und werden nicht mehr gesehen.«
geschichtlich lebenswichtigen Momenten für ihre Klassen zu meistern; aber nicht immer ver- (Michael Wildenhain: Die kalte Haut der Stadt)
stehen sie sich, den neuen Aufgaben und den neuen Epochen anzupassen, nicht immer ver-
stehen sie sich zu entwickeln gemäß den komplexen Kräfteverhältnissen (und den entspre- »Die Verbindung mit denen, die vor uns am Werk gewesen waren, war immer gleichbe-
chenden Positionen ihrer Klassen) in einem bestimmten Land oder auf internationaler deutend mit einer Eröffnung des Wegs ins Zukünftige. In diesem Sinn sind wir Traditio-
Ebene. In der Analyse dieser Entwicklung der Parteien muß man unterscheiden: die gesell- nalisten, sagte Katz. An nichts Kommendes können wir glauben, wenn wir Vergangnes
schaftliche Klasse; die Masse der Partei; die Bürokratie und den Generalstab der Partei. nicht zu würdigen wissen.«
Die Bürokratie ist die gefährlichste gewohnheitsmäßig konservative Macht; wenn sie (Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands)
schließlich ein solidarisches, für sich bestehendes, sich unabhängig von der Masse fühlendes
Korps bildet, wird die Partei anachronistisch und in den Augenblicken akuter Krise wird sie Pünktlich zum Ende des autonomen Sommerlochs nehmen die Überfälle auf
ihren gesellschaftlichen Inhalts entleert und bleibt in der Luft schweben.« AusländerInnen an Quantität und Qualität (offene Unterstützung in Hoyerswer-
(Antonio Gramsci) da) zu. Gleichzeitig wird auf der Ebene der offiziellen Politik über eine Verschär-
fung des Asylrechts debattiert und die Angriffe auf AusländerInnen werden als
Anlaß genutzt, diese Verschärfung durchzusetzen.
Die Autonomen, die bisher noch immer einen ungefüllten Terminkalender
für den Herbst hatten, reagieren wie immer bei aktuellen Anlässen wie ein aufge-
scheuchter Hühnerhaufen. Hektisch wird versucht, all das wettzumachen, was
die Monate vorher unterblieb: Kontakte zu Flüchtlingen werden geknüpft, Ver-
stecke für diese organisiert, Demos durchgeführt, einem Busunternehmen, das
die Flüchtlinge in die Ex-DDR gegen deren Willen verfrachtet hat, mehrere
Busse abgefackelt.
Politisch langfristige Konzepte werden kaum diskutiert. Stattdessen verschär-
fen sich die Konflikte zwischen der »aktionistischen« und der »politischen« Frak-
tion. (Dabei widersprechen diejenigen, die sich bei jedem Anlaß Scharmützel mit
den Bullen liefern, nicht autonomer Theorie, sondern sind deren konsequenter
Ausdruck: Wenn sowieso keine bewußte Planung möglich ist, taktische Zurück-
168 haltung an einem Punkt nicht mit der langfristigen Einbindung von mehr Men- 169
schen in unsere Arbeit wettgemacht werden kann und auf der anderen Seite die Dabei entspricht die Schärfe des Artikels weniger dem Anspruch, die Wahr-
Aktionen bei jedem Anlaß auch nicht schaden – denn auch die größten Kritike- heit gefressen zu haben, als der Tatsache, persönlich einfach nicht mehr so wei-
rInnen kommen mangels Alternative wieder zur nächsten Demo – warum soll terarbeiten zu können. Ich habe in den letzten 6-7 Jahren irgendwo zwischen 10
dann nicht jede noch so zufällig günstige Situation für militante Aktionen genutzt und 20 Gruppen und ebensoviele Kampagnen durchlaufen. Ca. 2/3 der Leute,
werden?) mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben sich ins Privatleben zurückgezo-
Was wir damit sagen wollen: die Flüchtlingsarbeit unterscheidet sich in keiner gen, einer ist vorübergehend in der Psychiatrie gelandet, einige im Suff geendet,
Weise von den anderen Kampagnen der Autonomen (wie die »INTERIM« in einer hängt an der Nadel und einer hat Selbstmord begangen. Daran sind mit
ihrem Vorwort zu unserem »Kampagnenheinz« gemeint hat), im Gegenteil, in Sicherheit nicht nur objektive Bedingungen oder subjektives Unvermögen
gewisser Weise kulminiert hier eine falsche Politik (dazu später mehr). Wir wol- schuld; die autonomen Strukturen haben diese Formen der Resignation und Ver-
len keineswegs einzelne Kampagnen kritisieren, sondern die grundsätzliche zweiflung hervorgerufen oder zumindest begünstigt.
Arbeitsweise (seltsamerweise haben uns diejenigen, mit denen wir über unseren Ich selbst habe das Gefühl von Stagnation, leide zunehmend mehr unter den
Artikel gesprochen haben, weitgehend rechtgegeben, aber die Kampagne, in der inneren Verhältnissen der Autonomen als unter den gesellschaftlichen Bedingun-
sie selbst gerade mehr oder weniger zufällig stecken, davon ausgenommen). gen (das ist vielleicht auch ein Privileg von weißen männlichen Mitteleuropäern).
Unsere Papiere sind eine Art Austrittserklärung aus den Autonomen. In der Arbeit ist nicht zu spüren, wofür wir kämpfen und die Tatsache, nie ein-
mal grundsätzlich seine Fragen einbringen zu können, sondern sich immer nur
Persönliche Erklärung des halben Heinz Schenk: aufs Neue in Kampagnen hineinstürzen zu können, nervt.
Ich habe seit 6-7 Jahren Politik in autonomen »Zusammenhängen« gemacht. Die Zudem macht die autonome Geschichtslosigkeit vieles schwierig. Da das
ersten beiden Jahre waren dabei typische »Jungsponti«-Jahre (chaotische Lebens- Wissen um Geschichte nicht als grundsätzliche Voraussetzung für Politik begrif-
weise, Tendenz zur Selbstmarginalisierung, Aktionismus). Danach war aufgrund fen wird, existiert keine Art »kollektives Gedächtnis«, alle fangen immer wieder
mangelnder persönlicher Perspektiven, die aus der chaotischen Lebensweise am Nullpunkt an. Das Einbringen von Erfahrungen muß so als Arroganz verstan-
resultierten, und häufigen Festnahmen aufgrund des Aktionismus meine Politik den werden. Es ist nicht mal zu schaffen, die Aktionismus-Erfahrungen weiterzu-
zum ersten Mal in eine Krise geraten. vermitteln, was eine praktische Zusammenarbeit mit jüngeren GenossInnen fast
In der Aufarbeitung hat mir dann das Frankfurter Lupus-Papier zu den Liber- immer unmöglich macht. Offenbar ist es so, daß alle individuell die Erfahrung
tären Tagen 87 geholfen, die Kritik auf den Punkt zu bringen. Ich habe in den machen müssen, daß schlecht vorbereitete Aktionen in neun von zehn Fällen
Projekten und Kampagnen, in denen ich seit 87 drin war, versucht, diese Kritik zwar gut gehen, in einem aber daneben und daß sich häufende Festnahmen zur
umzusetzen, d.h.: Kontinuität herzustellen, militante und andere Aktionen sowie Krise und bei vielen zum individuellen Ausstieg aus politischer Arbeit überhaupt
Theorie und Praxis ins richtige Verhältnis zu setzen, Mythen abzubauen, aus dem führen. Es ist unmöglich gewesen, auch nur einen einzigen Genossen vom
Ghetto herauszukommen. Aktionismus abzuhalten, das haben mit schöner Regelmäßigkeit dann erst die
Diese damalige Kritik wurde und wird von einem Großteil der Autonomen Bullen geschafft.
geteilt. Trotzdem hat sich seit 87 bis in die scheinbaren Kleinigkeiten (z.B. Uni- Von der Weitervermittlung theoretischer Erfahrungen ganz zu schweigen.
formzwang) nichts, aber auch gar nichts geändert. Wenn eine politische Struktur Ich weiß zunehmend auch nicht mehr, warum ich überhaupt noch theoretische
sich über Jahre hinweg gegen jede Veränderung als resistent erweist, ist sie offen- Texte lese, wenn diese auf die Praxis nicht anwendbar sind.
bar nicht reformierbar. Sie muß auf falschen Grundtheoremen basieren, die jede Kurz: Würde ich so weitermachen, fürchte ich schon sagen zu können, was
Änderung verhindern. Jede immanente Kritik, die also nur die Symptome kriti- ich in den Jahren 1999 und 2000 mache: in denselben ghettoisierten Strukturen
siert, fördert das Weiterbestehen einer grundsätzlich falschen Politik, da sie deren würde ich zur nächsten WWG-Demo 1999 fahren, 2000 gegen Olympia
Ursachen nicht erkennt. Deshalb kann unsere Kritik z.B. an der Olympia-Kam- demonstrieren, vielleicht auch im gerade wieder »angeschlossenen Breslau
pagne keine solidarische in dem Sinne sein, daß sie das Positive hervorhebt, Faschos jagen – von den GenossInnen von 1991 würde kaum jemand übrigge-
170 solange die Grundrichtung nicht stimmt. blieben sein – und die neuen und übriggebliebenen würden erklären, daß sich in 171
den Strukturen doch gerade wieder etwas bessert und diese Kampagne ganz Wenn wir also autonome Politik grundsätzlich in Frage stellen, dann nicht
anders sei. Und vor allem total wichtig, weil die Schweine doch gerade wieder ... bloß wegen deren mangelnder Effektivität, sondern weil sie ihrem ureigensten
Vielleicht ist das Ganze ja auch »nur« ein Generations-Konflikt. Das Alter der Anspruch, subjektive Emanzipation als Voraussetzung des revolutionären Prozes-
meisten Autonomen und die Dauer ihres Engagements sprechen jedenfalls dafür, ses (und umgekehrt) zu begreifen, nicht gerecht wird. Der im folgenden erwähn-
daß sie eher radikale Jugendkultur als altersübergreifende Bewegung sind und sein te Subjektivismus verhindert gerade die Befreiung des Subjekts.
können. Auch ihre Kultur und Politik sind von einer spezifischen (Jugend-)phay- Eine Politik, die aber ledigleich einen objektiven Faktor gegen das »System«
se gekennzeichnet, der der Abgrenzung. Ich sage dies ohne Wertung. Um zu darstellt, jedoch keine subjektive Emanzipation ermöglicht, kann zwar kurzfristi-
wissen, wofür wir kämpfen, müssen wir uns zunächst von dem abgrenzen, was ge Erfolge erringen, diskreditiert aber langfristig jede linke Politik. Auch die SED
wir ablehnen. war ein objektiver Faktor gegen den Kapitalismus.
Nur glaube ich in den Autonomen nicht älter werden zu können. Das ich
gegen die Zustände hier bin und einen revolutionären Prozeß für notwendig Der Subjektivismus – Hilfsmittel zur Erklärung der Welt
halte, weiß ich. Artikel, in denen zum 250. Mal die Strategien des Feindes analy- Um zu verstehen, warum sich die im folgenden erwähnte subjektivistische Theo-
siert werden, entbehren nicht einer gewissen Langeweile. Meine heutigen Fragen rie bei den Autonomen entwickelte, ist ein Rückblick auf deren Geschichte not-
sind andere. Es sind die Fragen, die in den Autonomen kaum gestellt werden, wendig. (Schon das ist schwierig genug. Da eine eigene Geschichtsschreibung
weil sie glauben, es genüge gegen das jeweilige Hauptprojekt entgegenzuhalten nicht für notwendig erachtet wird, sind wir auf die Rekonstruktion aus alten Zei-
und der Rest werde sich dann schon irgendwie irgendwann finden. tungen, Erzählungen der wenigen Szene-«Opas und Omas« und unsere eigene
Es sind z.B. die Fragen danach, WIE ein revolutionärer Prozeß aussehen politische Erfahrung angewiesen. Sicherheit kann dies natürlich nicht bieten,
kann, die nach der Möglichkeit einer Übergangsgesellschaft, die Frage danach, manches können wir nur vermuten. Zudem müssen wir, da keine klar formulier-
was an Theorie der letzten 150 Jahre noch an Gültigkeit besitzt. ten Plattformen oder Positionen existieren, aus dem autonomen Wust das heraus-
Auch kulturell habe ich mit der Autonomen-Sezene nicht mehr viel am Hut. filtern, was trotz aller Unterschiedlichkeit Autonome miteinander verbindet.
Die Zeiten, in denen ich es für notwendig gehalten habe, in ganz schwarz und Auch das ist nicht einfach.)
Springerstiefeln herumzulaufen, um mir selbst und allen anderen zu zeigen, daß Die Autonomen entstanden Anfang der 80er Jahre v.a. im Kontext der Haus-
ich auch zu den gefährlichen Autonomen gehöre, sind vorbei. Die verbissene besetzerbewegung als Erbe der Spontis. Nach dem Niedergang 82/83 blieben
Humorlosigkeit vieler Autonomer hat mich wichtige persönliche Beziehungen viele übrig, die weiterhin revolutionäre Politik betreiben wollten. Was macht
wieder außerhalb der Szene suchen lassen. Zudem bin ich es leid, meine Abwei- eine revolutionäre Linke in schlechten Zeiten, wenn sie die kritische Aneignung
chung von der autonomen Norm ständig erklären oder gar rechtfertigen zu müs- marxistischer Theorie ablehnt (mit dem Hinweis auf die ML-Tradition v.a. der
sen. K-Gruppen) und damit auch Begriffe wie gesellschaftliche Bedingungen, mate-
Nochmal ausdrücklich: Ich verstehe dies nicht als Arroganz. Wenn es trotz- rialistisches Denken und Dialektik verwirft? Wie stellt sie sich vor, mehr zu wer-
dem so ankommen muß, dann ist dies genau die Folge eines nicht vorhandenen den, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen?
»kollektiven Gedächtnis«, die nur die Wahl läßt, entweder Erfahrungen zu ver- Zum Erklärungsmuster wird der voluntaristische Subjektivismus, d.h. daß die
drägen oder das Lernen aus ihnen individuell einzufordern, was dann eben als Revolution dann stattfindet, wenn die Menschen es wollen. Für die Frage,
Arroganz und Besserwisserei verstanden wird. Das Problem scheinen mir nicht warum sie es derzeit nicht wollen, bleiben als Erklärung nur Bösartigkeit,
die Unterschiede zwischen Älteren und Jüngeren zu sein, sondern die Tatsache, Repression und Verblödung durch Medien und Konsum übrig. Allenfalls kommt
daß für den Umgang mit ihnen keine vernünftige Form vorhanden ist. Ich halte noch ein Schuß vulgärmarxistischer Verelendungstheorie hinzu.
es jedenfalls auch für mich für eine schlechte Lösung, mich wie manche Alt- Dieser voluntaristische Subjektivismus taucht bei den Autonomen in zwei
Autonome auf das Anleiern von Kampagnen und Demoleitung zu beschränken Spielarten auf, die sich aber gut miteinander vereinbaren lassen:
und sich die Jungen immer wieder die Hörner an der Repression abstoßen zu las- a) bzgl. persönlichen Verhaltens: hieraus folgt die Tendenz zur Selbstmargina-
172 sen (»Wir brauchen euren Mut und ihr unsere Schlauheit«). lisierung mit ihren Auswüchsen wie Uniformzwang, überhaupt das Herausbilden 173
einer weitgehend einheitlichen Subkultur in allen Bereichen (Punk gegen Klassik ganze Welt so werden müsse wie die eigene Szene, kann nur ein instrumentelles
etc.). Neben diesen unsinnigen Versuchen, bestimmte Geschmacksfragen a priori Verhältnis zu anderen entwickeln. Deshalb (und weniger wegen des Rassismus in
für links zu erklären (und andere nicht) und dabei einen Konformismus zu uns) sind die Flüchtlinge jetzt OBJEKT autonomer Bemühungen wie es die
erzwingen, der bestimmt nicht links ist, sind die ewigen persönlichen Anspruchs- OberpfälzerInnen 86 waren. Sie werden ebenso wie diese fallengelassen werden,
Debatten Folge dieser Spielart des Subjektivismus. wenn sich herausstellt, daß diese keineswegs beabsichtigen, Teil der Szene zu
Nun ist es gewiß so, daß das persönliche nicht vom politischen zu trennen ist werden.
und insofern auch persönliche Verhaltensweisen zu diskutieren sind. Problema- Der Subjektivismus wirkt sich aber auch zerstörerisch auf den vielbeschwore-
tisch ist aber, daß über allem der Anspruch auf fehlerfreies Verhalten schwebt und nen kollektiven Prozeß aus. Im Schlepptau hat er einen Objektfetischismus, d.h.
dabei nie die Ausgangsbedingungen der einzelnen berücksichtigt werden. Es ist Politik ist letzten Endes kein sozialer Prozeß, sondern die Steigerung von militan-
einfach unsinnig, ein Verhalten einzufordern, das eben erst in einer befreiten ten Aktionen, Demos etc. und an der Zahl militanter Aktionen und Demos läßt
Gesellschaft möglich ist – und nicht unter derzeitigen Bedingungen. Die Gna- sich demzufolge der Reifegrad einer Linken erkennen.
denlosigkeit, mit der gegen alle vorgegangen wird, die diesen Ansprüchen nicht Folge davon ist wiederum die These »wir kommen nur in unseren Kämpfen
genügen, verhindert gerade eine Weiterentwicklung der einzelnen. zusammen«, die von manchen theoretisch vertreten wird, sich v.a. aber in der
Um konkret zu werden: natürlich gibt es auch hier Grenzen für Spielräume. praktischen Arbeit zeigt. Noch jedes Mal, wenn wir uns aus politischen Gründen
Vergewaltiger etc. haben in linken Gruppen nichts zu suchen. Wer aber z.B. an der aktuellen Kampagne nicht beteiligen mochten oder persönlich einfach
Eifersucht zur unzulässigen Verhaltensweise erklärt, baut eine innere Repression nicht konnten, sind wir so gut wie vollständig aus der Szene herausgefallen. Die
auf, die dem einzelnen nur das permanente Gefühl ihrer Ungenügsamkeit geben einzelnen werden so zum Rädchen im Getriebe, die nur dann für einen revolu-
kann oder zur Selbstverleugnung führt und zudem eine Thematisierung der tionären Prozeß als wertvoll betrachtet werden, wenn sie einen »output« an
Schwierigkeiten unmöglich macht. Aktionen hervorbringen. Dies ist aber nichts anderes als kapitalistisches Denken,
Der Versuch, durch vorbildliches persönliches Verhalten die Ungerechtigkeit das die einzelnen nach dem Wert ihrer erbrachten Leistungen mißt und Leistung
der Welt bekämpfen zu wollen, erinnert an christliche Methoden. Kein Wunder, als Voraussetzung der Freiheit begreift.
daß verbissene Humorlosigkeit ihren Einzug hält und viele Autonome moralin-
sauren Protestanten ähnlich sind. Subjektivismus bedeutet den Verlust der inneren Demokratie
b) bzgl. politischen Verhaltens: Wenn gesellschaftliche Veränderung nicht Die innere Demokratie (Demokratie nicht im Sinne parlamentarischer Demokra-
von gegebenen Bedingungen abhängt, sondern vom subjektiven Wollen, und tie, sondern als Möglichkeit, die Vorgänge innerhalb der eigenen Gruppen und
wenn die Wahl der Mittel daher nicht von der Situation abhängt, sondern das Organisationen zu beeinflussen) ist Voraussetzung für jede emanzipative Politik.
militanteste Mittel immer das beste ist, da der Staat auf dieses am heftigsten rea- Diese ist bei den Autonomen nicht gegeben. Kritik kann nur als unverbindliche
giert, ist der/diejenige am konsequentesten, der/die am häufigsten militante Mit- Aufforderung geäußert werden, die aber, da keine bewußte Planung möglich ist
tel einsetzt. Das ist letzten Endes der Kern der Antiimp-These vom »Bruch mit und die Formen autonomer Politik a priori gegeben sind, wirkungslos bleiben
dem System« und Ursache des autonomen Aktionsimus. muß.
Vielleicht sind die Unterschiede zwischen der jetzigen RAF/Antiimps und Auch dies resultiert aus dem Subjektivismus: wo es nicht mehr um die Anpas-
den Autonomen ja auch nicht größer als in der Betonung der verschiedenen Sub- sung der politischen Formen an die gesellschaftlichen Bedingungen sondern um
jektivismen: Während die RAF/Antiimps den politischen Bruch als ausreichend bloße Steigerung der Leistung der einzelnen geht, ist grundsätzliche Kritik über-
betrachten, legen die Autonomen genausoviel oder mehr Wert auf den subkultu- flüssig geworden. Aus demselben Grunde waren die realsozialistischen Staaten
rellen. unfähig, z.B. der Unproduktivität der eigenen Wirtschaft mit einem politischen
So erklärt sich die autonome Ghettomentalität: Wer sich einen politischen Diskurs zu begegnen, sondern konnten diese nur dem Gegner zuschreiben und
Prozeß nicht als eine Annäherung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bei mit Appellen antworten, die eigene Leistung zu steigern. Sie unterlagen dem
174 bestehenbleibender Unterschiedlichkeit vorstellen kann, sondern glaubt, daß die Fehler, ihre Form des Sozialismus nicht für eine mögliche, sondern für die immer 175
und zu allen Zeiten einzig mögliche zu halten. Der Versuch, sich so aus der Spaltung in Hunderte von Interessengrüppchen. Subkultur besitzt damit keine
Geschichte zu stellen, wurde mit ihrem Verschwinden bestraft. Zur Hilflosigkeit Sprengkraft mehr, sondern fügt den verschiedensten Lebensmodellen lediglich
und Ohnmacht gegenüber einer als nicht veränderbar angesehenen Gesellschaft noch ein weiteres hinzu.
tritt damit die Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der unveränderbaren,
kaum einmal beeinflußbaren Szene. Hartmannismus und Flüchtlingskampagne – die Theorie wird der Praxis
angepasst
Das autonome Organisationsmodell als Antwort auf die Ära des Bis Hoyerswerda haben wir uns gefragt, warum die autonome Flüchtlingsarbeit
Massenkonsums so seltsam verläuft. Warum sitzen Gruppen ein halbes Jahr im trauten Kreis und
Die Ursache dafür, daß Autonome innerorganisatorische Demokratie für reden über ihren Rassismus, ohne einen Flüchtling auch nur mal aus fünf Metern
unwichtig erachten, liegt aber auch in ihrer falschen Gesellschaftstheorie. Wäre Entfernung gesehen zu haben (wir kennen solche Gruppen)?
die hauptsächliche Ursache gesellschaftlicher Unterdrückung in den Metropolen Warum gibt es seit fünf Jahren Anschläge der RZ zu dem Thema, die in kei-
tatsächlich Repression und Überwachung, könnte ein Organisationsmodell, das ner Weise mehr dem alten RZ-Anspruch gerecht werden, in Verbindung zu
die Individuen der Überwachung und dem Zwang zu gesellschaftlichen Konfor- einer Bewegung zu stehen geschweige denn die erreichen, denen sie solidarisch
mismus entzieht, tatsächlich eine gewisse subjektive Emanzipation ermöglichen, zugedacht waren, ohne daß dies von der RZ nur einmal kritisch reflektiert wor-
wenn auch nur wenig politisch erfolgreich agieren. den wäre?
Die Gesellschaft der BRD der 80er und 90er Jahre besteht aber zunehmend Warum haben die Autonomen bis Hoyerswerda kaum einmal ihren traditio-
v.a. darin, daß ihre Individuen atomisiert, Handlungen ihres Sinns für gesell- nellen aktionistischen Arbeitsbereich übernommen, d.h. die Flüchtlingsheime
schaftliches Zusammenleben entleert (Ausbau des Dienstleistungssektors = Ver- vor Angriffen zu schützen?
wertung immer mehr Bereiche persönlicher Beziehungen) werden und kaum Dazu müssen wir nochmal einen Blick in die autonome Geschichtstruhe wer-
noch Kommunikation über kleine Gruppen hinaus stattfindet. Linke Politik fen: Daß die autonome Politik unzureichend war, war am Ende der Anti-AKW-
begeht eine Todsünde, wenn sie in dieser Situation nicht die gesellschaftliche Bewegung nicht mehr zu übersehen. Mit der weitgehenden Integration der Grü-
Zersplitterung durch Organisation aufzuheben versucht, sondern das Erfolgsmo- nen und der Alternativbewegung in das politische System war der nationale
dell des kapitalistischen Staates als einzige Möglichkeit für emanzipatives Handeln Bezugsrahmen der Autonomen verschwunden. Die Befreiungsbewegungen im
darstellt. Die Bekämpfung von Individualisierungsprozessen ist nicht durch Orga- Trikont stagnierten und wiesen z.T. revisionistische Tendenzen (z.B. Nicaragua)
nisierung in ebenso zersplitterten Kleingruppen möglich. auf. Wollten die Autonomen weder einen richtigerweise unmöglichen Rückgriff
Rückblickend kann damit auch erklärt werden, warum die Autonomen auf alte politische Bezüge wie die SU oder die ArbeiterInnenklasse versuchen
Anfang der 80er Jahre eine größere Wirksamkeit als heute hatten. Sie waren die noch ihre eigene Politik radikal in Frage stellen, blieb nur noch ein revolutionä-
letzte, vielleicht einzig mögliche, Antwort der Linken auf das »Modell Deutsch- res Subjekt, das die BRD-Linke in den letzten 20 Jahren nicht ausprobiert hat:
land«, was heißt: institutionalisierte Konfliktlösungen, Integration gesellschaftli- die verelendeten, aber unorganisierten Massen des Trikont und mittlerweile auch
cher Widersprüche durch Massenkonsum, standardisierte Lebensmodelle von der Osteuropas. Das sympathische an ihnen war zudem, daß ihre Struktur der der
Einbauküche bis zum mit-20-in-den-einen-Beruf-bis-zur-Rente und der Klein- Autonomen sehr nahe schien: ohne jegliche Organisation, daher nur zu sponta-
familie als gesellschaftlicher Norm. Sich diesem Anpassungszwang eher ideolo- nen Aufständen oder individuellem Verweigern fähig, ohne historisches Bewußt-
gischre als ökonomischer Art war (von Sozi oder Bafög leben war noch möglich). sein und langfristige Konzepte agierend.
Diese Voraussetzungen sind heute nicht mehr gegeben: die Ablehnung der Der autonome Operaisten-Flügel setzte dem noch eins drauf und kreierte den
Kleinfamilie ist das Erfolgsrezept der Yuppies, Flexibilität und Spontaneität ist sogenannten »Neuen Antiimperialismus«. Detlef Hartmann u.a. begingen dabei
Voraussetzung für Karriere, Massenkonsum wird durch Luxusware einerseits und den verhängnisvollen Fehler, nicht mehr die eigene Praxis kritisch zu betrachten,
Billigläden andererseits ersetzt; die Unterschiedlichkeit von Lebensmodellen ist sondern sich das Bild von der Wirklichkeit nach der eigenen Praxis zu machen,
176 zumindest in Großstädten keine Provokation mehr, sondern Voraussetzung für so daß die verelendeten, unbewußten Massen zur eigentlichen Triebfeder der 177
Geschichte wurden. (Zur näheren Kritik der »Materialien für einen Neuen Anti- vermutlich der letzte Rettungsanker der Autonomen; danach bleibt ihnen nur,
imperialismus« finden wir auch die Broschüre »Mit den überlieferten Vorstellun- wie es sich jetzt schon andeutet, sämtliche Theorie- und Praxisansätze der letzten
gen radikal brechen« der Autonomen Studis/Bolschewiki aus Freiburg interes- 10-20 Jahre zu einem unsäglichen Brei von beliebig zu verwendenden Versatz-
sant). stücken zu verwursten.
Die mangelnde autonome Theoriebildung ermöglichte es den Hartmanni- Die Folgen sind aber noch schwerwiegender. Die Hinwendung zu einer rein
sten, diesen Unfug ohne größeren Widerspruch monatelang z.B. in der IWF- internationalistischen Politik, wie sie die RAF bereits Anfang der 70er Jahre
Kampagne oder der Berliner Vorbereitung bzgl. Golfkrieg (z.B. INTERIM-Son- begonnen hat, ist das Eingeständnis auf die Widersprüche im eigenen Land keine
dernummer) verbreiten zu dürfen. Besonders bedauerlich ist, daß sie ihre Thesen Antworten mehr zu haben und auch keine mehr haben zu wollen. Zwei Jahre hat
nach aktuellen Ereignissen, die sie hätten widerlegen können (z.B. Aufstand in die BRD-Linke es kaum für notwendig gehalten, mit den Menschen in der Ex-
Venezuela, von dem dank eines Fehlen einer organisierten Linken nichts übrig DDR eine gemeinsame Politik zu versuchen. Lediglich zum Fascho-Klatschen
blieb), nicht überprüft haben. taucht sie dort auf. Ein reiner Abwehrkampf gegen Rassismus und Faschismus
Wenigstens die abstruse These, daß Jelzin im Moskauer Putsch nur der Kasper wird aber zum Scheitern verurteilt sein. Internationalistische Politik basiert auf
der sowjetischen Massen gewesen sei, hat noch eine Gegenmeinung gefunden Politik im nationalen Rahmen und an den Widersprüchen im eigenen Land,
(siehe INTERIM). Ansonsten ist der Hartmannismus eine Tendenz, die je mehr sie genauso wie Solidarität auf dem Versuch der subjektiven Emanzipation basiert.
sich durchsetzt, bewirkt, daß die Autonomen jenseits von Gut und Böse daste- Die autonome Theorie zur Flüchtlingskampagne legitimiert damit im Nachhin-
hen. ein auch das eigene, selbtgewählte Ghetto im Sinne einer self-fulfilling-prophecy:
Natürlich ist Flüchtlingsarbeit bitter notwendig. Der Schutz vor Anschlägen erst macht man/frau kaum Politik mit den Deklassierten im eigenen Land, wor-
ebenso wie Rechtsberatung und Pressearbeit. Dies, weil Linke immer die Aufga- aufhin sich diese wie immer nach rechts wenden, womit dann wieder Argumen-
be haben, gesellschaftliche Brüche wahrzunehmen, Unterdrückte zu unterstützen te gegeben sind, nichts mit ihnen versuchen zu wollen.
und zu ihrer Selbstorganisation beizutragen. Da sich die Flüchtlinge aber als revo- (...)
lutionäres Subjekt ausgekuckt wurden und dafür nicht einmal Fakten angeführt
werden können, weil völlig im Unklaren bleibt, wie sie von der Klasse »an sich« Wie weiter???
zur Klasse »für sich« werden können, wird a) die Kampagne baden gehen und b) Nun ist es nicht so, daß wir hier nur pure destruktive Kritik leisten wollen und
sich zuvor ein instrumentelles Verhältnis zu den Flüchtlingen einstellen. Viel- keine eigenen Ideen hätten. Wir können zwar – und das ist auch gut so – kein
leicht hat der Vorwurf des Rassismus und Eurozentrismus gegen die Autonomen perfektes Modell für die revolutionäre Linke der BRD der 90er Jahre entwickeln,
hier einen Teil seiner Ursache. Schlimm ist nur, daß der Subjektivismus daran aber wir hätten zumindest einige konkrete Vorschläge für die nächsten Schritte:
hindert, diesen Vorwurf als einen inhaltlichen an die eigene Theorie und Praxis – Bestandsaufnahme linker Politik in der BRD und die Bereitschaft, die eige-
zu begreifen, sondern wieder nur als Bezug auf individuelles Fehlverhalten inter- nen Ansätze (nicht revolutionäre Politik an sich) radikal zu hinterfragen
pretiert werden kann. Die Tübinger Unterstützungsgruppe schreibt z.B.: »Als – ebenso Überprüfung linker Theorie der letzten 150 Jahre auf ihre Brauch-
unser Bioeintopf nicht ankam, merkten wir, daß auch wir so etwas wie Dankbar- barkeit insbesondere nach dem Scheitern des »realen« Sozialismus und des Sta-
keit erwartet hätten« (INTERIM 150, radikal 143). Wir glauben, daß dies lediglich gnierens der neuen Entwürfe linker Politik seit Anfang der 60er Jahre.
die Folge ihres instrumentellen Verhältnisses zu den Flüchtlingen sowie der – Bereitschaft, eine Organisationsdebatte zu führen und ebenso die Bereit-
Ghettobildung und des sich selbst als politische Elite Begreifens ist. Wer andere schaft, Politik wissenschaftlich und nicht emotional zu begründen
instrumentalisiert als Rettungsanker in der eigenen politischen Not, hat kein – dabei gleichzeitiges Drinbleiben und Ausbauen der Arbeit in den Teilberei-
Interesse an ihnen. Das führt halt dazu, gar nicht auf den Gedanken kommen zu chen, in denen tatsächlich längerfristige Kontakte zur Außenwelt bestehen und
können, daß der beliebte Volxkücheneintopf anderen nicht schmecken könnte – die nicht lediglich wieder in einem halben Jahr vergessene Modethemen sind.
und es erklärt auch, warum manche autonomen Flüchtlingsgruppen glauben, Fraglich ist aber, ob wir uns mit unseren Ideen nicht was husten können. Ob
178 ohne Kontakt zu Flüchtlingen arbeiten zu können. Die Flüchtlingskampagne ist also nicht genau der Subjektivismus, der politische Aktion unabhängig von 179
gesellschaftlichen Bedingungen produziert, ein Erkennen der Notwendigkeit der Heinz Schenk
Änderung linker Politik verhindert; ob unsere Diskussion nicht damit als über-
flüssig abgetan und uns der Verrat-Vorwurf gemacht wird. Dies wird die Diskus-
The Empire strikes back –
sion, so sie zustande kommt, zeigen. Zum »INTERIM«-Vorwort bzgl. Heinz Schenk (Nr. 166)
I.
Es gab im April/Mai schon einmal eine Debatte über die »INTERIM«-Praxis, Arti-
kel im Vorwort in wenigen Zeilen zu kommentieren. Ihr habt damals gesagt (Nr.
145): »Der Problematik, daß unsere Kommentare oft arroganter wirken, als sie
gemeint sind, sind wir uns bewußt. Trotzdem werden wir auf dieses Mittel nicht
verzichten, da es immer noch genügend Menschen gibt, die Sinn für Ironie
haben.« Wir glauben dagegen, daß in wenigen Zeilen nicht inhaltlich auf einen
Beitrag eingegangen, sondern nur der erste spontane Ärger oder Beifall formuliert
werden kann. Da wir keine Lust haben, daß unser Artikel aufgrund eures Vor-
worts abgetan wird, setzen wir uns mit diesem im folgenden ausführlich ausein-
ander.
II.
»Es wird ein Klischee-Bild ›der Autonomen‹ entworfen, welches es in der Rea-
Aus dem Vorwort der INTERIM Nr.166/1991 lität nicht gibt« (Vorwort): »Gehen wir von der bekannten Erscheinung des. bzw.
der Durchschnittsautonomen aus. Natürlich, eine derartige Durchschnittsautono-
me gibt es nicht; und alles, was man über ihn bzw. sie aussagt, kommt schnell in
den Ruch, Karikatur und wüste Polemik zu sein. Und in der Diskussion wird
dann dieses oder jenes Gegenbeispiel erwähnt, bei dem natürlich alles ganz anders
ist. Trotzdem: Ohne Verallgemeinerung, die sicherlich den durch sie charakteri-
Den meisten Platz des Heftes nimmt ein langes Papier von Heinz Schenk zur Kri- sierten Menschen Unrecht tut, ohne derartige Verallgemeinerungen kann nicht
tik »autonomer Politik« ein. So gut wir den Versuch finden, die »Autonomen« vernünftig diskutiert werden; sonst artet nämlich jede Diskussion in ein reines
politisch einzuordnen und einer grundsätzlichen Kritik zu unterwerfen, so Anekdotenerzählen aus. Und derartiges Anekdotenerzählen ist durchaus charak-
schlecht ist es H. Schenk doch gelungen. Es wird ein Klischee-Bild »der Autono- teristisch für Diskussionen in der autonomen Bewegung. Dem wollen wir hier-
men« entworfen, welches es in der Realität nicht gibt. Die politischen Auseinan- mit gleich einen Riegel vorschieben. Deshalb: Wenn wir also im folgenden die
dersetzungen und theoretischen Ansätze werden oberflächlich und polemisch Vorstellungen und die Praxis autonomer KämpferInnen darstellen, dann mag das
kritisiert. Deine geforderte Wissenschaftlichkeit und emotionsfreie Herangehens- zum Teil überspitzt erscheinen, aber gerade in dieser Überspitzung drückt sich
weise gelingt dir überhaupt nicht. Deine Vorschläge zur »Änderung« der Politik eine Wahrheit aus, die nicht durch endloses Anekdotenerzählen zugekleistert
sind nicht neu und werden seit Jahren quasi kampagnenmäßig, immer wieder neu werden kann« (Broschüre »Mit den überlieferten Vorstellungen radikal brechen«,
180 produziert. Freiburg). 181
III. ritären Organisation außerhalb der Autonomen zu versuchen. Diesen Vorschlag
hat es unseres Erachtens seit Bestehen der Autonomen nicht gegeben.
»Die politischen Auseinandersetzungen und theoretischen Ansätze werden ober-
flächlich und polemisch kritisiert. Deine geforderte Wissenschaftlichkeit und V.
emotionsfreie Herangehensweise gelingt dir überhaupt nicht« (Vorwort): Richtig Bisherige Vorschläge konnten nichts verändern, da sie nur als unverbindliche
ist, daß unsere Kritik zu wenig Belege anführt und zu wenig ins Detail geht. Dies Vorschläge für meist unverbindliche Foren verfaßt wurden und nicht sagen
würde aber den Umfang eines »INTERIM«-tauglichen Artikels sprengen. Wir sind konnten, mit wem und wie sich diese Veränderung vollziehen sollte. Richtig ist,
gerne bereit, dies nachzuholen, in einem ersten grundsätzlichen Artikel kam es daß wir in unserem Artikel auch nichts dazu gesagt haben. Wir glauben aber aus
uns aber nur darauf an, unsere Gesamtsicht der Autonomen zu umreißen. Die den bisherigen Veränderungsversuchen den Schluß ziehen zu können, daß der
Schärfe unseres Artikels resultiert auch daher, daß wir mit »soft« und eben imma- erste Schritt einer Erneuerung revolutionärer Politik nicht aus dem autonomen
nent formulierten Kritiken immer wieder die Erfahrung gemacht haben, daß sie Kern (und damit auch der »INTERIM«-Red. und weiten Teilen ihrer LeserInnen)
zustimmend aufgegriffen wurden, um sie dann als eine Rechtfertigung für eine kommen wird, da diese eben noch viel zu stark autonomem Denken verhaftet
neue Runde des immergleichen zu zitieren. So daß wir oft genug das Gefühl hat- sind. Eine Änderung wird, wenn überhaupt, von denen ausgehen, die seit einiger
ten, genausogut mit einer Gummiwwand debattieren zu können, die jede Aus- Zeit mit einer gewissen Skepsis am Szene-Rand gestanden haben. Diese werden
einandersetzung vermeidet, indem sie einfach den großen Konsens der Unzufrie- sich nach einer Anfangsphase öffentlich zugängliche Strukturen schaffen müssen,
denheit mit den bestehenden autonomen Zuständen vortäuscht. Wir wollen, um von vornherein ein Versacken im autonomen Kleingruppenmodell zu ver-
wenn wir autonome Politik schon nicht ändern können, wenigstens vermeiden, meiden. Wir hoffen, in naher Zukunft dazu mehr sagen zu können.
neues Material für das Wunschdenken, beim nächsten Mal alles besser machen zu Wir haben den Artikel nicht in der »INTERIM« veröffentlicht, weil wir uns auf
können, zu liefern. (Obwohl selbst die Schärfe nicht unbedingt davor schützt, diesem Wege direkt eine neue Richtung linker Politik versprechen. Nur veröf-
wie das Zitieren der Freiburger Broschüre in der Nr. 165 zeigt.) fentlichte Positionen sind aber denkbare Positionen, ansonsten existieren sie nur
in den Hirnen ihrer SchreiberInnen. Die Umsetzung neuer Ideen wird nicht von
IV. einem unverbindlichen Forum geleistet werden, der Anstoß kommt im ersten
»Deine Vorschläge zur ›Änderung‹ der Politik sind nicht neu und werden seit Schritt von außen und die Kenntnis der Positionen ist Voraussetzung dafür, daß
Jahren quasi kampagnenmäßig immer wieder neu produziert« (Vorwort): Wenn sie in einem zweiten Schritt weitere Kreise ziehen kann.
sich eine Politik als persönlich und politisch unbefriedigend erweist, und bisher
alle Versuche zu ihrer Änderung gescheitert sind, ist es keine Lösung, mit der VI.
unbefriedigenden Politik einfach weiterzumachen. Ebenso könnten wir uns Das Problem, an dem auch wir nicht vorbeikommen, ist das der Ungleichzeitig-
lebendig einsargen lassen. Es kommt dann vielmehr darauf an, genau zu untersu- keit sowohl von Einsicht wie Kraft. Daß also keine Plattform in den Autonomen
chen, warum die bisherigen Versuche gescheitert sind. Wir glauben, genau dies existiert, daß daher fast alle einzeln aufhören, daß die meisten Jungen auf ihrem
getan und deshalb andere Vorschläge gemacht zu haben. Bisherige Änderungs- Recht bestehen, ihre Erfahrungen selbst zu machen und die meisten Alten keine
versuche zielten entweder darauf ab, immanent die Autonomen zu verändern, Kraft und/oder Phantasie mehr haben, etwas anderes zu versuchen, führt dazu,
d.h. organisatorische Veränderungen etc. zu schaffen, ohne die theoretischen daß es nur ein relativ schmaler Zeitraum ist, in dem individuell sowohl Einsicht
Voraussetzungen der alten Organisationsweise anzutasten. Oder ihnen fiel nur wie Kraft bestehen, eine andere revolutionäre Linke aufzubauen. Dieser muß mit
der Aufbau eines an den K-Gruppen der 70er Jahre orientierten Modells ein, das dem Zeitraum bei anderen zusammentreffen. Außerdem muß ein solcher Ver-
auf mehr Effektivität zielte, ohne die subjektive Emanzipation für wichtig zu such die vereinzelten bundesweiten Verlautbarungen grundsätzlicher Diskussio-
erachten (»Ich sag, wie’s ist«; »Kommunistische Brigaden«). Ersteres war zu kurz nen vernetzen können.
gedacht, letzteres konnte keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Auch unsere Kraft ist begrenzt. Der Zustand einiger Genossen, die trotz ihrer
182 Unser Vorschlag zielt daher darauf ab, den langfristigen Aufbau einer antiauto- schärfsten Kritik an den Autonomen ihre emotionale Abhängigkeit von ihnen nie 183
lösen konnten, ist uns warnendes Exempel genug. Wir haben uns schon in den Tecumseh
letzten Wochen manchmal wie Ritter von der traurigen Gestalt oder wie ein
Wanderprediger in Organisationsfragen gefühlt. Wir werden unser Leben nicht
Warum Schlager manchmal die Wahrheit
mit dem Versuch fristen, ein Kamel durchs Nadelöhr bringen zu wollen. Jetzt sagen –
oder nie! (Na, wenn das nicht voluntaristisch ist.)
Eine Nachbemerkung zu Heinz Schenk
VII.
Einige Bemerkungen zu Diskussionsstil und Umgang miteinander: »Das Ausfech-
ten von Gegensätzen, Widersprüchen war es gewesen, was zum Gemeinsamen
zwischen uns geführt hatte. Ablehnungen, Schwierigkeiten hatte es gegeben, und Im Herbst 1991 tritt Heinz Schenk (als Pseudonym einer politischen Gruppe) mit
immer wieder das Bestrebung, mit These und Antithese einen für beide gültigen zwei in der »INTERIM« veröffentlichten Papieren eine lebhafte Debatte über die
Zustand zu erreichen. So wie Divergenzen, Konflikte neue Vorstellungen ent- Zukunft der Autonomen los. Offensichtlich trifft er mit seinen populistischen
stehn ließen, so entstand jede Handlung aus dem Zusammenprall von Antagonis- und persönlichen Erlebnissen eingefärbten Texten ziemlich genau die Gemüts-
men. Die Einsicht und Artikulation dieser Vorgänge machte das Zusammenle- und Problemlage eines Teils der Berliner Autonomen, die als ein diffuses Unbe-
ben, die gegenseitige Würdigung möglich« (Peter Weiss, Die Ästhetik des hagen mit dem Zustand der Szene und Bewegung beschreibbar ist. Diese Kritik
Widerstands). D.h.: Wir halten gerade eine scharfe Diskussion und evtl. notwen- wird aber meist auf der Ebene persönlicher Probleme und Entfremdungen for-
dig werdende Trennungen für die Voraussetzung, um dann anders wieder zusam- muliert; und sehr selten kommt es vor, daß sie politisch auf den Begriff gebracht
menarbeiten zu können. Die Schärfe ist notwendig, um den derzeitigen Konsens, und in einen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der letz-
die autonomen/antiimperialistischen Positionen seien die einzig möglichen revo- ten zwei Jahre gestellt wird. Dies gelingt erstmals den Texten von Heinz Schenk,
lutionären in der BRD, zu durchbrechen. Wir halten nichts von einem Konsens, die deshalb von vielen heftigst diskutiert werden. Dabei geht es weniger darum,
der in Wirklichkeit auf Verlustängsten basiert und gerade darum an Kleinigkeiten ob mensch allem zustimmt, sondern daß die aufgeworfenen Fragen als befreiend
bricht. Ebensowenig werden wir hier einen Grabenkrieg um des Grabenkrieges erlebt werden: Sind die Autonomen, bzw. ihre Vorstellung einer »Selbstorgani-
wegen eröffnen. Die linke Tradition, die konkurrierenden Nachbarorganisation sierung von Unten« noch die adäquate sozialrevolutionäre Antwort auf die Ver-
für den Hauptfeind zu halten, ist uns nur zu gut bekannt. hältnisse der 90er Jahre? Oder haben sie sich nicht selbst überlebt und sind eine
Politsekte geworden, zwar mit lebhaftem Vereinsleben, aber gesamtgesellschaft-
lich bedeutungslos? Und gilt es nicht, eine für andere Menschen offenere Politik
zu machen, eine inhaltliche Plattform zu entwickeln und auf dieser aufbauend zu
einer zielgerichteteren Politik zu kommen?
In den folgenden Wochen erscheinen mehrere Texte zum Thema in der
»INTERIM«. Die Vehemenz, mit der auf Heinz Schenk reagiert wird, erklärt sich
daraus, daß er eine seit Jahren akzeptierte Grenze überschreitet: er äußert seine
Kritik nicht mehr als »interne« und ist um Verbesserungen bemüht (wie z.B. die
Texte von Lupus), sondern er bezeichnet die Autonomen als »strukturell nicht
reformierbar« und zieht daraus Konsequenzen: er erklärt seinen Austritt aus den
Autonomen. Mensch kann darüber zwar lachen und sich an der formalen
Unmöglichkeit eines Austritts hochziehen, oder sich an weiteren Ungereimthei-
ten der Texte abarbeiten, doch dies geht am Kern der aufgeworfenen Fragen vor-
184 bei. 185
Inzwischen haben weitere Stars aus Funk und Fernsehen, die sich in der und dies auf die fehlenden eigenen »konkreten Konzepte« zurückzuführen ist.
»INTERIM« zu Wort meldeten, zusammen mit Heinz Schenk die Gruppe »f.e.l.s.« Die AL wurde parallel – und nicht gegen – zur HausbesetzerInnenbewegung
(für eine linke Strömung) gebildet. Diese Gruppe möchte öffentlich erreichbar 80/81 stark.
Politik machen (d.h. mit bekannter Adresse und offenem Plenumstermin) und Heinz Schenk macht sich sehr wenig Mühe rauszuarbeiten, was das autonome
sich in den nächsten Monaten den aufgeworfenen Fragen durch mehrere Semi- Politikkonzept eigentlich ist, sondern er drischt immer auf die schwächsten
nare zu Themen wie »Spontaneismus«, »Luxemburg und Lenin«, »Linke Organi- Punkte ein. Daß 1980 der »Subjektivismus« genau die Stärke der Autonomen
sationsmodelle in anderen Ländern«, etc. nähern. ausmachte, nämlich nicht mehr auf gesellschaftliche Bedingungen zu schauen,
Trotz aller Sympathie liegen mir einige Bemerkungen zu den Texten auf der sondern im »Hier und Jetzt« zu leben und zu tun, was mensch für richtig hält,
Zunge, besonders zu den Teilen, in denen Heinz Schenk das politische Verhalten wird übersehen. Nur so entstand die Dynamik der Hausbesetzungen. Auch kann
der Autonomen kritisiert. Da landet er zugegebenermaßen einige polemische mensch immer die Schattenseiten von subkulturellem Verhalten (Uniformzwang,
Volltreffer, aber er schießt oft auch voll am Problem vorbei, da auch »falsche« Anpassungsdruck, etc.) betonen, aber es macht(e) die gesellschaftliche Stärke der
Verhaltensweisen Konsequenzen »richtiger » Erfahrungen sind. Zum Beispiel ist Autonomen aus, daß »ihre« Musik (z.B. »Fehlfarben«) nicht nur auf jeder Demo
die häufig kritisierte Abschottung unter anderem ein Produkt des unsichtbaren tönte, sondern auch in den Charts ganz vorne war. Gescheitert ist diese Politik an
und unausgesprochenen Drucks durch Staatsschutz und deren Spitzel. Geht es ihren realen sozialen Grenzen. In Berlin waren einfach nur ca. 3.000 – 5.000
nicht eher darum, diese Probleme genauer zu benennen und andere Antworten Menschen bereit, diese radikale Einheit von Politik und Leben zu leben und sich
und Umgangsweisen als die aktuell gehandhabten – und offensichtlich in Sack- von unten selbst zu organisieren, der Rest (eine Million, neunhundertfünfund-
gassen führende - zu finden? neunzigtausend) deligierte weiter Politik an Parteien und Gewerkschaften. Dies
So fordert er zwar einerseits eine (autonome) Geschichtsaufarbeitung der letz- gilt auch für spätere Zeiten: Heinz Schenk tut immer so, als hätten die Autono-
ten 150 Jahre sozialrevolutionärer Kämpfe, aber andererseits werden in einem men nur ihre Politik ändern müssen und schon wäre das »Ergebnis nicht gleich
oberflächlichen Tonfall allerlei geschichtliche Ereignisse der letzten 25 Jahre null« gewesen. Alle anderen linken Gruppierungen (z.B. KB, »Radikale Linke«,
abgehakt und eben nicht die Probleme rausgearbeitet. Ein paar weitere Beispiele: PDS) haben in diesen Jahren noch ganz andere Bauch- und Bruchlandungen
»Es existiere schlicht kein Forum, um Erfahrungen jenseits von Manöverkri- gemacht. Auch bei der Kritik am »neuen Antiimperialismus« werden sich die
tik diskutieren zu können« – und was ist mit der »INTERIM« und anderen Info- Punkte rausgesucht, bei denen sich die VordenkerInnen ideologisch verrennen.
blättern, in denen ja auch die Texte von Heinz Schenk veröffentlicht werden? Aber zum wesentlichen Inhalt, nämlich sich nicht mehr auf nationale Befreiungs-
Das Problem ist doch vielmehr, daß kaum jemand solche Beiträge schreibt und bewegungen, sondern auf die unorganisierten Menschen und Sozialprozesse im
nicht das fehlende Forum. Oder: es gibt sehr wohl autonome Gesellschaftsanaly- Trikont zu beziehen, wird nichts gesagt. Dazu haben die Hefte der »Autonomie
sen (»Mit den Revolutinären Zellen ins postfordistische Zeitalter«, abgedruckt in – Neue Folge« und später der »Materialien« doch sehr inhaltsreiche Arbeit gelei-
der »INTERIM« Nr. 82, oder die Hefte der »Autonomie – Neue Folge«), aber – stet. Das dies so nicht ausreicht, ist unbestritten.
und da wird die Kritik richtig – das Ergebnis (zum Beispiel beim Postfordismus- Und das alle Probleme »eine Folge der fehlenden Organisationsdebatte« sein
text Anschlagspolitik) steht schon von Anfang an fest und wird nur noch ummän- sollen muß schon ein wenig begründet werden. Was Heinz Schenk da macht,
telt, obwohl mensch aus dem im Text Gesagten auch ganz andere Schlußfolge- sind nur Wortverknüpfungen und unbegründete Kausalitäten. Denn eine Orga-
rungen ziehen könnte. nisationsdebatte führen die Autonomien schon seit mindestens fünf Jahren, nur
Und waren die Autonomen nicht schon immer gesamtgesellschaftlich gelingen ihre Versuche außer auf der tagespolitischen und themenbezogenen
betrachtet der »bewaffnete Arm der Grünen«, und nicht erst ’86? Beziehungswei- Ebene nie. Allerdings könnte auch das Entstehen von über zehn lokalen Infoblät-
se kann mensch das nicht auch andersrum beschreiben: starke soziale Bewegun- tern als Organisierung gesehen werden, nur eben auf einer realeren Ebene als die
gen von unten werden immer am Rand des institutionellen Spektrums einen einer politischen Organisation.
Transmissionsriemen finden, der versucht, das Anliegen in institutionelle Bahnen Viel zu wenig wird die Frage gestellt, was sind subjektive Unvermögen und
186 zu lenken? Die Kritik wird da richtig, wo dies zu einem Aufgesogenwerden wird Fehler der Autonomen, und was sind objektive Ummöglichkeiten. Da wird als 187
Beispiel die Öffentlichkeitsarbeit der Anti-Olympia-Kampagne gebracht, bei der
sicher einiges falsch gelaufen ist. Aber ist es nicht eine jahrelange Erfahrung von
autonomen GenossInnen, die immer wieder Pressearbeit versucht haben, daß
mensch dabei nur über den Tisch gezogen wird. Die Medien den Diskurs
bestimmen (»was sagt ihr zur Gewaltfrage?«) und Inhalte meist auf der Strecke
bleiben. Oder daß auf Demos, zu denen in einem breiten Bündnis aufgerufen
und mit viel Aufwand bevölkerungsnah mobilisiert wird, eben auch nicht mehr
Menschen kommen als wenn mensch nur im eigenen Sumpf mobilisiert. Sind das
nicht objektive soziale Grenzen, die durch noch soviele Purzelbäume erstmal
nicht niederzureißen sind? Noch ein Beispiel aus dem Öffentlichkeitsbereich:
warum ist die verkaufte Auflage der wirklich nur als »internes Vereinsmitteilungs-
blatt« aufgemachten »INTERIM« deutlich höher als die auf die gesamte Linke aus-
gerichtete »spektrumsübergreifende« und bewußt bevölkerungsnah aufgemachte
»ProWo«?
So ersetzt Heinz Schenk den von ihm kritisierten autonomen Subjektivismus
durch einen eigenen. Ist das Problem nicht vielmehr, daß wir mit unserem Anlie-
gen aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Verhältnisse ein-
fach scheitern müssen, unabhängig von unserem Wollen und Anstrengungen. Da
reicht es einfach nicht, nur zu beschreiben, warum die Autonomen in keinem
Spannungsverhältnis zur Gesellschaft mehr liegen, sondern die spannende Frage
ist: Was folgt daraus?
Übrigens – als letzte Bemerkung – es stört mich immer wieder, daß oft mit
einem Begriff der »Linken« völlig unhinterfragt gearbeitet, eingemeindet und
argumentiert wird. Wer ist das? Wer gehört dazu, wer nicht mehr?
Trotzdem sind meine kritischen Anmerkungen eher nebensächlich, den ich
hoffe, daß Heinz Schenk – bzw. »f.e.l.s.« – eine große Bedeutung erlangt.
Dadurch, daß bewußt als Alternative zu den autonomen Politikauffassungen auf-
getreten wird, kann eine enorm belebende Funktion von ihnen ausgehen. Denn
sollte es ihnen - oder anderen Gruppen, die an diesen Fragen am Experimentie-
ren sind – gelingen, ein praktisches Organisationsmodell in die Tat umzusetzen,
können sich die Autonomen nicht mehr auf der bequemen Position ausruhen,
daß sie die einzige sozialrevolutionäre Kraft in der BRD sind und es zu ihnen
einfach keine Alternative gibt. Aus diesem Wettstreit kann sich ein produktiver
Prozess entwickeln, der neben einer Aufarbeitung der Kämpfe der letzten Jahr-
zehnte zu einer Neuorientierung der sozialrevolutionären Gruppen in der BRD
auf die Gesellschaft zu führt, egal ob sie sich nun Autonome, Heinz Schenk oder
Plumpaquatsch nennen.
188 Berlin, im Februar 1992