Bücher, die Frankreich bewegen

Sehr offen, sehr klug und sehr aktuell

SW-Foto, das die Hände einer Frau zeigt, die in einem Cafe sitzt, und bei einer Tasse Kaffee ein Buch liest.
Das Verhältnis zum Islam und die Klassen- und Geschlechterfrage spielen eine große Rolle in Frankreichs Gegenwartsliteratur. © Unsplash / Priscilla Du Preez
Von Dirk Fuhrig · 19.11.2018
Der Anschlag auf das Bataclan und andere terroristische Attacken haben sich in das kollektiven Bewusstsein der Franzosen eingebrannt. Sie sind auch das Thema vieler aktueller Neuerscheinungen. Ein Blick auf Frankreichs Literatur des Herbstes.
Am 13. November jährten sich die Anschläge von Paris, bei denen im Musikclub Bataclan 130 Menschen getötet und fast 700 verletzt wurden und wo in den Cafés des 10. und 11. Arrondissements der Stadt islamistische Terroristen auf Gäste und Passanten schossen. Die Ereignisse, die viele Pariser noch monatelang mit sich herumtrugen, haben auch literarisch Niederschlag gefunden. Ebenso wie der Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Januar 2015. Aber auch das Verhältnis zum Islam sowie die Klassen- und Geschlechterfrage spielt nach wie vor eine große Rolle in der Gegenwartsliteratur unseres Nachbarlands.

Einer der wichtigsten Literaturpreise dieses Herbstes, der Prix Femina, ging in diesem Jahr an Philippe Lançon für seinen Roman über den Anschlag auf Charlie Hebdo. Lançon arbeitete damals für Charlie Hebdo, war zum Zeitpunkt des Anschlags auch in der Redaktion und überlebte den Anschlag schwer verletzt.
Ein Terroropfer liegt unter einem Laken auf dem Bürgersteig vor dem Bataclan.
Ein Terroropfer liegt unter einem Laken auf dem Bürgersteig vor dem Bataclan.© AP

Philippe Lançon: "Le lambeau"
(erscheint unter dem Titel "Der Fetzen" im März 2019 bei Klett-Cotta).

Das Buch berichtet von den psychischen und körperlichen Problemen, die er hatte, um wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Lançon musste sich dabei alles neu aufbauen und hatte zahllose Gesichtsoperationen. Der Erfolg des Buchs in den französischen Medien und der Preis für den Autor sind ein klarer Hinweis darauf, dass das Thema der Anschläge noch immer eine große Rolle im kollektiven Bewusstsein der Franzosen spielt.
In diesem Herbst sind zu diesem Thema jetzt auch auf Deutsch mehrere Romane erschienen, die sich mit der Stimmung nach diesem Angriff auf die Pariser Lebenskultur beschäftigen.

Frederika Amalia Finkelstein: "Überleben"
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich
Suhrkamp, Berlin 2018, 148 Seiten, 14 Euro

Frederika Amalia Finkelstein, geboren 1991, ist eine der jüngsten Stimmen in der französischen Literatur. 2014 veröffentlichte sie "L’oubli", einen Shoah-Roman. Sie hat nun mit "Überleben" das Psychogramm einer Pariserin vorgelegt, die versucht, nach den Anschlägen auf die Cafés ihre Paranoia zu überwinden. Ein schonungsloses und ihn in seiner Deutlichkeit erschütterndes Buch.

Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 3"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Kiepenheuer & Witsch, Berlin 2018, 410 Seiten, 22 Euro

Virginie Despentes schreibt den dritten und letzten Teil ihrer enorm erfolgreichen Subutex-Trilogie ebenfalls in die Post-Attentats-Atmosphäre hinein. Der Held Vernon Subutex ist ein Schallplattenverkäufer, der seinen Job verliert und nach und nach abrutscht bis auf das Clochard-Niveau. Aber er schafft die Umkehr und ist jetzt im dritten Teil zu einer Art Guru geworden. Drogen spielen immer noch eine Rolle.
In diesem Buch sind die Anschläge auf Charlie Hebdo und den Bataclan eher ein Hintergrundrauschen. Anders als bei Finkelstein lassen sich die Protagonisten nicht in die Angst hineinfallen, sondern versuchen, ihr auszuweichen. Statt ständig hektische jede neue Nachricht auf dem Telefon zu verschlingen, schalten sie die Nachrichtenkanäle eher weg. Sie sind aber auch eine Generation älter als die Protagonisten in dem Roman "Überleben", die Anfang bzw. Mitte 20 sind.

Der Umgang mit Migranten und dem Islam

Das zweite, derzeit sehr wichtige, gesellschaftliche Thema, das in Frankreich eine große Rolle spielt, ist der Umgang mit Migranten und mit dem Islam. Leïla Slimani ist hier besonders erwähnenswert. Bekannt ist sie für ihr Werk "Dann schlaf auch Du", für das sie 2016 den Prix Goncourt bekam. Interessant sind aktuell gleich zwei Werke von ihr: ein Essay-Band und eine Graphic Novel, die das Thema "Sex" auf eine populäre Ebene bringen. Slimani hat dazu mit zahlreichen Frauen in Marokko über ihre Sexualität gesprochen und zwar über die Verklemmtheiten und religiösen Tabus, den Jungfrauenkult etc.

Leïla Slimani:"Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischem Welt"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
btb, München 2018, 206 Seiten, 12 Euro

Leïla Slimani und Laetitia Coryn: "Hand aufs Herz"
Avant-Verlag, Berlin 2018, 107 Seiten, 25 Euro

Leïla Slimani kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Kamel Daoud, der algerische Journalist und Schriftsteller, der nach der Kölner Silvesternacht sagte, das Elend des arabischen Mannes bestehe in dessen krankhaftem Verhältnis zum Körper und zur Sexualität. Leïla Slimanis Bücher sind sehr offen, sehr klug und erschütternd. Zugleich aber auch ein wenig hoffnungsvoll, denn am Schluss zeigt sie, dass es in Teilen der Gesellschaft auch einen Wandel gibt, hin zu mehr Offenheit.

Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens"
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp, Berlin 2018, 163 Seiten, 20 Euro

Mit Annie Ernaux wurde eine Autorin sehr lange übersehen, die nun allerding für Beachtung sorgt. Sie ist die große alte Dame, die nun mit "Erinnerungen eines Mädchens" einen der Schlüsseltexte des autobiographischen Erzählens vorgelegt hat. Auch dieses Buch beschäftigt sich mit Scham und einer unterdrückten Sexualität. Es ist die Nachkriegszeit in Frankreich auf dem Land. Dort hat die Kirche die Moral noch fest im Griff.
Und es geht auch um das weibliche Begehren. Nämlich im Ferienlager, wo die 18jährige Protagonistin eine Affäre mit einem Kollegen beginnt - der sie aber gleich wieder fallen lässt. Sie fühlt sich ausgenutzt, ein Gefühl, das sie ihr gesamtes Leben begleitet und ihr Verhältnis zur Sexualität prägt.
Heute zählen Autoren wie Didier Éribon und Édouard Louis zu ihren Bewunderern - und Nacheiferern. "Im Herzen der Gewalt", die Vergewaltigung, die Louis darin erzählt, ist ja ganz ähnlich strukturiert; diese Mischung aus Verführung, aus Konsens und Gewalt.
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