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Ausland Türkei

Folgen einer Pressekonferenz

„Arrogant“, „Religionsfeind“, „PKK-Anwalt“: Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der „Welt“, wird aus dem Regierungslager attackiert, weil er beim Besuch der Kanzlerin kritisch nachfragte.

Für Journalisten gibt es kaum etwas Wichtigeres als Nachrichten – sie zu verbreiten und zu interpretieren gehört zu diesem Beruf. Aber manchmal werden Berichterstatter selbst zur Nachricht und das meistens gegen ihren Willen. In der Türkei geschieht das gerade dem „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel, und es ist die Regierung, die ihn zum Thema macht.

Eine Regierung wohlgemerkt, die von internationalen Organisationen wiederholt für ihre Beschränkungen der Pressefreiheit kritisiert wird. Bemerkenswerterweise ist es eine kritische Frage unseres Autors, die das Regierungslager für Angriffe und zum Teil persönliche Diffamierungen auf Titelseiten nutzt. Auch diese Angriffe gehören – leider – zu den Nachrichten, die wir mitteilen müssen.

Was ist geschehen? Bei ihrem Besuch in Ankara am Montag dieser Woche gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine Pressekonferenz. Es geht um die Themen, die den Besuch der deutschen Regierungschefin prägen – den Flüchtlingsstrom aus Syrien und die Vereinbarungen der EU mit der Türkei, ihn zu kanalisieren. Es geht auch um den innen- und außenpolitischen Kontext der türkischen Flüchtlingspolitik. Yücel stellt der Bundeskanzlerin seine Frage auf Deutsch.

Tausende auf der Flucht

Hunderte Menschen kamen bei den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Rebellen bereits ums Leben. Im Südosten der Türkei sind Tausende Zivilisten auf der Flucht.

Quelle: Die Welt

Er erinnert sie an ihre kritische Haltung während der Gezi-Proteste gegen die damalige und heutige islamische Regierungspartei AKP. Und er fragt, wie sie zu den Vorwürfen der türkischen Opposition steht, dass sie im Tausch für Ankaras Hilfe in der Flüchtlingspolitik heutige Missstände in der Türkei ignoriere.

Unter anderem sagt der „Welt“-Korrespondent: „Um bei nur einem Beispiel zu bleiben, nämlich der Pressefreiheit: Die Türkei ist im internationalen Ranking der Pressefreiheit auf Platz 159. Kollegen von uns, Can Dündar und Erdem Gül, werden angeklagt, und ihnen drohen lebenslange Haftstrafen.“

Er fügt hinzu: „Auch in den kurdischen Gebieten, in Städten wie Diyarbakır, Cizre, Silopi und anderswo, ist laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen die Situation nicht so, wie das der Herr Ministerpräsident gerade dargestellt hat; vielmehr gibt es auch dort Kritik, dass die Operationen der Sicherheitskräfte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vorgehen.“

Die Kanzlerin antwortet zurückhaltend: Man habe Hoffnungen in den einstweilen gescheiterten Versöhnungsprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gesetzt. Allerdings habe jedes Land das Recht, Terror zu bekämpfen. Ansonsten rede man über eine „breite Palette“ von Themen. Aber auch Regierungschef Davutoglu will auf die Frage antworten. Dass man „einem Ministerpräsidenten ins Gesicht blicken und ihn offen beschuldigen kann“, sei doch ein Beweis dafür, dass in der Türkei Pressefreiheit existiere, sagt der Premier.

„Die Türkei ist ein demokratischer Rechtsstaat nach europäischen Standards.“ Im Südosten des Landes bekämpfe man lediglich Terroristen. Er frage sich, wie die Türkei auf Platz 195 einer Liste der Pressefreiheit stehen könne, wo es auf der Welt doch nur 193 Länder gebe. Der Simultanübersetzer hat die Zahl falsch wiedergegeben. Diese verdrehte Äußerung ist aber nur einer unter vielen Punkten, die Yücel im Anschluss vorgeworfen werden.

Freundlicher Empfang im Präsidentenpalast: Recep Tayyip Erdogan empfängt Angela Merkel
Freundlicher Empfang im Präsidentenpalast: Recep Tayyip Erdogan empfängt Angela Merkel
Quelle: AFP

Regierungsfreundliche Zeitungen wie „Yeni Safak“, „Sabah“, „Star“ und „Yeni Akit“ schreiben in beinahe wortgleichen Berichten, Yücel habe in „provozierender Absicht“ gefragt und Davutoglu habe ihm daraufhin „Lektion um Lektion“ erteilt, ihn blamiert.

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Ein Online-Portal nennt ihn „Religionsfeind“. Solche Zuschreibungen sind in der Türkei mehr als nur rhetorische Angriffe. Sie können eine echte Bedrohung durch islamistische Kreise zur Folge haben.

Aber auch die Regierenden selbst greifen Yücel an. Am Tag nach der Pressekonferenz legt Premier Davutoglu von sich aus nach. Auf der Fraktionssitzung der AKP am Dienstag sagt der enge Weggefährte von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan: „Gestern wurden wir von einem Journalisten angesprochen, von dem wir später in Erfahrung gebracht haben, dass es sich um einen Türken handelte. Er war von einem Verständnis geprägt, Schuldzuweisungen an die Türkei zu betreiben. Gut, jeder kann fragen, was er will. Aber er bekommt auch die Antwort, die er verdient.“

Die AKP-nahen Medien treiben die Geschichte ebenfalls weiter. Mit noch schwereren Vorwürfen. Die Zeitung „Star“ zeigt Yücel mit Foto auf der Titelseite und nennt ihn einen „PKK-Anwalt“. Viele drucken ein Foto, das Yücel im Gespräch mit Cemil Bayik zeigt, dem Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, den der Korrespondent im vergangenen August für die „Welt“ interviewt hatte.

„Sabah Online“ schreibt: „Es wurde bekannt, dass der türkischstämmige deutsche Journalist, der mit seinen arroganten Fragen provozieren wollte, ein Terroristencamp besucht und den PKK-Rädelsführer Cemil Bayik interviewt hat. Wie auch bekannt wurde, überzog ihn Yücel in diesem Interview mit Lobreden.“

Oppositionelle Medien sehen die Dinge gänzlich anders. Zeitungen wie „Cumhuriyet“ oder „Taraf“, weisen darauf hin, dass Merkel ausgewichen und Davutoglu zu brüsk gewesen sei. Der einflussreiche „Hürriyet“-Kolumnist Ahmet Hakan kritisiert Davutoglus harte Replik, sagt aber auch, dass Yücels Frage viele Kommentierungen enthalten habe. Aber die regierungskritischen Medien melden im Folgenden die lücken- und fehlerhafte Simultanübersetzung des Regierungsdolmetschers. „Cumhuriyet“ spricht von einem „Skandal“. Für die Zeitung besonders hervorhebenswert: dass in der Übersetzung der Name ihres inhaftierten Chefredakteurs Can Dündar unterschlagen wurde.

Schikane der türkischen Behörden

Doch auch am Mittwoch geht die Kampagne der regierungsnahen Medien weiter. Auch „Star“ schreibt wieder über unseren Korrespondenten: „Der Agent Provocateur Deniz Yücel ist bekannt für seine antitürkischen Berichte in der Zeitung ‚Die Welt‘.“

Sicher ist, dass Yücel schon Erfahrungen mit staatlichen Gegenmaßnahmen für kritische Fragen gemacht hat. Im Juni 2015 fragte er bei einer improvisierten Pressekonferenz an der syrischen Grenze den Gouverneur der Provinz Urfa, woher dessen Angaben stammten, dass syrische Flüchtlinge vor kurdischen Kämpfern fliehen. Daraufhin ließ der Gouverneur Yücel mit zwei türkischen Kollegen auf das Polizeipräsidium abführen.

Nicht nur anhand des Skandals um die Merkel-Pressekonferenz kann man die Frage stellen, inwieweit die türkische Regierung kritische Berichterstattung in ausländischen Medien überhaupt akzeptiert. Den Beteuerungen Davutoglus zum Trotz ist Yücel einer von drei deutschen Journalisten, denen das türkische Innenministerium bisher keine Akkreditierung und keinen Presseausweis erteilt hat – obwohl sich die Kanzlerin für die Akkreditierung deutscher Journalisten eingesetzt hat. Der Korrespondentin der norwegischen Zeitung „Aftenposten“ wurde die Akkreditierung verweigert, sie ist mittlerweile ausgewiesen worden.

DW

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