Die Maus mit den tausend Gesichtern
Mickey Mouse wird 90. Wie kaum ein Kulturprodukt der Moderne ist die Figur Teil unseres Alltags geworden.
Im Jahr 1981 erhielt Andy Warhol Besuch von einem Disney-Filmteam. „Sie fragten mich, wer meine liebste Disney-Figur sei, und ich sagte: ‚Minnie Mouse, denn sie verschafft mir den Kontakt zu Mickey.‘“
Millionen von anderen Erdenbürgern, vermutlich sogar Milliarden, fühlen sich Mickey auch ohne eine solche Vermittlung schon sehr nah. Kein Filmstar und kaum ein einzelnes Kulturprodukt der Moderne ist im kollektiven Bewusstsein derart verankert. Wie konnte sich Mickey so lange Zeit diese Popularität bewahren und kontinuierlich jede nachwachsende Generation erfreuen?
Tatsächlich ist seine heutige Vitalität das Produkt beständiger Veränderung, wobei die gegenläufigen Tendenzen von Modernisierung und Rückbesinnung in erstaunlicher Weise ineinandergreifen. Wie keine andere Bilderfindung des 20. Jahrhunderts ist Mickey Mouse Teil des Alltags geworden. Seine Kulturgeschichte ist eine Chronik unzähliger künstlerischer Impulse, die seine Persona kontinuierlich fortschreiben. Wer über Mickeys Geschichte schreibt, reist quer durch die Zeiten und begegnet dabei wie im Animationsfilm „Thru the Mirror“ („Micky im Traumland“) vielen Mickeys hinter den Spiegeln. Bei aller Veränderung hat Mickey Mouse stets die eigene Geschichte reflektiert. Seit 1929 hat das Disney-Studio jeden seiner Geburtstage gefeiert.
Wie schnell und dramatisch sich Walt Disneys Qualitätsansprüche an die Mickey-Mouse-Filme steigerten, dokumentiert die Mitschrift einer Storykonferenz vom 27. Juni 1939. Walt sichtete an jenem Dienstagnachmittag mit seinen Mitarbeitern Riley Thomson und David Hand frühere Trickfilme für einen geplanten Kompilationsfilm mit dem Titel „Mickey’s Revival Party“. Welterfolge allesamt, doch die wenigsten Szenen erschienen Walt überhaupt noch vorzeigbar. „Wir konnten damals alles in die Filme packen, und die Leute mochten es“, entfuhr es ihm angesichts von „Mickey’s Choo Choo“ („Mickys lustige Zugfahrt“). „Seht euch die Zeichnung an! Und die Tusche darauf! (Minnie spielt Violine). Klingt das nicht schlimm? Das fällt einem gar nicht auf.“
Die 30er - Epoche der kunstvollen Mickey-Fanartikel
Aller Ruhm, den diese Filme nur wenige Jahre zuvor hatten ernten können, schien in dieser Situation vergessen. Dabei war etwa „Mickey’s Choo Choo“ gerade erst in einem der damals einflussreichsten Bücher zur Filmgeschichte – Paul Rothas „The Film Till Now“ – als „Meisterwerk“ herausgestellt worden. Der Filmkritiker Rotha gibt darin auch eine Vorstellung von der immensen künstlerischen Anerkennung, die Disneys Filme bereits 1930 unter seinen Kollegen genossen: „Für viele damalige Autoren waren Disneys Animationen die scharfsinnigsten und befriedigendsten Produktionen des modernen Films.“
Die Mickey-Begeisterung der frühen 1930er-Jahre ist eines der großen Phänomene der Mediengeschichte. Es ist auch die Epoche der kunstvollen Mickey-Fanartikel, die heute zu den begehrtesten Disney-Memorabilien zählen. Mit seinem ikonischen Design, das Fred Moore perfektionierte, erreichte Mickey eine schneidige Attraktivität, so dynamisch wie das Stromlinien-Art-déco. Manche Mickey-Fans, die in dieser Epoche sozialisiert wurden, bedauerten, dass ein als ideal empfundenes Design vom Studio je wieder verändert wurde. Der Künstler Maurice Sendak, der die Figur Max in seinem Bilderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ Mickey nachempfand, urteilte: „Dieser Golden-Age-Mickey verwandelte sich leider Gottes in weniger originelle Formen am Ende des ersten Jahrzehnts.“
Doch Walt Disney wäre nicht bekannt als konstanter Innovator seiner Arbeit, wenn er ausgerechnet mit seiner berühmtesten Schöpfung auf der Stelle getreten wäre; auch das Vollkommene war nicht Unveränderlich.
Dennoch scheint die lineare Entwicklungsgeschichte, als die Mickeys Biografie oft geschrieben wurde, den vielen, häufig parallelen Entwicklungen nicht gerecht zu werden. Eher schon gleicht sie den berühmten Zeichnungen, in denen Mickeys verschiedene Epochen einander den Zeichenstift reichen.
Schon Charlotte Clarks legendäre Mickey-Puppen von 1930 mussten zwangsläufig eine Besonderheit von Mickeys Ohren opfern, die ja nur auf der Leinwand von jeder Seite gleichermaßen rund erscheinen konnten. Für die staunenden Zeitgenossen waren sie die sichtbare Schnittstelle zwischen Zeichnung und Filmraum, an der sich das Wunder der Animation besonders deutlich zeigte. Der Schriftsteller John Updike formulierte später: „Diese Ohren gehören nicht zum dreidimensionalen Raum, sondern ins ideale Reich der Zeichen, der Symbolisierung, der Zeichentrickwandlungsfähigkeit und -unzerstörbarkeit.“
Als „Steamboat Willie“ („Ein Schiff streicht durch die Wellen“) am 18. November 1928 Premiere feierte, gab es schon seit drei Jahrzehnten Animationsfilme; Walt Disney selbst hatte sie seit 1921 hergestellt. Felix the Cat oder Disneys eigener Oswald waren erfolgreich, und doch gelang es Mickey, sich im Bewusstsein des Publikums eins mit dieser Attraktion zu machen. Die synchronen Töne, die direkt von den Figuren auf der Leinwand zu kommen schienen, und die den Filmfluss bestimmende Musikalität – diese Sensation mochte den Reiz des Neuen verlieren. Mickey selbst aber tat es nicht. In seinem Song „You’re the Top!“ nennt Irving Berlin 1934 Mickeys Namen in einer Reihe mit dem Kolosseum und der Mona Lisa.
Mickeys aus einfachen Kreisformen erschaffene Physiognomie galt in der Kunst- und Designwelt früh als ein selten erreichtes Ideal an Reduktion und Ausdruck. „Mickeys Kopf zeichne man als Kreis oder besser als Kugel, mit allen Details darauf platziert …“, formulierte Fred Moore seine Zeichenanleitung auf einem Model Sheet, was es freilich einfacher klingen ließ, als es war, wenn er hervorhob, dass „die Ohren als nicht exakte Kreise, die etwas in den Ball hineinreichen“, zu zeichnen seien.
Mickey selbst wurde zum Liebling der Modernisten. Im Jahr 1936 nannte ihn eine Pressemitteilung des New Yorker Museum of Modern Art gar „den beliebtesten Surrealisten der Welt“: „Wenn es nicht Mickey Mouse ist, der in der ‚Omnipotenz des Traums‘ herumtollt und ‚in der Abwesenheit jeder Kontrolle durch die Vernunft‘, dann tut und kann das niemand.“
Walt Disney distanzierte sich von solch verwegenen Interpretationen, wie seine viel zitierte Erläuterung gegenüber Aldous Huxley bezeugt: „Wir versuchen nur, einen guten Film zu machen. Und dann kommen die Professoren und sagen uns, was wir tun.“
Zu den wenigen frühen Interpreten, die das Phänomen Mickey ganz unabhängig von der mit ihm einhergehenden technischen Innovation einschätzten, gehörte der Philosoph Walter Benjamin, der 1931 notierte: „Also nicht ‚Mechanisierung‘! Nicht das ‚Formale‘, nicht ein ‚Mißverständnis‘ hier für den ungeheuren Erfolg dieser Filme die Basis, sondern daß das Publikum sein eigenes Leben in ihnen wiedererkennt.“
Nicht lustig, aber süß
Kritiker, die den Untergang des Stummfilms mit seiner eigenen Bildsprache noch nicht verwunden hatten, feierten Mickey als einen neuen Chaplin – und Walt gab ihnen recht: „Ich glaube, dass wir die Idee tatsächlich Charlie Chaplin verdankten“, bestätigte er 1931. „(…) wir dachten ein bisschen an eine Maus, die etwas von Chaplins Sehnsucht hätte … ein kleiner Kerl, der in allem so gut wie möglich sein wollte.“ In einem viele Jahrzehnte danach geführten Interview relativierte Disney dagegen Mickeys komisches Potenzial und rückte ihn in die Nähe eines anderen Komikers: „Ich verglich ihn mit Harold Lloyd. Mickey selbst war nicht lustig, er war süß. Also musste ihn die Situation komisch machen.“
Tatsächlich entwickelte sich Mickey in seinen späteren Filmen vom rebellischen Landjungen zunehmend zum eleganten Herrn Jedermann. Sein eigentliches Vorbild aber war ein anderer: „Die erstaunliche Maus war tatsächlich Walts Alter Ego. Sie spiegelte die persönlichen Charakterzüge, die Lebensauffassung und die Ideen ihres Chefs“, erinnerte sich Animator Frank Thomas. „Er verkörperte Walts Fantasien auf erstaunliche Art und Weise.“
John Hench, den Walt zu Mickeys offiziellem Porträtmaler ernannt hatte, bezeugte: „In gewisser Hinsicht war er die Personifizierung von Walt. Er hatte Walts Optimismus. Wir hätten Mickey nicht besser kennenlernen können, wenn er wirklich als kleiner Junge täglich durchs Studio gelaufen wäre.“
In den Archiven der Vereinten Nationen in Genf zeugt eine historische Mickey-Mouse-Fahne von der Wertschätzung, die der Völkerbund Mickey damals entgegenbrachte. Wie aus einer Presseerklärung von United Artists aus dem Jahr 1934 hervorgeht, votierten die Mitgliedsstaaten einstimmig dafür, Mickey als Mitglied aufzunehmen. In einer von wirtschaftlicher Depression und politischen Unruhen geprägten Epoche galt Mickey als friedlicher Kosmopolit, und Floyd Gottfredsons Comic-Abenteuer gaben ihm die Gelegenheit, diese Welt auch zu erkunden, sei es in Flugzeugen, Unterseebooten oder auf Kamelrücken. In der Nachkriegszeit nahm der italienische Zeichner Romano Scarpa Gottfredsons Stil auf, andere internationale Zeichner und Autoren folgten und traten in Dialog mit den Amerikanern Carl Fallberg oder Paul Murry.
In den 1980er-Jahren bereitete Mickeys Rückkehr auf die große Leinwand in „Mickey’s Christmas Carol“ („Mickys Weihnachtserzählung“, 1983) und „Who Framed Roger Rabbit“ („Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, 1988) den Weg für die heute als Disney-Renaissance bekannte neuerliche Blüte des Animationsfilms. Auch das damals wieder erwachte Geschichtsbewusstsein gegenüber dem Zeichentrickfilm ging an Mickey nicht vorüber. 1991 zierte sein Porträt die Videoveröffentlichung von „Fantasia“, die in einem limitierten Verkaufsfenster von 50 Tagen 14,2 Millionen Mal verkauft wurde – mehr als jede andere Videokassette zuvor. Das neue Medium Laserdisc machte in der Folge auch seine Schwarz-Weiß-Filme wieder zugänglich.
Für Andreas Deja, der ihn unter anderem im verwegenen Kurzfilm „Runaway Brain“ („Micky Monstermaus“) animierte, ist es unmöglich, Mickey losgelöst von seinen früheren Erscheinungen zu animieren: „Das Schwerste bei der Animation von Mickey ist, dass ihn die ganze Welt kennt und weiß, wie er sich benimmt. Man muss wirklich zurückgehen und die ganzen alten Zeichentrickfilme daraufhin studieren, worum es bei diesen Figuren wirklich ging. Es reicht nicht zu verstehen, wie er aussieht oder sich bewegt, sondern man muss begreifen, was in seiner Seele steckt. Das ist es, was ihn so unglaublich liebenswert macht.“
Die von Paul Rudish seit 2013 produzierten TV-Episoden reanimierten den anarchischen Humor der frühen Filme mit den modernen digitalen Techniken Toon Boom und Flash Animation.
Am 11. Juni 2013 verblüffte die US-amerikanische Regisseurin Lauren MacMullan das Publikum des International Animated Film Festival im französischen Annecy mit einem angeblichen Archivfund von 1928. Es war die Premiere von „Get a Horse!“, der später oscarnominierten Hommage an die Kunst der ersten Disney-Animatoren, die da überzeugend als ausgegrabener Schatz verkauft wurde. In seiner langen Karriere hat Mickey seine geliebte Minnie schon aus so mancher Gefangenschaft befreit, aber keine Barriere erschien je so unüberwindlich wie die Leinwand selbst. In diesem spektakulären Kurzfilm teilt sich die Leinwand in den zweidimensionalen Raum der frühen Zeichentrickfilme und der 3-D-Welt der Computeranimation. In einer seltenen Rundung der Geschichte erleben wir die Rückkehr jener Seite von Mickey Mouse, die bei seinen frühen Verehrern in der Avantgarde besonders hoch im Kurs stand: Einer jungenhaften Unbefangenheit, einem anarchischen Geist, der bereit ist, an den Grenzen der filmischen Realität zu rütteln.