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In Durchgeblättert werfen wir regelmäßig einen kritischen Blick auf Neuerscheinungen, Geheimtipps oder Klassiker aus der vielfältigen Welt der Graphic Novels. Diese Ausgabe enthält die Fortsetzung der Geschichte von American Gods, einen Jahrtausende alten Kampf voller Leidenschaft, sowie eine erfrischend neue Interpretation einer Erzählung von Edgar Allan Poe.

Was machen Geschichten für Erwachsene aus? Anspruchsvolle Themen? Den Einbezug von Nostalgie? Exzessive Gewalt und Sex? Eine definitive Antwort hierzu kann ich euch leider auch nicht geben. Allerdings stellen wir in dieser Ausgabe von Durchgeblättert drei Werke vor, die sich allesamt aus komplett unterschiedlichen Gründen an ein erwachsenes Publikum richten.

Der zweite Band von American Gods macht dies mit seiner sehr detailgetreuen Erzählweise deutlich, die zum Nachdenken und Verbleiben in der Welt einlädt. In eine ähnliche Richtung geht die Neuinterpretation der Geschichte Berenice von Edgar Allan Poe, die eine schockierende Interpretation menschlicher Abgründe aufzeigt. Und zuletzt stellen wir mit The Discipline eine grafische Novelle vor, die Sex und Erotik zu einem Leitmotiv ihrer Handlung macht.

Wir hoffen, ihr habt beim Lesen dieser Kritiken ebenso viel Spaß, wie uns das Lesen der rezensierten Werke bereitet hat. Über Fragen oder Diskussionen in den Kommentaren freuen wir uns ebenso wie über generelles Feedback zu unserem Format Durchgeblättert!

American Gods Bd. 2: Schatten Buch 2/2

Nach dem Auftakt im ersten Band von American Gods knüpft der zweite Teil von Schatten unmittelbar an die Handlung an. Der Leser begleitet immer noch den ehemaligen Häftling Shadow Moon, der nach einigen Schicksalsschlägen Arbeit beim mysteriösen Mr. Wednesday gefunden hat. Schon im Zuge der ersten gemeinsamen Erlebnisse war für Shadow ersichtlich, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Bekanntschaft handelt. Im Laufe des Roadtrips der beiden Männer begegnen sie immer wieder seltsamen Gestalten und Shadow sieht sich in einen Konflikt hineingezogen, der über seiner Gewichtsklasse liegen könnte.

Nach all diesem Spannungsaufbau im Vorgänger könnte man nun den Beginn der Eskalation in diesem Band erwarten. Tatsächlich lässt es P. Craig Russell in dieser Adaption von Neil Gaimans Roman immer noch gemächlich und bedacht angehen. Denn der Fokus liegt bei den 152 Seiten auf der Weiterentwicklung von Shadow als Hauptcharakter. Im Gegensatz zum Einstiegsband wird ihm und dem Leser gleich zu Beginn deutlich gemacht, mit welchen Akteuren er sich hier eingelassen hat –vorbei ist es mit den schemenhaften Andeutungen. Und so ist die Handlung geprägt von Shadows Suche nach seinem Platz in dem Gesamtgefüge und dem tieferen Sinn hinter allem.

Äußerst hilfreich für die Charakterentwicklung ist hierbei die Abwesenheit von Mr. Wednesday. Ist dieser im Vorgänger noch die treibende Kraft, übernimmt in diesem Band tatsächlich Shadow die Führungsrolle, besonders in Kombination mit den Charakteren Jacquel und Ibis. Die mysteriöse Atmosphäre schimmert in American Gods Bd. 2 deswegen nur ansatzweise durch, wenngleich die Prämisse und der Hintergrund diese nun deutlicher in den Vordergrund rücken könnten.

Ist dieser Band damit langweilig? Das kommt ganz auf die persönlichen Vorlieben an. Wer auf eine epische Eskalation gehofft hat, wird von dieser Fortsetzung enttäuscht sein. Wer allerdings seine Freude an einer ausführlichen Charakterstudie, sowie tiefgreifenden Interaktionen zwischen Protagonisten hat, der kommt hier auf seine Kosten. Und auch wenn das mythologische Flair nicht mehr so im Fokus liegt, wird es besonders durch einige Hintergrundgeschichten noch wohldosiert.

Zeichner Scott Hampton setzt auch im zweiten Band seinen sehr charakterorientierten Stil fort. Abermals sind Hintergründe und Farbpalette sehr minimalistisch gehalten, um den Akteuren nicht die Bühne zu stehlen. Eine Ausnahme bildet jedoch das in New York spielende Kapitel Ankunft in Amerika. Wie zur Visualisierung der Hektik der Millionenstadt finden sich hier auf einmal deutlich detailreiche, beinahe überladen wirkende, Panels mit teilweise sehr kräftigen Farben. Dabei gelingt Autor und Zeichner auch die Leistung, das Kapitel trotz Wechsel von Stil, Protagonist und Rahmenhandlung stimmig in die Gesamthandlung einzufügen.

American Gods Bd. 2 nimmt sich wie sein Vorgänger Zeit. Nach Etablierung der Prämisse im ersten Band wird nun intensiv der Protagonist betrachtet, während sich der Konflikt sehr langsam anzubahnen scheint. Ist man sich dieser Tatsache bewusst, steht dem Lesevergnügen dieser sehr detailreichen Adaption von Neil Gaimans Romanvorlage auch nichts im Wege!

Die harten Fakten

  • Verlag: Splitter Verlag
  • Autor(en): Neil Gaiman, P. Craig Russell
  • Zeichner(in): Scott Hampton
  • Seitenanzahl: 152
  • Preis: 19,80 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Splitter

 

The Discipline: Die Verführung

Sexualität in Bildgeschichten ist ein potenziell zweischneidiges Schwert. Während der geschickte Einsatz die Dynamik von Interaktionen hilfreich vermitteln kann, läuft eine gedankenlose Nutzung Gefahr als plump betrachtet zu werden. Ist es da nicht beinahe töricht Sex und Leidenschaft zum Leitmotiv einer Geschichte zu machen? Doch genau diesen Ansatz scheint The Discipline aus dem Hause Panini Comics zu verfolgen.

Tatsächlich erkennt man jedoch sehr schnell, dass der grafischen Novelle dieser Vereinfachung nicht gerecht wird. Denn obwohl Sex und Erotik eine gewichtige Rolle spielen, dienen sie nur als vermittelnde Elemente eines tiefergehenden Konfliktes. Oder anders gesagt: Hier erhält man Erotik nicht nur um der Erotik willen, sondern zur Etablierung eines erzählerischen Rahmens.

Doch beginnen wir am besten einfach bei der Prämisse. Melissa Peake ist mit ihrem Leben unzufrieden, besonders aufgrund ihrer unbefriedigenden Ehe und einer angespannten familiären Situation. So hat der verführerische Fremde leichtes Spiel, als er sie für seine Zwecke gewinnen will. Denn tatsächlich findet sich Melissa nach dieser verhängnisvollen Begegnung nicht einfach in einer Affäre wieder, sondern wird in einen uralten mystischen Krieg voll Sex, Leidenschaft und Geheimnisse gezogen …

In seiner simpelsten Form ist The Discipline eine Underdog-Story, die die Verwandlung von Melissa vom unglücklichen Mauerblümchen zur emotional befreiten Streiterin für eine edle (oder auch nicht?) Sache sieht. Weiterführend gesehen erzählt diese grafische Novelle aber eine Geschichte voller moralischer Abgründe aufgrund von Machtgier, animalischer Bedürfnisse und purem Überlebenswillen. Anschaulich gemacht wird dies durch den Jahrtausende alten Konflikt zwischen der ordnungsliebenden Disziplin und den monströsen Stalkern. Dabei versteht es The Discpline geschickt nicht einfach ein Schwarz-Weiß-Bild zu malen. Über den gesamten Band hinweg ist nie vollständig geklärt, wer in diesem Kampf tatsächlich die gute Seite ist. Diese Tatsache verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Reiz, da man den inneren Konflikt der Protagonistin (tue ich das Richtige?) auch als Leser nachvollziehen kann.

Die Zeichnungen sind, wie bei einer solchen Prämisse zu erwarten, sehr explizit gehalten. Zwar lebt The Discipline auch stark von Andeutungen und dem Spiel mit der menschlichen Vorstellungskraft – dennoch gibt es vielfache Sexszenen und stellenweise auch Darstellungen aus dem BDSM-Bereich. Abgesehen von offenkundig mythologisch inspirierten Akteuren hat das kreative Team des Bandes dabei sehr viel Wert auf authentisch wirkende Körper gelegt. Die Charaktere sind definitiv gut in Form, allerdings nicht so übertrieben sexualisiert wie beispielsweise in Superheldencomics mit Brüsten in Basketballgröße oder physisch unmöglichen Muskelbergen. Autor Milligan begründet dies im Vorwort mit dem Argument, den Sex als wichtigen Bestandteil der Geschichte nicht nur von einem von Pornografie beeinflussten männlichen Blickwinkel zeigen zu wollen.

Und tatsächlich muss man The Discipline zugutehalten, eine spannende und erfrischend anders gestaltete Geschichte zu erzählen. Diese leidet zwar stellenweise an einem zu schnell eskalierenden Handlungsbogen, durch den einige Wendungen und Ereignisse sehr überhastet wirken. Doch im Großteil liest sich die Story um diesen uralten Konflikt sehr spannend und hat mit Melissa auch eine Protagonistin mit Sympathiepotenzial. Wer sich von den starken sexuellen Einflüssen nicht abschrecken lässt, kann hier bedenkenlos zugreifen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Panini Comics
  • Autor(en): Peter Milligan
  • Zeichner(in): Leandro Fernández, Cris Peter
  • Seitenanzahl: 148
  • Preis: 17,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Panini

 

Berenice

1835 veröffentlichte Edgar Allan Poe mit Berenice eine Erzählung von einem Mann, dessen mentaler Zustand und dessen Obsession mit der titelgebenden Berenice zu einem verstörenden Ende führte. 183 Jahre später findet diese Geschichte ihren Weg in die Reihe Die Unheimlichen des Carlsen Verlages. In dieser werden klassische Schauergeschichten von deutschen Künstlern neu interpretiert und als grafische Novellen aufgearbeitet. Aktuell wurden bereits drei Erzählungen umgesetzt, wobei eines auf dem oben genannten Werk von Poe basiert. Und was böte sich besser für eine Ersteinschätzung an, als die Neugestaltung eines Geistesproduktes des Meisters von Wahn und düsterer Atmosphäre?

Die moderne Interpretation von Berenice aus der Feder von Lukas Jüliger folgt wie das Original einem Ich-Erzähler. Der Leser wird Zeuge seiner Obsession mit der Popikone Hatsune Miku, von der er in der Kindheit den ersten Kuss erhalten hatte. Im Laufe der Jahre wird diese beinahe fanatische Verehrung durch mehrere Schicksalsschläge verstärkt, die den Protagonisten zu einem Leben in Tristesse und Einsamkeit zwingen. Das größte Highlight für ihn sind die Webcam-Streams einer unbekannten Frau, die für viele in den Weiten des Internets einen besonderen Reiz zu bieten scheint. Der Umgang mit dieser neuen Obsession des Protagonisten liefert schließlich auch die Rahmenhandlung, die nach gerade einmal 58 Seiten ihr verstörendes Finale findet.

Die besondere Leistung von Berenice ist definitiv die Originalvorlage samt ihrer verstörenden Atmosphäre in die moderne Welt zu übertragen. Dabei macht die grafische Novelle Gebrauch von vielen scheinbar alltäglichen Elementen, die aber in einer abgeänderten Form eine doppeldeutige Aussage haben. Denn auch dieser Band arbeitet, ähnlich wie das zuvor besprochene Werk The Discipline, stark mit der menschlichen Vorstellungskraft und verschiedenen Andeutungen via Details. Die Gruselstimmung wird dadurch äußerst subtil erzeugt.

Geradezu in einem Kontrast dazu stehen die Zeichnungen. Diese sind sehr simpel gestaltet und könnten vom Stil her genauso gut in einem Kinderbuch zu finden sein. Lukas Jüliger setzt dabei auf eine Mischung der Zeichenstile westlicher Graphic Novel und japanischer Mangas, wobei letztgenannte besonders bei den Charakteren ihren Einfluss zeigen. Diese werden aber in der visuellen Gestaltung äußerst selten eingesetzt, da die zuvor erwähnten Andeutungen hauptsächlich anhand von Ausschnitten der Szenen erzeugt werden.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Bandes ist darüber hinaus die farbliche Gestaltung. Der gesamte Band ist in einem grün-grauen Ton gehalten, wodurch der Einsatz von Kontrasten eine große Bedeutung erhält. Warum grün-grau? Tatsächlich gibt es einen spezifischen Grund dafür, der sich in einer Anekdote des Autors am Ende des Bandes findet. Diese möchte ich jetzt interessierten Lesern nicht verderben, aber ich kann auf jeden Fall versichern, dass die persönliche Assoziation des Autors hier eine wichtige Rolle gespielt hat.

Somit ist Berenice zwar eine kurze, aber wirkungsvolle Lektüre. Die verstörende Atmosphäre wird bravourös in die Moderne adaptiert und weiß mit einem sehr individuellen Zeichenstil zu überzeugen. Der Zeichenstil steht in einem harten Kontrast zur vermittelten Geschichte, macht die Kernbotschaft dadurch aber noch eindringlicher. Wer ein Liebhaber von verstörenden Erzählungen ist, sollte hier bedenkenlos zugreifen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Carlsen
  • Autor(en): Edgar Allan Poe, Lukas Jüliger
  • Zeichner(in): Lukas Jüliger
  • Seitenanzahl: 64
  • Preis: 12,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Carlsen

 

Abschlussfazit des Monats

Erst nach Abschluss dieser Aufgabe ist mir aufgefallen, welcher Fokus in diesem Monat auf dem Themenbereich Horror und Grusel lag. Während im ersten Teil des Junis besonders Lovecraft und Dark Souls für eine düstere Atmosphäre sorgten, konnten in dieser Ausgabe Berenice und The Discipline hierzu beitragen. Doch mit Lanfeust von Troy und American Gods kamen auch die Vertreter klassischer Fantasy und mythologischer Adaptionen nicht zu kurz.

Die nächste Ausgabe von Durchgeblättert im Juli wird ebenfalls mythologische Wurzeln verfolgen und unter anderem den Kampf gegen Untote im hohen Norden behandeln. Bis dahin wünschen wir wie üblich: „Frohes Lesen!“.

 

Artikelbilder: © Splitter,  © Panini Comics, © Carlsen, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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